25. November 2006

Randbemerkung: Gemayel, Litwinenko - um die Ecke gebracht, um die Ecke gedacht. Aber wie oft?

Als vor wenigen Tagen im Libanon Pierre Gemayel ermordet wurde, fiel der Verdacht sofort auf Syrien. Aha, argumentierte daraufhin zum Beispiel ein Kolumnist des Guardian, Jonathan Cook, dann war es Syrien natürlich gerade nicht. Sondern es war jemand, der wollte, daß der Verdacht auf Syrien fallen würde. Israel, vermutet Cook.

Als jetzt der ehemalige KGB-Mann Alexander Litwinenko, der sich zum Gegner des russischen Regimes gemausert hatte, ermordet (offenbar auf eine ungewöhnliche heimtückische Art mit der radioaktiven Substanz Polonium-210 vergiftet) wurde, da fiel der Verdacht sofort auf den russischen Geheimdienst. Aha, argumentierten daraufhin zum Beispiel russische Kreise, laut FAZ, dann war es offensichtlich nicht Rußland. Sondern es war jemand, der den Verdacht auf Rußland lenken wollte. "In Rußland interpretieren kremltreue Politiker den Mord – wie schon im Fall Politkowskaja – denn als Versuch, dem Image Putins zu schaden: eine ins Gegenteil gewendete Verschwörungstheorie", schreibt die FAZ.

Das Argument ist in beiden Fällen identisch: Wenn der Verdacht so offensichtlich auf Syrien, auf Rußland fällt, können die es nicht gewesen sein. Also - jeder Denkende muß sich sagen, Syrien war es nicht im Fall Gemayel, Rußland war es nicht im Fall Litwinenko. Vielmehr wurden die Morde von Leuten begangen, die den Verdacht auf die Geheimdienste dieser Staaten lenken wollten.



Now, wait a moment. Ein Verbrechen ist auf eine solche Weise verübt worden, daß jeder Denkende sich sagt, das waren nicht die Syrer, das waren nicht die Russen. Ja, kann es denn ein perfekteres Verbrechen des syrischen, des russischen Geheimdienstes geben als eines, bei dem sich jeder Denkende sagt, daß sie unschuldig sind?

Woraus derjenige, der sich das Obige überlegt, der also eine Drehung weiterdenkt als der nur einfach Denkende, woraus dieser sozusagen Messerscharfdenkende natürlich schließen wird, daß es also Syrien gerade doch war, daß es Rußland gerade doch war.

Es sei denn, der Mossad, den Jonathan Cook der Tat verdächtigt, wäre so schlau gewesen, sich zu überlegen, daß die Messerscharfdenkenden genau diese Überlegung anstellen werden. Weswegen er, der Mossad, den Mord verüben konnte und den Verdacht der Messerscharfdenkenden auf Syrien richten. Und entsprechend die Oligarchen, die vom Kreml im Fall Litwinenko als Mörder verdächtigt werden.

Weswegen also wir Supermesserscharfdenkenden zu dem Schluß kommen, daß der Kreml und Syrien doch unschuldig sind.

Es sei denn, ...



Und so weiter, und so fort ad infinitum. In meiner Jugend habe ich einmal eine Geschichte über einen Schüler gelesen, der mit seinen Kameraden das folgende Spiel spielte (so ungefähr jedenfalls habe ich es in Erinnerung): Der andere legt eine Spielkarte verdeckt hin, entweder eine schwarze oder ein rote Farbe. Er sagt - so sieht es die Spielregel vor - dabei, welche der beiden Farben er gewählt hat. Dabei darf er lügen. Unser Schlaukopf soll nun erraten, welche Farbe wirklich da liegt - und trifft immer.

Er traf immer, in dieser Geschichte, weil er seine Mitschüler kannte und ihre Intelligenz richtig einzuschätzen wußte. Die ganz Dummen sagten "rot", wenn sie eine schwarze Karte hingelegt hatten. Die etwas Intelligenteren sagten gerade "schwarz", wenn sie eine schwarze Karte hingelegt hatten, unter der Vermutung, daß der Schlaukopf vermuten würde, daß sie lügen würden. Die noch etwas Klügeren bezogen just dies in ihre Überlegungen ein, sagten als wahrweitswidrig "rot". Nicht, weil sie einfach dachten, daß sie den Schlaukopf durch Lügen hereinlegen könnten. Sondern weil sie dachten, daß er dachte, daß sie dachten ... usw.



Unser Schlaukopf in der Geschichte gewann immer, weil er wußte, wieviele solche logischen Umdrehungen der jeweiligen Intelligenz seines Spielpartners entsprachen. Wenn wir versuchen, die Machenschaften von Geheimdiensten zu rekonstruieren, dann haben wir diese Information leider nicht.

Den Russen zu unterstellen, sie hätten Litwinenko nicht ermordet, weil ja der Verdacht sofort auf sie gefallen wäre, ist also ebenso albern, wie den Syrern zu unterstellen, sie hätten aus diesem Grund Gemayel nicht ermordet. So, wie freilich derartige Überlegungen es auch nicht wahrscheinlicher machen, daß sie es jeweils getan haben. Es ist schlicht nutzlos, überhaupt solche Überlegungen anzustellen.

Sinnvoll freilich ist es, zu analysieren, welchen Nutzen denn das jeweilige Land aus dem Mord zieht; ob er seinem Geheimdienst nun zugeschrieben wird oder nicht.

Im Fall Syrien kann man darüber streiten, ob der Gemayel-Mord ihm nützt oder vielmehr Israel; siehe zum Beispiel die Diskussion hier in "Zettels kleinem Zimmer".

Im Fall Rußland liegt aber das "Cui bono?" offen zutage. Die Botschaft, die der Mord vermittelt, ist ja einfach: Wer hinter Machenschaften wie denen herschnüffelt, die zum Tod der Journalistin Anna Politkowskaja geführt haben, der muß damit rechnen, barbarisch ermordet zu werden.

Ob nun der Verdacht auf den russischen Geheimdienst fällt oder nicht: Vestigia terrent.