31. Oktober 2008

Zettels Meckerecke: Skandal! Scharia in Bayern!

"Die Islamkritikerin und freie Autorin Necla Kelek hat die Einführung von Teilen der Scharia in Bayern scharf verurteilt. 'Ich sehe nicht, wo die Scharia mit dem Grundgesetz kompatibel sein soll', sagte die Sozialwissenschaftlerin der WAZ." So ist es seit gestern im Online- Portal der WAZ- Mediengruppe zu lesen.

Nanu, ist mir da etwas Ungeheuerliches entgangen? Teile der Scharia sind in Bayern eingeführt worden? Ist dieser Seehofer am Ende in Berlin heimlich zum Islam übergetreten und versucht ihn jetzt, noch klammheimlicher, in Bayern einzuführen?

Beunruhigend. Und noch beunruhigender, liest man dazu auch noch auf der WebSite von Radio Vatikan unter der Überschrift: "D: Bayern will Teile der Scharia erlauben" diese Schreckensmeldung:
Der künftige bayerische Integrationsbeauftragte Georg Barfuß (FDP) will offenbar Teile der Scharia erlauben. "Wo sich die Scharia mit dem Grundgesetz als kompatibel herausstellt, soll sie in Bayern erlaubt sein", zitierte die "Süddeutsche Zeitung" (Donnerstag) den Politiker. Im Einzelfall solle der Verfassungsschutz entscheiden, welche islamischen Gesetze zulässig seien. Diese sehen unter anderem die Todesstrafe, das Abhacken der rechten Hand oder die Steinigung vor.
Und was hat Barfuß nun wirklich gemeint, als er gegenüber der SZ (gestern Abend im Internet, heute in der gedruckten Ausgabe) davon sprach, daß "Teile der Scharia" in Bayern "erlaubt" sein sollten?

Natürlich keine "Einführung" der Scharia, auch nicht von Teilen davon. Gesetze einführen heißt, sie von Staats wegen zu erlassen, zumindest zu sanktionieren. "Interpretationen, wonach ich die ,Einführung der Scharia in Bayern' gefordert hätte, entsprechen nicht der Realität" mußte Barfuß dementieren.

Und damit auch der Beschränkteste versteht, was er meinte, hat er es jetzt - immer noch laut der verlinkten Meldung der SZ, die sozusagen die Geschichte des Falls zusammenfaßt - noch einmal deutlich gesagt: "Barfuß sprach davon, dass das für die Muslime vorgeschriebene fünfmalige Beten am Tag, die Wallfahrt nach Mekka oder auch das Fasten im Ramadan anerkannt werden sollten".



Was also soll die Aufregung, die, bevor sie Necla Keklek und Radio Vatikan erreichte, bei der CSU ihren Ausgang genommen hatte? Haben wir es einmal mehr damit zu tun, daß durch ein Schlagwort, das wie ein Schlüsselreiz wirkt, Empörtheit ausgelöst wird wie das Niesen durch ein Kitzeln in der Nase?

Vielleicht. Aber vielleicht hat die Sache doch eher einen politischen Hintergrund.

Die CSU muß jetzt mit der in Bayern besonders bürgerrechts- liberalen FDP koalieren. Das Amt des Integrations- Beauftragten hat die FDP in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt; vermutlich nicht eben zur Begeisterung der CSU. Und da bietet der für dieses Amt vorgesehene Georg Barfuß gleich eine Angriffsfläche, kaum daß die Regierung gebildet ist.

Da heißt es natürlich zugreifen, was man der CSU nicht verübeln kann.

Flugs erklärte der stellvertretende Chef der CSU-Fraktion Karl Freller laut SZ, mit seiner "vollkommen inakzeptablen" Forderung hätte sich Barfuß für die Aufgabe des Integrations- Beauftragten disqualifiziert.

Und der neue Innenminister Herrmann (CSU) verkündete die Erkenntnis, daß es "im Koalitionsvertrag mit der FDP nicht vereinbart" sei, die christlich- abendländisch geprägte Rechts- und Werteordnung preiszugeben.

Na, was für ein Glück!



Für Kommentare bitte hier klicken.

Zitat des Tages: "Doppelte Standards" gegenüber Rußland und den USA. Eckart von Klaeden über eine (nicht nur) deutsche Seltsamkeit

Es ist offensichtlich, dass Russland von Teilen der deutschen Eliten in Politik und der Wirtschaft mit doppelten Standards gemessen wird.

Niemand beschwert sich, dass hochrangige Politiker wenige Tage nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf Kern- Georgien an einer rauschenden Ballnacht in der russischen Botschaft teilnehmen. Hätte es sich um die USA oder ein anderes westliches Land gehandelt, wäre die Reaktion eine ganz andere gewesen. (...)

... ich finde das Argument nicht sehr überzeugend, dass Missstände in Russland oder China nicht angeprangert werden müssen, weil sich diese selbst nicht als westliche Demokratien bezeichnen.


Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Eckart von Klaeden, im Interview mit Matthias Kolb von der "Süddeutschen Zeitung".

Kommentar: Wer wie von Klaeden auf diesen doppelten Standard hinweist, dem werden meist zwei Argumente entgegengehalten:
  • Erstens, so wird argumentiert, müsse man die USA an ihren eigenen Normen der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit messen; Diktaturen würden sich hingegen nicht auf diese Normen berufen.

  • Zweitens könne man auf die Verhältnisse in einem Land wie den USA durch Proteste, kritische Presseartikel und dergleichen Einfluß nehmen, auf diejenigen in Diktaturen aber nicht.
  • Ich halte beide Argumente nicht nur für falsch, sondern ich bezweifle auch, daß alle diejenigen, die sie äußern, sie ehrlich meinen. Denn ihr eigenes Verhalten dementiert sie:
  • Vertritt jemand die Maxime, Länder an ihren eigenen Standards zu messen, dann dürfte er konsequenterweise weder die Todesstrafe in den USA kritisieren, noch die dortige Freiheit des Zugangs zu Feuerwaffen. Beides sind aber Lieblingsthemen der USA- Kritiker.

    Weiterhin hätte es dann keine Grundlage dafür gegeben, beispielsweise den Rassismus in Südafrika zur Zeit der Apartheid zu kritisieren. Auch er entsprach ausdrücklich den dort geltenden Standards.

  • Was die Wirkung von Protesten angeht, so ist es schlicht nicht wahr, daß diese auf Diktaturen keinen Einfluß hätten. Die Abschaffung der Apartheid ist wesentlich aufgrund von Protesten und Boykotten erfolgt.

    Auch daran, daß Länder wie Spanien und Chile zur Demokratie zurückgekehrt sind, hatten die anhaltenden internationalen Proteste einen wesentlichen Anteil. Diktaturen reagieren in der Regel außerordentlich empfindlich auf den Image- Schaden, der mit einer anhaltend negativen Presse einhergeht.
  • Was immer diejenigen motiviert, die jeden Span im amerikanischen Auge mit dem Mikroskop untersuchen möchten, während sie für den Balken in östlichen Augen eine Agnosie zu haben scheinen - auf diese beiden Argumente können sie sich jedenfalls nicht berufen.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    30. Oktober 2008

    Zitat des Tages: Ilse Aigner hat Horst Seehofer überzeugt. Horst Seehofer? Ja, Horst Seehofer!

    Auf der Berliner Bühne ist sie bislang wenig aufgefallen. Doch die Eigenschaften "selbstbewusst, jung, Frau" haben den neuen CSU-Chef Seehofer offenbar überzeugt: Die Bundestagsabgeordnete Ilse Aigner aus Oberbayern übernimmt den Chefsessel im Agrarministerium.

    Aus einer Meldung der Tagesschau von heute 12.37 Uhr.

    Kommentar: Den neuen CSU-Chef Seehofer hat Frau Aigner laut der Meldung überzeugt.

    Der CSU-Innenminister Höcherl wurde mit dem Wort unsterblich, Verfassungsschützer könnten "nicht ständig das Grundgesetz unterm Arm herumtragen". Offenbar hat er damit in der CSU (und nicht nur dort) eine Tradition des Nicht- unter- dem- Arm- Herumtragens des Grundgesetzes begründet.

    Dessen Artikel 64, Absatz 1 lautet:
    Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen.
    Des Bundeskanzlers. Nicht des Vorsitzenden der CSU und Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern.

    Adenauer hat es als sein selbstverständliches Recht angesehen, über die Portefeuilles für die Ressorts - so nannte man das damals - zu entscheiden; gewiß nach Konsultationen mit den Koalitionsparteien. Auch bei späteren Kanzlern war das noch so. Allmählich aber ist dieses Recht des Kanzlers ausgehöhlt worden.

    Heute wird gar nicht mehr darüber diskutiert, daß die Parteien "ihre" Minister selbstherrlich bestimmen und sie ins Kabinett "entsenden" dürfen. Eine der vielen Anmaßungen der Parteien, die sich in der Geschichte der Bundesrepublik entwickelt haben.

    Eigentlich "etwas außerhalb der Legalität", um das andere geflügelte Wort zu verwenden, das die deutsche Sprache Hermann Höcherl verdankt.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    Kurioses, kurz kommentiert: Einstechen auf Nicolas Sarkozy und ein aufgehängter Barack Obama. So empörend kann Halloween sein!

    Nicolas Sarkozy, débouté mercredi 29 octobre, de sa demande d'interdiction de la poupée vaudou à son effigie, commercialisée par la société Tear Prod, a fait appel de cette décision de référé, a-t-on appris auprès de son avocat et de la cour d'appel de Paris.

