25. Oktober 2006

Randbemerkung: Ein Schädel und ein Skandal

Als ich heute Mittag erstmals Spiegel-Online aufgesucht habe, sprang mir diese Meldung ins Auge:

25. Oktober 2006

TOTENSCHÄNDUNG
Entsetzen über Skandal- Fotos deutscher Soldaten


Mit Empörung und Abscheu reagieren Politiker und Bundeswehr- Führung auf die skandalösen Fotos, die deutsche Soldaten in Afghanistan bei der Schändung eines Toten zeigen. Die Bundeswehr hat bereits zwei Verdächtige ermittelt, sie werden momentan vernommen.


Deutsche Soldaten bei der Schändung eines Toten! Ich stellte mir vor, daß sie vielleicht einen getöteten Taliban verstümmelt oder sonstwie sich an einer Leiche vergriffen hatten, und war entsetzt.

Dann kamen die Zwei-Uhr-Nachrichten der Tagesschau. Dort wurde ein Journalist interviewt, der damals in der betreffenden Gegend von Afghanistan gewesen war und der folgendes berichtete: Es habe dort ein Massengrab aus der Zeit des Kriegs gegen die Sowjets gegeben, also aus den achtziger Jahren. Die Gebeine seien zutage getreten, als dort Ausschachtungsarbeiten durchgeführt worden seien, und man habe sie herumliegen lassen, statt sie erneut zu beerdigen.

Einen dieser herumliegenden Schädel hatten also offenbar die Bundeswehrsoldaten genommen und sich damit fotografieren lassen. Ein makabrer Scherz, geschmacklos. Aber "Schändung eines Toten"?

Is es die "Schändung eines Toten", wenn sich Hamlet den Schädel Yorricks greift und über denjenigen monologisiert, dem er gehörte? Auch das ist makaber, wenn auch nicht geschmacklos. Aber Leichenschändung - auf diesen Gedanken ist wohl noch niemand verfallen.

Die an dem Vorfall beteiligten Soldaten haben sich einen Rüffel verdient. Das zu einem Skandal aufzuplustern, ist lächerlich.



Lächerlich ist es, wirkungslos vermutlich nicht.

Heute fand in Berlin ein Festakt statt, an dem auch der Nato-Generalsekretär teilnahm. Heute wurde das neue Weißbuch 2006 zur Sichrheitspolitik vorgestellt. Heute sollte der Verteidigungsausschuß des Bundestags sich mit den Folter-Vorwürfe gegen deutsche Soldaten in Afghanistan beschäftigen.

Das Timing der "Enthüllung" eines Jahre zurückliegenden Vorfalls mag Zufall sein oder auch nicht - sicher ist, daß die Sprache der Bilder ihre Wirkung tun wird. Siehe Abu Ghuraib.



Ein "Bundeswehr-Skandal" (so der Titel des ARD-Brennpunkts heute Abend) ist nicht diese makabre Entgleisung einiger Soldaten, die Jahre zurückliegt. Ein Skandal ist es allerdings, wie das hochgespielt wird. Der Skandal selbst ist das Skandalöse.



Hoffen kann man nur, daß der Schädel sich als der eines gefallenen sowjetischen Soldaten herausstellen wird.