19. Oktober 2006

Gedanken zu Frankreich (2): Ein Skandalgesetz, ein Gesetzesskandal

Am 12. Oktober hat die Französische Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, das allerdings noch der Zustimmung des Senats und der Unterschrift von Präsident Chirac bedarf; beide sind fraglich. Der Wortlaut dieses Gesetzes ist knapp: "Seront punis comme indiqué à l'article 24 bis de la loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse ceux qui auront contesté l'existence du génocide arménien de 1915". Zu deutsch: "Wer die Existenz des Völkermords an den Armeniern von 1915 leugnet, wird gemäß Artikel 24.2 des Gesetzes über die Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 bestraft."

Dieses Gesetz kennt jeder Franzose; denn unzählige überall an Gebäuden aufgepinselte Plakatierverbote verweisen darauf: "Défense d'afficher. Loi du 29 juillet 1881". Wer offenen Auges durch eine französische Stadt geht, der kann es kaum vermeiden, auf dieses Gesetz aufmerksam zu werden.

Es regelte in der Tat die Pressefreiheit - oder sagen wir, es reguliert sie. Auf sehr französische Weise, mit vielen, vielen Vorschriften. Jede periodische Publikation, so bestimmt es beispielsweise der Artikel 7, muß den Behörden mitgeteilt werden, einschließlich des Namens der Druckerei; und dies muß per Einschreiben geschehen und vom Herausgeber unterschrieben. Von jeder publizierten Nummer müssen dem zuständigen Gericht oder dem zuständigen Bürgermeisteramt zwei vom Herausgeber unterzeichnete Exemplare zugesandt werden, dazu zehn ebenfalls signierte Exemplare dem Informationsministerium in Paris.

Nun gut, das ist Bürokratie. Aber das Gesetz steckt auch voller Einschränkungen der Pressefreiheit (die überwiegend später hinzugefügt wurden). Wer Gerichte, die Landarmee, die Luftwaffe oder die Marine oder die die Allgemeine Verwaltung diffamiert, wird mit Geldstrafe belegt, so bestimmt es der Artikel 30. Artikel 31 erweitert das auf die Bediensteten von Ministerien, die Mitglieder der Parlamente, alle vom Staat bezahlten Geistlichen usw. Geschützt werden (Artikel 35.3) beispielsweise auch Beschuldigte, die nicht in Handschellen im Bild gezeigt werden dürfen.

Verboten ist die Beschreibung eines Verbrechens, wenn dadurch die Würde des Opfers verletzt wird (Artikel 35.4); die Beleidigung eines fremden Staatsoberhaupts, Regierungschefs oder Außenministers (Artikel 36), und so weiter und so fort. Ein Gruselkabinett von Einschränkungen der Pressefreiheit, das lustigerweise unter der Überschrift "Gesetz über die Freiheit der Presse" zu besichtigen ist. (Ich empfehle jedem, der Französisch liest, die Lektüre dieses Gesetzes).


Das jetzt verabschiedete Gesetz nun also nimmt Bezug auf den Artikel 24.2 dieses Gesetzes vom 29. Juli 1881, in seiner durch die Loi Fabius-Gayssot aktualisierten Version. Diese besagt:
Seront punis des peines prévues par le sixième alinéa de l'article 24 ceux qui auront contesté, par un des moyens énoncés à l'article 23, l'existence d'un ou plusieurs crimes contre l'humanité tels qu'ils sont définis par l'article 6 du statut du tribunal militaire international annexé à l'accord de Londres du 8 août 1945 et qui ont été commis soit par les membres d'une organisation déclarée criminelle en application de l'article 9 dudit statut, soit par une personne reconnue coupable de tels crimes par une juridiction française ou internationale. Zu deutsch: "Wer auf eine der in Artikel 23 genannten Weisen die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, wie sie durch den Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals als Anhang zur Londoner Vereinbarung vom 8. August 1945 definiert sind, und sofern sie gemäß Artikel 6 des genannten Status von den Mitgliedern einer als als verbrecherisch erklärten Organisation oder von einer Person begangen wurden, die durch französische oder internationale Gerichtsentscheidungen eines solchen Verbrechens für schuldig erkannt wurden, der wird mit der in Artikel 24, Absatz 6 festgelegten Strafen bestraft."
Bestimmt wird also, daß niemand das leugnen darf, was das Nürnberger Tribunal festgestellt hat. Dieses Verbot nun wird durch das jetzige Gesetz auf den Völkermord ausgeweitet, der 1915 an Armeniern begangen wurde.

Ich beschreibe jetzt zuerst die Vorgeschichte dieses Gesetzes; dann die Umstände seiner Verabschiedung und seine Kommentierung, die skandalös sind.


Vorgeschichte: Es gibt in Frankreich eine Tradition dessen, was légifération heißt. Man kann das mit Gesetzgebungswut oder auch Verrechtlichung übersetzen. In der jakobinischen Tradition, in der Tradition des Code Napoléon, im Grunde in der Tradtion der römischen Rechtsversessenheit, neigt man in Frankreich dazu, alles von Staats wegen zu regeln, was sich nur von Staats wegen regeln läßt. Das Vertrauen in die Fähigkeit der Bürger, ihre Angelegenheiten selbst zu handhaben, ist in Frankreich so gering wie in kaum einem Staat der freien Welt.