    (Nicolas Sarkozy, dessen Antrag am Mittwoch, dem 29. Oktober, abgewiesen wurde, eine ihn verkörpernde Vodoo- Puppe zu verbieten, die von dem Unternehmen Tear Prod vertrieben wird, hat gegen diese Gerichts- Entscheidung im Eilverfahren Widerspruch eingelegt. Dies verlautete von seinem Rechtsanwalt und dem Pariser Appellationsgericht.)

    Aktuell zu lesen auf der WebSite des Nouvel Observateur.

    Kommentar: Morgen, am 31. Oktober, ist zwar auch das Reformationsfest (aber wen interessiert das noch?), vor allem aber ist Halloween.

    Ein "Fest", das es in Deutschland erst seit zehn, zwanzig Jahren gibt. Nun, warum nicht. Vielleicht tun sich ja die verbliebenen Protestanten und die Neuen Heiden zusammen und betreiben es gemeinsam, daß der 31. Oktober gesetzlicher Feiertag wird. Zusammen mit Allerheiligen, das freilich nur im Katholischen gesetzlich verankert ist, würde das doch schöne Brückentage geben; jedenfalls in diesem Jahr.

    Pünktlich zu Halloween nun also hat sich der französische Staatspräsident mit Hilfe einer Vodoo- Puppe lächerlich gemacht. Die Puppe, die er gern verboten sähe, wurde freilich nicht einfach so vertrieben, sondern zusammen mit nicht weniger als zwölf Nadeln, schön verpackt in einer Schatulle, zusammen mit einer Gebrauchsanweisung samt Hintergrund- Material von 56 Seiten.

    Man kann sich vorstellen, was Sarkozy alles passieren kann, wenn dieses hübsche Set unter die Leute kommt und wenn sie die Gebrauchsanweisung befolgen, die "invite le lecteur à planter des aiguilles sur la poupée à son effigie pour 'conjurer le mauvais œil'; die den Leser auffordert, Nadeln in die Puppe zu stechen, um "den bösen Blick zu bannen".

    Wer weiß, was den Franzosen von ihrem Staatspräsidenten überhaupt noch bleibt, wenn erst einmal sein böser Blick gebannt ist.



    Halloween also in Europa. Halloween natürlich erst recht in den USA. AP meldete in der vergangenen Nacht, daß auf dem Campus der University of Kentucky eine Puppe gefunden wurde, die Barack Obama darstellen sollte. Sie trug eine Halloween- Maske, die Obama nachempfunden war. Anders als der Sarkozy- Puppe waren ihr keine Nadeln beigefügt, sondern sie hatte einen Strick um den Hals, und sie war auch bedeutend größer, nämlich lebensgroß.

    Zuvor war schon, so heißt es in der Meldung, in West Hollywood (Californien) eine Puppe gefunden worden, die Sarah Palin darstellen sollte; auch sie mit einem Strick um den Hals. Daneben John McCain, er allerdings dabei, auf einer Art Scheiterhaufen verbrannt zu werden.

    Kindereien das eine wie das andere. Ein Staatspräsident macht sich lächerlich, indem er, sozusagen prall gefüllt mit der Würde seines Amtes, Anzeige erstattet. Und Barack Obama? Er verhält sich bisher souverän und schweigt. Auch sein Team hat bisher keine Stellungnahme abgegeben.

    Umso lauter ist die Betroffenheits- Rhetorik auf dem Campus und in Lexington, wo die Universität von Kentucky liegt. Der Lexington Herald berichtet im Detail, wer alles seiner Empörung Ausdruck verliehen hat. Der Gouverneur von Kentucky und der Bürgermeister von Lexington haben sich bereits bei Obama entschuldigt; ganz so, als steckten sie hinter dem makabren Scherz.

    Der stellvertretene Sicherheitschef von Lexington, Anthony Beatty, erklärte, die Polizei ermittle und untersuche, ob die ruchlose Tat vielleicht von Überwachungs- Kameras erfaßt worden sei. Es gebe noch keine Verdächtigen.

    Und es sei auch noch unklar, welchen Gesetzesbruchs man eigentlich die Täter beschuldigen werde, wenn sie gefaßt seien ("It's difficult to say what type of charges the culprits may face until police can interview whoever did it").

    Die für den Schutz der Kandidaten Obama und McCain zuständige Bundesbehörde ist eingeschaltet und ermittelt ebenfalls.



    "Tiefer hängen", soll der Alte Fritz gesagt haben, als er an einer Schmähschrift gegen ihn vorbeiritt, die man an einer Wand aufgehängt hatte. Tiefer, damit alle sie lesen können.

    Das war freilich noch zur Zeit des Feudalismus.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    29. Oktober 2008

    Zettels Meckerecke: Ich will nacktgescannt werden! Über Wörter und Bilder, das Schamgefühl und die Menschenwürde

    Eigentlich hatte ich zu diesem Thema nichts schreiben wollen. Erstens, weil das aus meiner Sicht Treffende dazu schon am Freitag letzter Woche beim beim Anti- Bürokratieteam zu lesen gewesen ist. Zweitens, weil es - wie dort Jo@chim zu Recht schreibt - wahrlich Bedenklicheres gibt, was staatliche Eingriffe in die Privatheit des Einzelnen angeht. Und drittens, weil das Thema medienmäßig durch ist und man sich eigentlich freuen sollte, daß wir es so schnell wieder losgeworden sind.

    Nun habe ich aber heute im gedruckten "Spiegel" die einschlägige Story gelesen (44/2008, S. 30 - 32). Nicht weniger als sechs Autoren haben sich an dem Thema zu schaffen gemacht; Überschrift "Krankhafte Züge".

    Daraufhin habe ich entschieden, doch noch zu meckern. Dem Thema hinterherzumeckern.



    Ich hatte die Aufregung albern gefunden; aber nun gut, es gibt vieles, worüber sich die Leit mal kurz aufregen, und dann is wieder a Ruh.

    Aber der Tenor dieses Artikels ist nicht von dieser Art. Sondern die Sechs - von den beiden Juristen Thomas Darnstädt und Dietmar Hipp über Hans- Jürgen Schlamp, den Brüsseler Korrespondenten des "Spiegel", bis zu Manfred Dworschak vom Ressort Wissenschaft - werden grundsätzlich.

    Grundsätzlich, ja sogar grundgesetzlich. Sie beklagen,
    ... welches Menschenbild hinter solcher Sicherheits- Technologie in staatlicher Hand steckt: Nackt und wehrlos, ohne dem Großen Bruder, der ihn still betrachtet, auch nur in die Augen sehen zu können, soll jedermann, ob gut oder böse, vor die Augen der Obrigkeit treten. Die Einsicht, dass der gläserne Bürger jedenfalls nicht dem Menschenbild des Grundgestzes entspricht, ...
    Daran stimmt fast nichts. "Wehrlos" ist der Gescannte so viel oder so wenig wie auch jetzt, wenn er mit der Sonde untersucht und mit den Händen abgetastet wird. Nackt ist er auch nicht; noch nicht einmal ist das schemenhafte Schwarzweißbild "nackt", das der Scanner enthüllt; man sehe sich das Beispiel auf Seite 30 des "Spiegel" an.

    Nicht nackt ist er, nicht gläsern, der gescannte Bürger. Und es ist auch nicht "die Obrigkeit", die einen Blick auf das gescannte Bild wirft, sondern ein knapp oberhalb des Niveaus von Hartz IV bezahlter, vermutlich gelangweilter Sicherheitsmann im Dienst des Flughafens.

    Oder eine Sicherheitsfrau; denn natürlich wird man, beim Scannen wie schon jetzt beim manuellen Abtasten, es Frauen nicht zumuten, von einem Mann überprüft zu werden.

    Wie damit die Menschenwürde verletzt werden soll, erschließt sich jedenfalls mir nicht. Allenfalls das Schamgefühl Einzelner könnte verletzt werden; und dem kann man ja dadurch vorbeugen, daß jedem freigestellt ist, ob er sich scannen lassen will oder nicht. Wer das nicht mag, der wird eben, wie schon bisher bei einem Verdachtsfall, zur manuellen Untersuchung in die Kabine gebeten.

    Ich jedenfalls will dann doch lieber gescannt werden. Ein paar Sekunden vor dem Apparat sind mir entschieden sympathischer als die Abtasterei. Auch als zum Beispiel das Ausziehen des Gürtels zwecks dessen Durchleuchtung, das ich als sehr unangenehm empfinde.



    Gut, das mag man verschieden sehen. Aber auch wenn manche das Gescanntwerden als peinlich empfinden mögen - ein Grund für die gewaltige öffentliche Aufregung, ja "öffentlichen Empörung" ("Spiegel") und das brave Nachfolgen der Politiker (aufgrund einer einheitlichen "Stimmung in allen Fraktionen des Deutschen Bundestags", laut "Spiegel") liefert das noch nicht.

    Woher also die Empörung? Ich habe einen Verdacht. Es ist ein Verdacht, den ich schon oft in solchen Fälllen hatte: Die "Öffentlichkeit" die sich da empörte, reagiert nicht auf Sachverhalte, sondern auf Wörter und Bilder. Und sie reagiert nicht in Form einer rationalen Meinungsbildung, sondern quasi- reflektorisch.

    Als über einen atomaren Unfall weit im Osten berichtet wurde, in der damaligen UdSSR, stand vor dem geistigen Auge das Bild von alles durchdringenden Todesstrahlen. Wenn ein Hund ein Kind anfällt, dann sieht man einen schrecklichen Bluthund vor sich, der ein armes Wurm zwischen seinen Lefzen hat. Und hier wurde das Bild gleich mitgeliefert, eben jenes einer schemenhaften Figur im Scanner. Weniger ein Bild der Schamverletzung als des Leides; mich hat das an das Turiner Grabtuch erinnert. Auch Assoziationen zu gewissen Spielarten des Fetischismus liegen nicht fern.

    Und dazu noch dieses Wort "Nacktscannen". Strahlen dringen ein, durchdringen die uns schützende Kleidung, offenbaren unser Intimstes dem lüsternen Auge des Staats.

    Das ist alles nicht so; aber die Bilder, die Wörter suggerieren es eben. Und Empörung ist schnell auszulösen, wie ein Reflex, ohne Nachdenken; genau wie die Reaktion "niedlich" durch den Schlüsselreiz eines tapsigen kleinen Eisbären.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    28. Oktober 2008

    Marginalie: "Alles in Trümmer legen". Über die Wiedervereinigungspolitik Nordkoreas. Mit einem Blick ins Internetportal der nordkoreanischen Regierung

    Vor gut einer Woche hat Nordkorea eine wichtige Bekanntmachung angekündigt. Man dachte an den Tod Kims, einen Machtwechsel oder Putsch; oder auch an eine Grundsatzerklärung über die Beziehungen zu Südkorea.

    Es kam dann erst einmal nichts. Aber nun ist sie da, die wichtige Bekanntmachung: "Nordkorea droht Südkorea mit totalem Krieg", so titelt heute die "Welt" und berichtet von einer Verlautbarung "des koreanischen Militärs":
    "Das Marionettenregime sollte sich klar darüber sein, dass unser progressiver Präventivschlag es nicht nur unter Feuer nehmen, sondern alles in Trümmer legen wird, was gegen unsere Nation und die Wiedervereinigung ist".
    Und was hat diese Drohung ausgelöst? Die Erklärung sagt es:
    "Wir bekräftigen unsere Haltung, dass wir eine entschlossene praktische Aktion unternehmen werden, wenn das südkoreanische Marionetten- Regime weiterhin Flugschriften verbreitet und die Lügenkampagne mit reinen Phantasiegespinsten fortsetzt"
    Erzwungen werden soll also mit der Drohung eines Militärschlags, daß Propaganda gegen Nordkorea eingestellt wird; vor allem die Entsendung von Flugblättern mittels Lufballons.

    Diese Methode war in der Zeit des Kalten Kriegs auch im geteilten Deutschland üblich gewesen. Denn so gut wie jede andere Form des Eindringens unerwünschter Nachrichten kann eine Diktatur unterbinden; aber gegen - wie jetzt in Korea - 100.000 Flugblätter, die an Ballons ins Land hineingeweht werden, ist sie so gut wie machtlos.

    Eine Bürgerrechtsorganisation hat sie fliegen lassen, die Flugblätter; und es soll unter anderem um den Gesundheitszustand Kim Jong Ils gegangen sein. Über diesen herrscht eine Geheimhaltung, im Vergleich zu der die sonstige Politik Nordkoreas ein immerwährender Tag der Offenen Tür ist.



    Einen entscheidenden Unterschied zum Kalten Krieg im geteilten Deutschland gibt es allerdings: Es sind die Kommunisten, die ständig von der Wiedervereinigung reden.

    Wie intensiv sie davon reden, davon kann man sich mit einem Besuch im Internet- Portal der nordkoreanischen Regierung überzeugen. Es ist ungefähr so professionell gemacht wie die Homepage eines Oberschülers, also gar nicht mal so übel.

    Wenn man ein wenig blättert, dann gelangt man zum Thema Wiedervereinigung; und da steht - man lese und staune - : "Destroy the wall!", reißt die Mauer nieder. Und der vielleicht ein wenig überraschte Leser wird informiert:
    If any South Korean citizen tries to visit North Korea crossing the big concrete wall, he'll be killed by the american soldiers. The "Security Law" in South Korea forbides to any South Korean citizen to talk or read about the North or else he'll be punished with jail or even death penalty.

    Wenn ein Bürger Südkoreas versucht, den Norden zu besuchen und die große Betonmauer zu passieren, dann wird er von amerikanischen Soldaten getötet. Das "Sicherheitsgesetz" in Südkorea verbietet es jedem Bürger Südkoreas, über Nordkorea zu sprechen oder etwas zu lesen. Andernfalls wird er mit Gefängnis oder sogar dem Tod bestraft.
    Ganz anders Nordkorea. Dort ist man für die Wiedervereinigung:
    Since the end of the War, one of the main worries of the Great Leader KIM IL SUNG and the Dear Leader KIM JONG IL was the Unification of the Korean families. The Great Leader said: "To unify the divided country in this moment is the supreme national task of all the Korean people, and we cannot wait just one moment to achieve it".

    Seit Kriegsende war eine der größten Sorgen des Großen Führers KIM IL SUNG und des Geliebten Führers KIM JONG IL die Wiedervereinigung der koreanischen Familien. Der Große Führer sagte: "Das getrennte Land jetzt sofort zu vereinen ist die überragende nationale Aufgabe des gesamten koreanischen Volks, und wir können keinen einzigen Moment warten, dies zu erreichen"
    Und wie soll sie vonstatten gehen, die Wiedervereinigung? Wenn Sie ein wenig Zeit haben und Englisch lesen, dann empfehle ich einen Ausflug auf diese Seite mit allerlei Propagandatexten. Darunter einer, aus dem man erfährt, wie sich die Nordkoreaner die Wiedervereinigung vorstellen.

    Das soll erstens ihr kommunistischer Ableger im Süden, die AINDF bewerkstelligen:
    The Anti-imperialist National Democratic Front (AINDF) is the Party representing the south Korean people's independent desire and aspiration and the patriotic vanguard of the revolutionary movement of south Korean. (...)

    AINDF's immediate program is to set up a national independent government after abolishing the U.S. colonial rule in south Korea. AINDF is in continuous struggle for democracy and independent national reunification upholding the Songun revolutionary leadership of leader Kim Jong Il.

    Die Antiimperialistische Nationale Demokratische Front (AINDF) ist diejenige Partei, die den Wunsch und das Streben des südkoreanischen Volks nach Unabhängigkeit repräsentiert, und die patriotische Avantgarde der revolutionären Bewegung Südkoreas. (...)

    Das unmittelbare Programm der AINDF ist es, die US-Kolonialherrschaft in Südkorea zu beseitigen und danach eine unabhängige nationale Regierung zu errichten. Die AINDF befindet sich in einem fortdauernden Kampf für Demokratie und die nationale Wiedervereinigung in Unabhängigkeit. Sie folgt dabei der Songun- Führerschaft des Führers Kim Jong Il.
    Natürlich können die südkoreanischen Kommunisten allein nicht die "Kolonialherrschaft der USA" beenden. Aber es gibt ja noch die Koreanische Volksarmee der Kommunisten.

    In einer Erklärung vom 22. Januar 2008 heißt es:
    In the stirring period when the 70 million compatriots are dynamically conducting the national reunification movement upholding the slogan "Let Us Open Up a New Era of Independent Reunification, Peace and Prosperity by Concerted Efforts of Our Nation!", we ... hardly repress the burning indignation toward the US (...)

    If the US continues its hostile policy towards Korea and pursues its aggression moves against it, it will face a more disgraceful destruction by the strength of the KPA and the Korean people, thousand times stronger than it was 40 years ago.

    In der aufwühlenden Zeit, in der 70 Millionen Landsleute kraftvoll die Bewegung zur Wiedervereinigung der Nation unternehmen, die unter dem Motto steht "Laßt uns durch gemeinsame Anstrengungen unserer Nation eine Neue Ära der Wiedervereinigung in Unabhängigkeit, des Friedens und des Wohlstands eröffnen", ... können wir die brennende Empörung über die USA kaum unterdrücken. (...)

    Wenn die USA ihre feindselige Politik gegenüber Korea fortsetzen und ihre aggressiven Schritte gegen es weiter verfolgen, dann werden sie eine tausend mal schmachvollere Vernichtung durch die Macht der Koreanischen Volksarmee erleben als vor vierzig Jahren.
    "Vor vierzig Jahren" - das war die Kaperung des US-Kriegsschiffs "Pueblo" in internationalen Gewässern am 23. Januar 1968. Die in dem Zitat ausgelassenen Stellen beziehen sich auf diesen Vorfall.



    Natürlich ist da viel Getöse im Spiel. Natürlich ist das auch die martialische Begleitmusik zu den gegenwärtig laufenden Verhandlungen mit den USA und mit Südkorea. Natürlich ist es Propaganda.

    Aber im Kern dürfte diese Propaganda schon die Ziele und die Strategie des nordkoreanischen Regimes realistisch wiedergeben:

    Schafft man es, die USA zum Abzug aus Südkorea zu bringen (wer weiß, welche Hoffnungen da auf dem nächsten Präsidenten der USA ruhen, so irrational sie sein mögen), dann steht die viertgrößte Armee der Welt mit ständig 1,2 Millionen Mann unter Waffen dem zwar auch militärisch nicht schwachen, aber doch nicht annähernd so militarisierten Südkorea gegenüber.