In dieser Tradition hat sich die französische Nationalversammlung immer angemaßt, per Gesetz festzulegen, wie die Franzosen die Geschichte zu sehen haben. Ein Beispiel ist die LOI n° 2005-158 du 23 février 2005 portant reconnaissance de la Nation et contribution nationale en faveur des Français rapatriés, das "Gesetz zur Anerkennung der Nation und nationaler Beitrag zugunsten der repatriierten Franzosen". In Artikel 4 dieses Gesetzes heißt es: Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l'histoire et aux sacrifices des combattants de l'armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit. Zu deutsch: "Die Lehrpläne der Schulen berücksichtigen insbesondere die positive Rolle, die Frankreichs überseeische Anwesenheit, insbesondere in Nordafrika, gespielt hat, und sie widmen der Geschichte und den Opfern der Soldaten der französischen Armee, die aus diesen Territorien stammen, den herausragenden Platz, auf den sie ein Anrecht haben."

Also, die Verdienste der Harkis sollen in den Schulen gewürdigt werden. Und das beschließt in Frankreich die Nationalversammlung! Politiker legen fest, was die historische Wahrheit ist.


Und so hat die französische Nationalversammlung aiuch per Mehrheitsbeschluß festgelegt, was 1915 den Armeniern angetan wurde. Das tat sie nicht jetzt, sondern bereits mit dem Gesetz vom 29. Januar 2001, das lakonisch feststellt: Article unique. La France reconnaît publiquement le génocide arménien de 1915. "Einziger Artikel. Frankreich anerkennt öffentlich den Genozid an den Armeniern 1915."

Bizarr, nicht wahr? "Frankreich" beschließt, daß sich ein bestimmtes geschichtliches Ereignis abgespielt hat. Und hierauf bezieht sich jetzt das aktuelle Gesetz.



Dessen Befürworter verweisen völlig zu Recht darauf, daß sie nur das strafbewehren wollen, was ohnehin schon 2001 gesetzlich festgestellt worden war. Und nun kommt der Gesetzesskandal: Kaum jemand in Frankreich widerspricht. Widerspricht jedenfalls im Namen der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Forschung. Sondern man drückt sich. Michel Debré, der Präsident, der Nationalversammlung, der bei allen wichtigen Gesetzen präsidiert, ist absent. Ebenso sind es die meisten Abgeordneten. Debré läßt sicht durch die Vizepräsidentin Hélène Mignon vertreten, eine Sozialistin. (Das Gesetz wurde von den Sozialisten eingebracht). Die Regierungspartei UMP ist schlicht abwesend.

Am Ende wurde das Gesetz mit 106 gegen 19 Stimmen verabschiedet. Die Nationalversammlung hat 577 Abgeordnete.

Gab es einen Aufschrei der Empörung? Haben die Franzosen sich dagegen gewehrt, daß ihnen die Nationalversammlung vorschreibt, wie sie die Geschichte zu sehen haben?

Nicht im Geringsten. Ja, es gab Kritik an dem Gesetz. Und die macht den eigentlichen Skandal aus, den Gesetzesskandal. Zwar haben einige, zum Beispiel Jean-Marcel Bouguereau im Nouvel Observateur milde getadelt, daß "La France légifère", daß Frankreich alles durch Gesetze regeln will. Aber ein confrére von Bouguereau, ein Leitender Redakteur des "Nouvel Observateur", hat in einer Diskussion in LCP (einem TV-Sender ähnlich dem deutschen Phoenix) gesagt, man müsse nun einmal das unterdrücken (réprimer), was dem Gleichgewicht (équilibre) der französischen Gesellschaft schade. So denkt die französische Linke.

Auch Staatspräsident Chirac hat sich gegen das Gesetz gewandt. Und zwar, indem er mit Erdogan telefoniert hat, um ihm zu sagen - laut Erdogan -, er sei vraiment désolé, wirklich entsetzt also, über dieses Gesetz. Chiracs Büro bestätigt nur, er habe bei diesem Telefonat das Gesetz inutile genannt, nutzlos.

Nutzlos. Etwas viel Gesetzgeberei, zu viel légiferation. Das ist die Kritik in Frankreich. Daß es inakzeptabel ist, grundsätzlich, unbedingt, Menschen ihre Meinung zu verbieten - das spielt in dieser französischen Diskussion, im Land der Liberté, kaum eine Rolle.


So auch die EU. Sie hat das Gesetz bedauert - im Hinblick auf die Reaktion der Türkei. Nicht wegen der Verletzung elementarer Freiheitsrechte.

Und die französische Regierungspartei UMP hat das Ganze - in einem Akt unfreiwilliger Satire - auf die Spitze getrieben: Es gab einen Änderungsantrag der von der UMP unterstützt, aber nicht angenommen wurde. Danach soll gelten: Ces dispositions ne s'appliquent pas aux recherches scolaires, universitaires ou scientifiques. Die Vorschriften des Gesetzes sollen nicht für schulische, universitäre, wissenschaftliche Untersuchungen gelten.

Mit anderen Worten: Den Bürgern verbietet der Staat den Mund. Aber den Wissenschaftlern gewährt er immerhin Freiheit.