    Es ist eine sehr ähnliche Politik, wie sie auch die deutschen Kommunisten bis zu ihrem Ende betrieben haben:

    Würden die Amerikaner erst einmal aus dem Land heraus sein, dann würden die Karten neu gemischt werden. Dazu diente damals den deutschen Kommunisten die "Friedensbewegung"; dazu soll heute den koreanischen Kommunisten ihre Fünfte Kolonne im Süden dienen, die AINDF.

    Dazu diente damals die militärische Bedrohung der Bundesrepublik durch die UdSSR, zum Beispiel durch die Aufstellung von SS- 20- Raketen. Dazu dienen jetzt Drohungen gegen Südkorea wie die in der heutigen Erklärung, die bezeichnenderweise nicht von der Regierung oder der Partei, sondern von der Führung des Militärs abgegeben wurde.



    Und noch etwas erinnert an die Zeit des Kalten Kriegs: Die Sprache, deren sich die Kommunisten bedienen. So etwas wie in dieser Meldung der koreanischen Agentur KCNA vom 28. Oktober 2008 habe ich seit Jahrzenten nicht mehr gelesen (die Rede ist von dem südkoreanischen Verteidigungsminister Ri Sang Hui):
    This traitor without an equal in the world flew into the U.S. to meet his American master and let loose such unspeakable vituperation in the eyes of the world community, not content with vociferating about "emergency situation" at home. (...) It is absolutely impossible to expect the improved inter-Korean relations and peaceful reunification as long as such sycophantic traitor serving the U.S., confrontational maniac and human scum as Ri Sang Hui is allowed to stay in his office. He will have to pay a price for his reckless remarks.

    Dieser Verräter, wie es ihn weltweit nicht noch einmal gibt, flog in die USA, um mit seinem amerikanischen Herrn zusammenzutreffen und vor den Augen der Weltgemeinschaft unsägliche Schimpfereien loszulassen, so als genüge es ihm nicht, zu Hause über eine "Gefahrensituation" zu krakeelen. (...) Es ist völlig ausgeschlossen, eine Verbesserung der inner- koreanischen Beziehungen und eine friedliche Wiedervereinigung zu erwarten, solange ein solcher speichelleckendere Verräter, ein Diener der USA, ein kriegslüsterner Irrer und menschlicher Abschaum wie Ri Sang Hui im Amt bleiben darf.
    So die offizielle Nachrichtenagentur der Volksrepublik Korea im Jahr 2008.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    27. Oktober 2008

    Der 44. Präsident der USA (26): "Den Obama-Fans in Europa steht eine große Überraschung bevor"

    Während manche Konservative, wie heute Steven M. Warshawsky im American Thinker, im Walde pfeifen und "Anzeichen für einen Sieg McCains" entdecken, ist der Sieg Barack Obamas so sicher, wie nur je derjenige eines Bewerbers um das Amt des Präsidenten der USA gewesen ist.

    In den Umfragen bewegt sich sein Abstand zu McCain inzwischen im zweistelligen Bereich; die letzte Umfrage für Newsweek sieht Obama zwölf Prozentpunkte vor McCain, die letzte für CBS / New York Times dreizehn Punkte. Das Wählermodell von FiveThirtyEight berechnet heute die Wahrscheinlichkeit eines Siegs von Obama mit 96,7 Prozent und die eines Siegs von McCain mit 3,3 Prozent.

    Vor knapp vier Wochen, am 1. Oktober, stand hier über das Gespann McCain/Palin:
    Im Grunde können sie nur noch gewinnen, wenn etwas ganz Unerwartetes geschieht - sei es, daß Obama einen tödlichen Fehler macht, sei es, daß es zu einer außenpolitischen Krise kommt.
    Inzwischen würde ich auch diese Einschränkung nicht mehr machen. Selbst wenn es jetzt zu einer unerwarteten außenpolitischen Krise käme, wäre Obamas Sieg nicht mehr gefährdet. Und einen tödlichen Fehler wird er nicht machen; nicht mehr in dieser letzten Woche vor den Wahlen.



    Es ist also an der Zeit, sich mit dem künftigen Präsidenten Obama zu beschäftigen.

    Das tat am vergangenen Wochenende Nils Minkmar in der F.A.S.. Seine Eloge schildert Obama als einen Reifen unter lauter Unreifen ("Endlich ein Erwachsener"), als nichts weniger als einen Politiker, der ganz anders ist als all die anderen ("Obama bringt nichts von dem, was Leute angeblich, nach der Logik der politischen Allgemeinplätze, erwarten").

    Auf eine andere Weise, als Minkmar das meint, dürfte nun allerdings Obama in der Tat "nichts von dem bringen", was "die Leute erwarten". Was nämlich viele in Europa, wahrscheinlich die große Mehrheit der Europäer, von ihm erwarten.

    Dazu steht heute in der International Herald Tribune ein Artikel von John Vinocur, der die frohen Hoffnungen der Europäer mit dem kontrastiert, was der Präsident Obama ihnen wohl tatsächlich bescheren wird. Überschrift: "Obama's fans in Europe are in for a big surprise"; den Obama- Fans in Europa stehe eine große Überraschung bevor.

    Auch Vinocur - langjähriger Deutschland- und Frankreich- Korrespondent der New York Times, jetzt Chefkorrespondent der IHT - sieht Obama vermutlich als einen "Erwachsenen". Vor allem aber schildert er ihn als einen künftigen Präsidenten, der knallhart die amerikanischen Interessen vertreten wird. Auch und gerade gegenüber Europa:
    The realities of American interests, American responsibilities and the American presidency mean that all the soft power instincts and readiness for multilateral mosh-pit politicking attributed to Obama by Europeans can quickly look imaginary.

    Die Realitäten der amerikanischen Interessen, der amerikanischen Verantwortungen und des Amts eines amerikanischen Präsidenten bedeuten, daß alles das, was die Europäer Obama als Sanftheit im Umgang mit der Macht zuschreiben, als Bereitschaft, die Politik als eine ausgelassene gemeinsame Party zu veranstalten, sich schnell als Chimäre herausstellen kann.
    Wie McCain wolle Obama dafür sorgen, daß die USA weiter die mächtigste Nation der Welt bleibe, schreibt Vinocur.

    Auch Obama werde die USA als Weltsheriff verstehen. Auch er werde kein Vetorecht der UNO über das akzeptieren, was die USA militärisch unternehmen.

    Die zahlreichen Europäer die für Obama sind (laut Umfrage zum Beispiel 93 Prozent der Franzosen) hätten, meint Vinocur, schlicht keine Ahnung davon, wofür Obama eigentlich steht. Daß er für die Todesstrafe ist und nicht daran denkt, sich gegen den privaten Besitz von Feuerwaffen einzusetzen. Und dazu, wie Obama den Zusammenhang zwischen Militär und Schulausbildung sieht, zitiert Vinocur genüßlich, was dieser in der letzten Debatte mit McCain sagte:
    "It probably has more to do with our economic future than anything and that means it has a national security implication because there never has been a nation on Earth that saw its economy decline and continued to maintain its primacy as a military power. So we've got to get our education system right."

    Sie [die Ausbildung] hat mehr mit unserer wirtschaftlichen Zukunft zu tun als irgend etwas sonst, und das beinhaltet, daß sie eine Bedeutung für unsere nationale Sicherheit hat, denn es hat noch nie eine Nation auf Erden gegeben, die ihre Wirtschaft abwärts gehen sah und die zugleich ihre Vorherrschaft als Militärmacht behalten hat. Also müssen wir unser Ausbildungssystem in Ordnung bringen".
    Auch von den außenpolitischen Vorstellungen Obamas ist, wie Vinocur uns belehrt, in Europa wenig bekannt - daß er zum Iran "niemals die militärische Option ausschließen" wird, daß er die "sofortige" Einleitung eines Beitritts von Georgien zur Nato verlangt.

    Besonders interessant für uns Deutsche ist, was Vinocur über Obamas Position zu Afghanistan schreibt: Er beklage, daß Nato- Länder wie Deutschland dort anwesend seien, sich aber nicht in den Regionen beteiligten, wo die mörderischsten Risiken seien.

    In diesem Zusammenhang erinnert Vinocour daran, wie der künftige Vizepräsident Biden vor vier Jahren die deutsche und französische Kritik am Irak- Krieg kommentierte: "Blah blah blah, international cooperation," he mocked. "Give me a break, huh." - "Blabla, internationale Zusammmenarbeit. Also, verschonen Sie mich bitte damit!".



    Es scheint, daß sich in Europa das Kennedy- Phänomen wiederholt. Obama ist ja bei seinem Besuch von den Berlinern fast so gefeiert worden wie Kennedy 1963.

    Auch damals wollten viele nicht sehen, daß Kennedy ausschließlich US-Interessen vertrat, und dies mit voller Härte; daß er bereit war, für die Macht der USA einen Atomkrieg zu riskieren, daß er trotz aller Freiheits- Rhetorik keinen Augenblick daran gedacht hatte, etwas gegen die Berliner Mauer zu unternehmen.

    Kennedy war nicht der Märchenprinz und auch nicht der König Arthur, der mit einer intellektuell glänzenden Hofhaltung die USA in neue kulturelle Höhen führte. Und Obama, schreibt John Vinocur, "is not Michael Moore transmogrified", ist kein wundersam verwandelter Michael Moore.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    26. Oktober 2008

    Zitat des Tages: "In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht". Hans-Werner Sinn über Antisemitismus damals, Ressentiments gegen Manager heute

    "In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken", sagte er dem Tagesspiegel. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 "hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager".

    Der "Tagesspiegel" in seiner morgen erscheinenden Ausgabe über ein Gespräch mit dem Chef des Ifo-Instituts Hans- Werner Sinn.

    Kommentar: Es gibt Vergleiche, die empörend sind. Das Wort "Hühner-KZ" ist ein Beispiel. Es ist empörend, wenn fanatische Vegetarier von einem "Holocaust auf deinem Teller" schwadronieren, oder wenn ein Führer der Hamas es als einen "wirklichen Holocaust" bezeichnet, wenn Israel die Überweisung von Steuermitteln an eine Hamas- Regierung einstellt.

    Ebenso abwegig ist es, die Flucht von Palästinensern mit dem Holocaust auf eine Stufe zu stellen oder andere Vergleiche mit dem Holocaust vorzunehmen, wie man sie zum Beispiel in einem lesenswerten Artikel in "Liza's Welt" vom Juli vergangenen Jahres zusammengestellt findet.



    Dies vorweg, um klarzustellen, wie ich zu solchen Vergleichen stehe; auch um Beifall von der falschen Seite gar nicht erst aufkommen zu lassen.

    Dieser könnte mir drohen, weil ich jetzt die Äußerung von Hans- Werner Sinn verteidigen möchte. Sie verteidigen möchte in dem Sinn, daß ich das, was er sagt, für zutreffend halte. Ich halte es allerdings für falsch, daß er es in dieser Form gesagt hat.

    Sinn hat dem "Tagesspiegel" ein Interview gegeben. Aber es wird dort nicht als Interview gedruckt, sondern es werden einzelne Äußerungen herausgegriffen. Ob sie repräsentativ sind für das, was Sinn zur jetzigen Finanzkrise zu sagen hatte, kann der Leser folglich nicht beurteilen.

    Soweit man es dem Artikel im "Tagesspiegel" entnehmen kann, ging es Sinn um die Ursachen für diese Krise und um einen Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise von 1929:
    Niemand habe damals an einen "anonymen Systemfehler" glauben wollen, der die Krise ausgelöst habe, befand Sinn. Zugleich bezeichnete er das 480- Milliarden- Euro- Rettungspaket für die Banken als richtig. Sonst hätte es wie 1929 "dramatische Folgen" gegeben. "Eine Kernschmelze im Finanzsystem, Massenarbeitslosigkeit, die Radikalisierung der Länder der westlichen Welt, am Ende eine Systemkrise der Marktwirtschaft. Die deutsche Geschichte ist hier ja ganz klar."
    In diesem Zusammenhang wies Sinn darauf hin, daß es damals wie heute die Tendenz gab und gibt, nicht objektive Ursachen für die Krise zu sehen, sondern sie Personen als den vermeintlich Schuldigen zuzuschreiben. Das seien damals "die Juden" gewesen, so wie heute "die Manager".

    Dieser Vergleich ist, so scheint mir, zutreffend.

    Der Antisemitismus ist ja, anders als der Holocaust, nicht etwas in vieler Hinsicht Singuläres. Er ist - leider - etwas, das sich in den unterschiedlichsten Formen in vielen Ländern findet und fand, das freilich hinter diesen vielen Erscheinungsformen wenige, identifizierbare Motive hat. Dazu gehört die Ablehnung von Fremdem, dazu gehört Neid, dazu gehört eine Neigung zu Verschwörungstheorien, und dazu gehört eben auch der Versuch, Personen oder Personengruppen für das verantwortlich zu machen, was einem selbst an Negativem widerfährt.

    Dieser letzte Punkt ist es, den Sinn mit seinem Vergleich anspricht. Denn eine solche Zuschreibung geschieht auch jetzt, wenn "die Gier der Manager" für die jetzige Finanzkrise verantwortlich gemacht wird.

    Das ist sozusagen an der Oberfläche die Analogie; die zutreffende Parallele. Man könnte diese darüber hinaus genauer verfolgen und fragen, wieweit der damalige gegen "das Finanzjudentum", gegen die amerikanische "Ostküste" sich richtende Antisemitismus zum Teil auf demselben antikapitalistischen Ressentiment basierte wie heute der Haß auf die "gierigen Manager"; wieweit da dieselben Klischees wirksam sind.

    Nicht ohne Grund hat ja der FAZ-Journalist Peter Richter einen Auftritt des Kandidaten Sodann, der gern Josef Ackermann verhaften möchte, so kommentiert: "Von einer NPD-Versammlung unterscheidet sich diese Veranstaltung im Grunde nur dadurch, dass NPD-Mitglieder wenigstens wissen, dass sie rechtsradikal und ressentimentgetrieben sind".



    Also, in der Sache hat Sinn aus meiner Sicht Recht: Damals wie heute werden Personengruppen als "Schuldige" für etwas angeprangert, das in Wahrheit auf ein Zusammenwirken zahlreicher objektiver Ursachen zurückgeht. Und zweitens - das sagt Sinn nicht; es ist meine Meinung -: Die Ressentiments, die dem zugrundeliegen, gehen zum Teil auf dieselbe antikapitalistische Haltung zurück.

    Aber es ist eine ganz andere Frage, ob es geschickt war, eine solche von der Sache her berechtigte Parallele in der Form zu ziehen, in der Sinn das getan hat.

    Sie nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Ursachen der beiden Krisen zu ziehen, sondern in einem Zeitungs- Interview. Einem Interview, das diese Zeitung noch dazu nun gar nicht abgedruckt, sondern aus dem sie nur ein paar Sätze, ja Satzteile zitiert. Bisher jedenfalls. Kein Wunder, daß das zu falschen Deutungen dessen einlädt, was Sinn meinte.

    Hans-Werner Sinn dachte gewiß nicht im Traum daran, zu bestreiten, daß der damalige Antisemitismus zu unvergleichbar schlimmeren Folgen geführt hat, als sie jetzt jemals von dem Ressentiment gegen Manager zu erwarten sind. Eine solche Parallele auch nur zu erwägen wäre dermaßen absurd, daß einem rational denkenden Mann wie Sinn gar nicht bewußt gewesen sein dürfte, daß man so etwas auch nur vermuten würde können.

    Aber wenn zwei Phänomene auch unvergleichbar verschiedene Folgen haben, dann können sie ja doch - in diesem Fall partiell - auf dieselben Ursachen zurückgehen. Darauf hat Sinn aufmerksam gemacht.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    Zettels Meckerecke: Ypsilanti in der Falle. Vorbei mit dem "glanzvollen Theater"

    Wie schafft man es als Sozialdemokrat, zugleich von Wählern der linken Mitte gewählt zu werden und mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten? Ganz einfach: Man macht es eben nicht zugleich.

    Man gewinnt, erster Akt, die Wähler der linken Mitte, indem man hoch und heilig verspricht - indem man garantiert -, daß man nicht mit den Kommunisten zusammenarbeiten wird. Zweiter Akt: Nachdem man deren Stimme eingesackt hat - sie können sie ja nicht mehr zurückholen - , arbeitet man mit den Kommunisten zusammen.

    Als Frau Ypsilanti es so machte, hat sie Dasjenige in die Tat umgesetzt, was der Politologe Franz Walter für die Kunst des Politischen hält, nämlich das geschickte Lügen; oder, in Walters Diktion, "Irreführung, Maskerade, das glanzvolle Theater".

    Sie hat zugleich aber auch eine Falle gebastelt, in der sie nun selber hockt.



    Keine Art von Verbrechern sind so mobil wie die Hochstapler und Betrüger. Sie "treten auf", verschwinden, sind kurz danach woanders am Werk. Der Grund liegt auf der Hand: Betrug und Hochstapelei funktionieren nur, solange man den Betrüger, den Hochstapler für ehrlich hält.

    Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert, was zwar nicht Wilhelm Busch dichtete, sondern vermutlich Werner Kroll. Wahr bleibt's. Aber wahr bleibt eben auch, daß mit der gewonnenen Ungeniertheit das Vertrauen verloren ist, dem man den erfolgreichen Coup verdankt hatte.

    Der Hochstapler also "begibt sich weiter fort bis an einen andern Ort". Und das ist nun wirklich von Wilhelm Busch. Andrea Ypsilanti, mit ihrem ruinierten Ruf, kann sich aber nicht, wie der Tobias Knopp, woanders hin begeben. Also weiß jeder, woran man mit ihr ist.

    Sie sitzt damit in einer Falle, die in der Spieltheorie unter dem Stichwort Repeated Games untersucht wird, wiederholte Spiele.

    Die Spieltheorie analysiert unter anderem das Lügen und Täuschen und kommt grundsätzlich zu dem nicht sehr erfreulichen Schluß, daß sich eine solche Strategie unter Umständen durchaus lohnen kann. Nur funktioniert das eben nicht mehr bei wiederholten Spielen. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. À la longue gewinnt der Zuverlässige und nicht der Lumpenhund. Es sei denn, daß jener sich vom Acker machen und es anderswo versuchen kann. Aber dann ist es eben kein Repeated Game mehr.



    In dieser Falle also steckt jetzt Andrea Ypsilanti. Jeder rechnet damit, daß sie trickst, und ist gewarnt. Auch ihre Genossen.

    In den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen galt es einerseits, einen Koalitionsvertrag hinlänglich nach dem Geschmack nicht nur der Grünen, sondern auch der Kommunisten zu basteln, auf die man ja fortan angewiesen sein wird.

    Andererseits aber muß Ypsilanti fürchten, von denjenigen in der Fraktion, denen es auch um die wirtschaftliche Zukunft Hessens geht, nicht gewählt zu werden, wenn sie den Grünen und den Kommunisten entgegenkommt.

    Schön wäre es gewesen, hätte sie das à la Landtagswahlen lösen können: Erst den Grünen und den Kommunisten "garantieren", daß sie eine grünlinke Wirtschaftspolitik machen wird, und dann das Gegenteil tun, um die Moderaten zu gewinnen.

    Nur braucht sie ja die Stimmen der einen wie der anderen am selben Tag, zur selben Stunde. Wortbruch funktioniert also diesmal leider nicht.

    Was tun? Divide et impera, das war offenbar Ypsilantis Plan. Teilen nämlich will sie das Wirtschaftsministerium, eins links, eins rechts. Und damit ihren Widersacher Jürgen Walter einerseits einbinden, damit er für sie stimmt. Ihn andererseits aber in ein machtloses Ressort schicken, in dem er sich im Dauerclinch aufreiben sollte. Nicht schlecht ausgedacht; fast so gut wie der Trick mit der Garantie.



    Bisher hat Hessen ein Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung. Es soll - so steht es in einer Vorabmeldung des "Spiegel" - aufgeteilt werden in ein Ressort für "Wirtschaft, Landesentwicklung und Bauen" und ein Ministerium für "Verkehr und Europa- Angelegenheiten".

    Das eine, das mächtige Ministerium soll der SPD- Linksaußen Hermann Scheer bekommen, der eigentlich gern Umweltminister geworden wäre. Und das andere, das schäbige Restministerium, mit der Zuständigkeit für Europa ein wenig aufgemotzt, hatte die schlaue Andrea Ypsilanti ihrem rechten Widersacher, dem Netzwerker Jürgen Walter zugedacht. Der hätte dort gegen den ungleich mächtigeren Hermann Scheer ungefähr so erfolgreich ankämpfen können, wie das gestern Abend Danilo Häußler gegen Mikkel Kessler versucht hat.

    Walter nun allerdings roch den Braten und lehnte dieses Danaergeschenk - auch "Focus" hat dazu eine Vorausmeldung, in der das steht - nach eigener Aussage ab. Eine "absurde Konstruktion" nannte er - jetzt wieder gegenüber dem "Spiegel" - diese Aufteilung. Einen "enormen Abstimmungsbedarf" hätte sie bedeutet; sprich: Er hätte als Verkehrsminister keine Entscheidung fällen können, die nicht der für Landesplanung zuständige Scheer hätte aushebeln können.

    Offenbar hatte Andrea Ypsilanti den Genossen Jürgen Walter falsch eingeschätzt. Sie mag sich gedacht haben, daß er alles akzeptieren würde, nur um Minister zu werden. Daß er auf ein Ministeramt so versessen sei, wie sie selbst offenbar auf das Amt der Ministerpräsidentin. Wozu dann logischerweise auch gehört hätte, daß er sein Kreuzchen bei Andrea Ypsilanti macht.

    Er will aber nicht um jeden Preis Minister werden, wie sich jetzt zeigt. Er will das nicht nur nicht, sondern er verkündet diesen seinen Willen so nachdrücklich, daß ihn am Montag sowohl der "Spiegel" als auch "Focus" zitieren werden. Jeder soll wissen, was Ypsilanti mit ihm vorgehabt hatte, und daß er das nicht mit sich machen läßt.

    Ob er es bei diesem Warnschuß bewenden läßt, der Jürgen Walter, oder ob er bei der geheimen Wahl scharf schießt, das ist jetzt eine spannende Frage.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    25. Oktober 2008

    Zitate des Tages: "Mein persönliches Heil wird nicht kommen, wenn es kein Heil für das Land gibt". Obamas Karriere, Obamas politische Ziele

    People wonder if he is decisive. It is clear he is decisive in terms of his own career: (...) When it comes to his career, his decisions are thought through and his judgments sound.

    But when it comes to decisions that have to do with larger issues, with great questions and not with him, things get murkier. There is the long trail of the missed and "present" votes, the hesitance on big questions.

    One wonders if in the presidency he'll be like the dog that chased the car and caught it: What's he supposed to do now?


    (Die Leute fragen sich, ob er entschlußkräftig ist. Es ist klar, daß er bei seiner eigenen Karriere entschlußkräftig ist: (...) Wenn es um seine Karriere geht, dann sind seine Entscheidungen durchdacht und sind seine Urteile vernünftig.

    Aber wenn es um Entscheidungen geht, die mit weiterreichenden Themen zu tun haben, mit großen Fragen und nicht mit ihm selbst, dann wird es verschwommener. Da gibt es die lange Spur der Abstimmungen, die er versäumt oder bei denen er sich enthalten hat, die Zögerlichkeit bei großen Fragen.

    Man fragt sich, ob er als Präsident wie der Hund sein wird, der hinter dem Auto herjagte und es einholte: Was soll er jetzt damit tun?)

    Peggy Noonan im Wall Street Journal vom 24. Oktober 2008 über Barack Obama.

    I talk a lot in the book about my attempts to renew the dream that both of my parents had. I worked as a community organizer in Chicago, [and] was very active in low- income neighborhoods working on issues of crime and education and employment, and seeing that in some ways certain portions of the African- American community are doing as bad, if not worse, and recognizing that my fate remained tied up with their fates. That my individual salvation is not going to come about without a collective salvation for the country.

    (Ich spreche in dem Buch viel über meine Versuche, den Traum zu erneuern, den meine Eltern beide hatten. Ich arbeitete als Gemeinde- Organisator in Chicago [und] war in Wohngegenden mit niedrigem Einkommen sehr aktiv. Ich befaßte mich mit Themen wie Verbrechen und Ausbildung und Arbeitsstellen. Und ich sah, daß es in mancher Hinsicht bestimmten Teilen der afro- amerikanischen Gemeinschaft genauso schlecht ging, wenn nicht schlechter, und daß mein Schicksal mit ihren Schicksalen verbunden bleiben würde. Daß mein persönliches Heil nicht kommen wird, wenn es kein kollektives Heil für das Land gibt.)

    Barack Obama am 8. September 1995 in einem jetzt bekannt gewordenen Interview mit Eye on Books über sein damaliges Buch "My Father's Dream", das seit gestern im Internet diskutiert wird.

    Kommentar: Der letzte Satz ist derjenige, der jetzt im Internet am häufigsten zitiert wird. "Salvation" kann man verschieden übersetzen, und ich bin unsicher, was hier die beste Übersetzung ist. "Heil" ist am nächstliegenden; die Heilsarmee heißt englisch Salvation Army. Man kann salvation aber auch mit "Errettung", "Erlösung", "Rettung", sogar mit "Seelenheil" übersetzen.

    Wie auch immer Obama diesen Satz gemeint hat - mir scheint, daß hier der Schlüssel zu dem liegen könnte, worüber sich Peggy Noonan wundert.

    Für Obama, so kann man diesen Satz verstehen, ist sein eigenes zentrales biographisches Thema - die Zugehörigkeit zur schwarzen ebenso wie zur weißen Kultur - zugleich das Thema der USA. So, wie er diesen Konflikt in sich zu bewältigen versucht, so will er heal this Nation, "unsere Nation heilen". Ja, er will repair this world, make this time different than all the rest - "diese Welt wieder heil machen, unsere Zeit zu einer wie keine andere machen".



    Seit ich die ersten Auftritte Obamas in der Pose des Erlösers sah, habe ich mich immer wieder gefragt, ob das alles nur die Show eines begnadeten Schauspielers ist, oder ob der Mann es ernst meint damit, daß er der Erlöser ist. Nach der Lektüre des Interviews von 1995 halte ich es für möglich, daß er es ernst meint.

    Den Widerspruch, auf den Peggy Noonan aufmerksam macht, würde er dann wahrscheinlich gar nicht erkennen können. Ja, er hat alle seine Anstrengungen der eigenen Karriere gewidmet. Aber wenn jemand überzeugt ist, daß er dem Land das Heil bringt, indem er sein eigenes Heil verwirklicht - wie ist das dann überhaupt von der Arbeit für das Land zu trennen?

    Es könnte sein, daß es so ist. Alternativ könnte es sein, daß alles dieses Gerede von Heilen und Erlösung, daß die kollektive Verzückung, in die Obama sein Publikum während des Vorwahlkampfs versetzt hat, nichts als eine Strategie gewesen sind, um gegen die kühl- intellektuelle Hillary Clinton die Primaries zu gewinnen.

    Obama wäre dann zwar ein in der Tat ein politischer Schauspieler, aber wenigstens kein Erretter. Die entschieden sympathischere Alternative.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    24. Oktober 2008

    Zitat des Tages: Das Existenzrecht der DDR

    Die DDR hat das Existenzrecht Israels zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt, wohl aber Israel das der DDR.

    Werner Pirker heute in der kommunistischen "Jungen Welt".

    Kommentar: Keiner. Es gibt Sätze, bei denen mir die Spucke wegbleibt.

    Die man in einem solchen Fall vielleicht brauchen könnte.



    Den Hinweis auf den Artikel von Pirker verdanke ich Mark Haverkamp in "Power of Will". Für Kommentare bitte hier klicken.

    Der 44. Präsident der USA (25): Scheitert Obamas Wahlsieg an verdecktem Rassismus? (Teil 2)

    Im ersten Teil habe ich eine Vermutung zu den US-Wahlen beschrieben, die auch in Deutschland diskutiert wird: Auch wenn Barack Obama in den Umfragen vorn liegt, können doch die Wahlen ganz anders ausgehen.

    Denn es gibt, so wird befürchtet, einen verdeckten Rassismus. In Umfragen geben Befragte nicht zu, daß sie aus rassistischen Vorurteilen Obama ablehnen; aber ihr Wahlverhalten zeigt dies.

    Als Beleg für diese Vermutung wird der "Bradley-Effekt" angeführt. Ein schwarzer Kandidat, der Demokrat Tom Bradley, soll 1982 entgegen den Vorhersagen der Demoskopen wegen eines solchen verdeckten Rassismus die Wahl zum Gouverneur verloren haben.

    In der FAZ hat gestern Stefan Tomik beschrieben, wie es damals tatsächlich in Californien gewesen ist:
    Der schwarze Demokrat Tom Bradley kandidierte 1982 für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien. Eine Umfrage des Meinungsforschers Mervin Field und seines Instituts sah Bradley sieben Prozentpunkte vorn, doch die Wahlparty wurde zu früh gefeiert. Bradley unterlag dem weißen Republikaner George Deukmejian mit nicht einmal hunderttausend Stimmen. (...)

    Andere Beteiligte wundert der Ausgang der Wahl von 1982 weit weniger. Lance Tarrance, damals Meinungsforscher in Deukmejians Wahlkampfteam, verfügte selbst noch über andere Umfrageergebnisse. Demnach war Bradleys Vorsprung in der Woche vor der Wahl stark geschrumpft und betrug nur noch einen Prozentpunkt. Wegen der Fehlertoleranz war es unmöglich, daraus eine Vorhersage abzuleiten.
    Dafür, daß die Wähler in der Kabine anders abstimmten, als die Umfragen vorhergesagt hatten, gibt es, wie Tomik schreibt, darüber hinaus Gründe, die nichts mit Rasse zu tun haben. Field nannte sie selbst in seiner nachträglichen Wahlanalyse:

    Zugleich mit der Wahl wurde über eine Verschärfung der Waffenkontrolle abgestimmt, für die Bradley sich ausgesprochen hatte. Dieses Gesetz wurde mit 63 zu 37 Prozent abgeschmettert, was sich auch auf die Stimmen für Bradley ausgewirkt haben dürfte.

    Die Auseinandersetzung über dieses Gesetz hatte überproportional viele Wähler der Republikaner mobilisiert, was für sich genommen bereits die Diskrepanz zwischen Umfragedaten und Wahlergebnis erklären könnte.

    Trotzdem hatte Bradley am Wahltag sogar eine Mehrheit erhalten. Daß er verlor, lag allein an ungewöhnlich vielen Briefwählern, die in Umfragen nicht adäquat berücksichtigt werden können.

    Und schließlich hatte Fields, wie er in seiner Analyse schrieb, mit einem höheren Anteil nichtweißer Wähler gerechnet. Er war von 20 Prozent augegangen, aber nur 15 Prozent waren es an der Wahlurne. Allein diese Abweichung reichte nach den Berechnungen von Fields aus, um zu erklären, warum Bradley nicht, wie vorhergesagt, gewonnen hatte.

    Das also schrieb der Demoskop Fields. Als einen weiteren möglichen Faktor erwähnte er das, was dann später "Bradley-Effekt" genannt wurde. Der erste, der dies als einen "Effekt" postuliert hat, dürfte 1983 der Professor für Afro- Amerikanische Studien in Berkeley Charles Henry gewesen sein.

    Irgendwelche Belege oder nur Indizien dafür, daß Bradleys Niederlage tatächlich mit verdecktem Rassismus zu tun hatte, gibt es nicht. Der von Tomik erwähnte Lance Tarrance, der selbst bei den californischen Gouverneurswahlen 1982 als Demoskop tätig gewesen war, hat sich vor einer Woche zu der Aufregung über einen angeblichen "Bradley- Effekt" so geäußert:
    Now that polls indicate Senator Barack Obama is the favorite to win, some analysts predict a racially biased "Bradley Effect" could prevent Obama from winning a majority on November 4th. That is a pernicious canard and is unworthy of 21st century political narratives. (...)

    ... to interject this type of speculation into the 2008 presidential election is not only folly, but insulting to the political maturity of our nation's voters. To allow this theory to continue to persist anymore than 25 years is to damage our democracy, no matter who wins.

    Jetzt, wo die Umfragen darauf hindeuten, daß Senator Barack der Favorit für den Sieg ist, sagen manche Analytiker vorher, daß ein rassistischer "Bradley- Effekt" verhindern könnte, daß Obama am 4. November eine Mehrheit erhält. Das ist eine üble Ente und des politischen Diskurses im 21. Jahrhundert nicht würdig. (...)

    ... Spekulation dieser Art in die Wahl des Präsidenten 2008 hineinzutragen, ist nicht nur ein Wahnwitz, sondern eine Beleidigung der politischen Reife der Wähler unserer Nation. Diese Theorie auch über 25 Jahre hinaus immer noch weiterbestehen zu lassen, fügt unserer Demokratie Schaden zu, unabhängig davon, wer gewinnt.



    Warum aber läßt man diese schwachbrüstige alte Ente jetzt wieder herumwatscheln? Mir erscheint eine Erklärung wahrscheinlich, die ich freilich nicht als richtig nachweisen kann:

    Obama sieht sich einem Problem gegenüber, das - anders als das Pseudoproblem "Rassismus" - seinen Sieg wirklich gefährden könnte: Poor voter turnout. Eine schlechte Beteiligung seiner potentiellen Wähler am 4. November, wie man sie häufig sieht, wenn ein Kandidat als Sieger festzustehen scheint.

    Deshalb ist es jetzt ein vorrangiges Ziel des Obama- Teams, die eigenen Wähler zu mobilisieren.

    Weniger als zwei Wochen vor einer Wahl haben sich die meisten Wähler entschieden, wen sie favorisieren. Aber für viele ist noch offen, ob sie wirklich die Mühe auf sich nehmen, auch zur Wahl zu gehen. Das ist bei jeder Wahl so; deshalb ist die letzte Phase jedes Wahlkampfs vor allem der Mobilisierung gewidmet. Wenn jemand so deutlich führt wie jetzt Obama, ist das aber besonders wichtig.

    Der Rassismus-Vorwurf eignet sich in doppelter Weise dazu, Obama- Wähler zu mobilisieren: Erstens erzeugt er den Eindruck, das Rennen könne doch noch knapp werden. Zweitens ist dies ein Thema, das schon für sich genommen die schwarzen und die Latino- Wähler mobilisiert; desgleichen die vielen Weißen, denen Antirassismus am Herzen liegt.

    Und McCain? Dessen Team ist in der Defensive. Und auch für den Underdog kann es nur gut sein, den Eindruck zu befördern, es sei doch noch alles offen. Kein Wunder also, daß auch Konservative wie Jim Garaghty vom "National Review" der Idee freundlich gegenüberstehen, es könne einen Bradley- Effekt geben.

    Beide Kandidaten haben ein Interesse daran, die Wahl als ein Kopf- an- Kopf- Rennen erscheinen zu lassen. Also watschelt sie wieder, eine Ente namens "Bradley".



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    Der 44. Präsident der USA (25): Scheitert Obamas Wahlsieg an verdecktem Rassismus? (Teil 1)

    Seit drei Wochen haben sich in den Umfragen die Daten in ihrer Tendenz nicht mehr verändert. Alles deutet darauf hin, daß Barack Obama der 44. Präsident der USA sein wird. Gut möglich, daß es nicht ein knapper Sieg werden wird, wie ihn Bush zweimal geschafft hat, sondern ein Landslide Victory, ein Erdrutsch- Sieg.

    In den Daily Trackings der großen Institute - täglichen Befragungen, deren Ergebnisse zu gleitenden Mittelwerten zusamengefaßt werden - sieht es im Augenblick so aus:

    Reuters / C-SPAN / Zogby (22. Oktober): Obama 52, McCain 40. Diageo / Hotline (21. Oktober): Obama 47, McCain 42. Daily Kos (21. Oktober): Obama 51, McCain 41. Gallup: (21. Oktober): Obama 52, McCain 44. ABC / Washington Post (18. - 21. Oktober): Obama 54, McCain 43.

    Der Poll of Polls (die Zusammenfassung aller Umfragedaten) von FiveThirtyEight berechnet für Obama 51,8 Prozent, für McCain 46,8 Prozent. Im Wahlmänner- Gremium ergibt das 344 Stimmen für Obama, 194 für McCain. Im Poll of Polls von Pollster ist der Abstand noch größer: Obama 50,5 Prozent, McCain 42,8 Prozent. Die zugehörige Verlaufsgrafik zeigt, wie die Schere sich in den letzten Wochen immer mehr geöffnet hat.

    Alles klar also? Nicht für die Strategen Obamas. Sie zeigen sich in den letzten Wochen ganz im Gegenteil zunehmend besorgt. So besorgt, daß das sogar bis in die deutschen Medien gedrungen ist. Das Zauberwort heißt "Bradley- Effekt".



    Am 9. Oktober schrieb Myriam Chaplain- Riouin in der "Welt" unter der Überschrift "Rassismus - Obamas unsichtbarer Gegner bei der US-Wahl":
    Im Kampf um das Weiße Haus liegt Barack Obama momentan vor seinem Konkurrenten John McCain. Doch wieviel dieser Vorsprung in der Anonymität der Wahlkabine wert ist, wird sich erst am 4. November zeigen. Denn Experten glauben, dass Obamas Hautfarbe den Demokraten Stimmen kosten wird. (...)

    Nur eine kleine Minderheit der US-Bürger würde heutzutage noch offen einräumen, dass die Hautfarbe eines Politikers für sie eine Rolle spielt. Dennoch könnte Obama sein dunkler Teint nach einer aktuellen Umfrage der kalifornischen Stanford Universität bis zu sechs Prozentpunkte kosten – wenn in der Anonymität der Wahlkabine verschwiegene rassistische Vorbehalte zum Tragen kommen. (...)

    In den USA wird dieses Phänomen "Bradley- Effekt" genannt, nach Tom Bradley, dem ehemaligen schwarzen Bürgermeister von Los Angeles. Dieser unterlag 1982 bei den Gouverneurswahlen in Kalifornien, obwohl alle Umfragen ihm einen Sieg prophezeiten.
    Diese Vermutung - Obama liegt in den Umfragen zwar vorn, aber verdeckter Rassismus könnte ihn den Sieg kosten - gibt es in zwei Varianten.

    Die eine sagt, daß unter den Wählern Rassisten sind, die sich nur in den Umfragen nicht als solche zu erkennen geben.

    Die andere Variante geht tiefer, im Wortsinn: Sie behauptet, daß auch Menschen, die der Überzeugung sind, keine Rassisten zu sein, das "im Unterbewußtsein" doch sind.

    Sie geben - so besagt es diese Überlegung - in Umfragen ehrlich an, für Obama stimmen zu wollen. Aber wenn es ernst wird, wenn sie erst einmal in der Wahlkabine sind, dann bringen sie es doch nicht fertig, für einen Schwarzen zu stimmen. Und bemänteln das vor sich selbst mit irgendeinem Grund - weil er zu unerfahren sei, zu weit links; dergleichen. Es gibt sogar einen psychologischen Test, den Implicit Association Test, der diesen "unbewußten Rassismus" angeblich nachweist.



    Das Bemerkenswerte an diesen Überlegungen ist, daß sie ohne jede empirische Basis sind.

    Es gibt schlechterdings keine Daten, die belegen, daß der Verdacht eines verdeckten Rassismus in der einen oder der anderen Version stimmt.

    Im Gegenteil: Analysiert man für die Vorwahlen die jeweils letzten Umfrageergebnisse und die tatsächliche Entscheidung der Wähler, dann unterschätzten die Umfragen Obamas Ergebnis!

    Das hat Nate Silver in FiveThirtyEight gezeigt. Die Differenz lag im Schnitt bei 3,3 Prozent. In den - ja der Annahme nach besonders rassistischen - Südstaaten schnitt Obama sogar um 7,2 Prozentpunkte besser ab, als es die letzten Umfragen vorhergesagt hatten. Es kann also keine Rede davon sein, daß Wähler sich in den Umfragen für Obama ausgesprochen, sich in der Wahlkabine dann aber doch gegen ihn entschieden hätten.

    Wer keine aktuellen Belege hat, der verweist gern auf die Vergangenheit. Und da nun taucht der ominöse Bradley auf. Es wird behauptet, jener Tom Bradley hätte 1982 in Californien in "allen Umfragen" geführt. Dennoch hätten ihn die Californier am Ende nicht gewählt - weil hinreichend viele von ihnen in der Wahlkabine im letzten Augenblick davor zurückschreckten, einen Schwarzen zu wählen.

    Dieser angebliche "Effekt" ist mindestens so fragwürdig wie der Rassimus- Verdacht, den er angeblich belegt. Im zweiten Teil werde ich das im einzelnen zeigen.

    (Fortsetzung folgt)



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    23. Oktober 2008

    Die soziale Kluft in Deutschland wird immer größer - stimmt's? Über Schlagworte und die Wirklichkeit

    Nicht wahr, das haben Sie doch gerade erst gehört und gelesen: "Wachsende soziale Kluft in Deutschland - Reiche werden reicher, Arme bleiben arm". Oder auch: "Tiefe Kluft zwischen Arm und Reich"?

    Das bezieht sich doch sicher auf die Untersuchung der OECD, die in diesen Tagen Schlagzeilen macht?

    Nein. Beides sind Titel von zurückliegenden Meldungen der Tagesschau. Die erste stammt vom 7. November 2007, die zweite vom 19. Mai 2008. Solche Meldungen wiederholen sich so regelmäßig, wie man uns darüber informiert, daß das Weltklima wärmer wird und daß Paris Hilton einen neuen Lover hat.

    Wenn es immer wieder gemeldet wird, dann muß es doch wohl stimmen, daß Deutschland das "Land der Armen" ist, wie die "Frankfurter Rundschau" am Dienstag titelte?

    Sehen wir uns eine andere Version dieser Meldung an, die am gleichen Tag die "Welt" unter der Überschrift "Soziale Kluft öffnete sich in Deutschland rasant" brachte:
    Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich deutlich stärker geöffnet. Die Einkommensunterschiede und der Anteil armer Menschen an der Bevölkerung nahmen in der Bundesrepublik schneller zu als in den meisten anderen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Dies geht aus der OECD-Studie "Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?" hervor.
    Die Hauptergebnisse dieser Untersuchung werden ebenso wie die wichtigsten Ergebnisse zu Deutschland zum Herunterladen angeboten. Auf das, was in diesen beiden PDF- Dateien steht, stütze ich mich im folgenden; sowie auf die hier von der OECD populär zusammengefaßten Ergebnisse.



    Was die allgemeinen Daten angeht, so zeigt sich in der Tat für die meisten Länder in Europa eine Zunahme der Ungleichheit in den Einkommen.

    Diese wird mit dem Gini- Koeffizienten gemessen, der operationalisiert, wie weit die Verteilung der Einkommen von einer Gleichverteilung abweicht. Ein Gini- Koeffizient null bedeutet, daß alle Dasselbe verdienen. Ein Koeffizient eins wäre erreicht, wenn eine einzige Person alles verdiente und alle anderen nichts.

    Ausgedrückt im Gini- Koeffizienten ist die Ungleichheit der Einkommen in den meisten Ländern Europas also gestiegen; allerdings nicht sehr. Der Gini- Koeffizient lag 2005 um sieben bis acht Prozent höher als in der Mitte der achtziger Jahre - er sei "mäßig, aber signifikant" gestiegen, heißt es in dem Bericht. Von - siehe unten - ungefähr 0,29 auf ungefähr 0,31.

    Das lag nur zum Teil daran, daß die Einkommen der Besserverdienenden stärker stiegen als die der unteren Einkommensgruppen. Ein entscheidender Faktor war die Zunahme der Arbeitslosigkeit zwischen der Mitte der achtziger Jahre und 2005. Dies traf vor allem die schlecht Qualifizierten, die dadurch als Gruppe hinter der allgemeinen Entwicklung der Einkommen zurückblieben.

    Weiterhin erhöhte sich die Zahl der Single- Haushalte, deren Einkommen im Schnitt unter dem von Familienhaushalten liegt. (Die Einkommen werden pro Haushalt und nicht pro Person berechnet).

    Und wie sieht es nun in Deutschland aus? Hier sehen Sie die Entwicklung des Gini- Koeffizienten für die gesamte OECD und für Deutschland von der Mitte der achtziger Jahre bis 2005:

    Man sieht: Die Werte für Deutschland liegen durchweg unterhalb des Durchschnitts der OECD. Mit anderen Worten, in Deutschland herrscht eine größere Gleichheit der Einkommen als im OECD- Raum als Bezugswert.

    Zweitens: Bis ungefähr 2000 sind die Koeffizienten sowohl für die gesamte OECD als auch für Deutschland leicht gestiegen, ohne daß sich aber an diesem Abstand etwas geändert hätte. Deutschland lag sogar 2000 etwas weiter unter dem Durchschnitt als Mitte der achtziger Jahre.

    Tatsächlich verringert hat sich aber der Abstand zwischen 2000 und 2005 - also während der Regierungszeit von Rotgrün.

    Das ist kein Wunder, denn in dieser Zeit stieg die Arbeitslosigkeit und stagnierte die Wirtschaft. Als Rotgrün abgewählt wurde, war Deutschland von der Konjunktur- Lokomotive der EU zum Schlußlicht bei vielen ökonomischen Indizes geworden. Wenn der allgemeine Wohlstand sinkt, dann trifft das immer besonders die Geringerverdienenden. Die schlechte Wirtschaftspolitik unter Rotgrün traf, wie auch anders, vor allem die sozial Schwachen.

    Der Bericht der OECD beschreibt diesen Zusammenhang in klaren Worten:
    Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985 – 2000). Die steigende Ungleichheit ist arbeitsmarktinduziert. Einerseits nahm die Spreizung der Löhne und Gehälter seit 1995 drastisch zu – notabene nach einer langen Periode der Stabilität. Andererseits erhöhte sich die Anzahl der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen auf 19% – den höchsten Wert innerhalb der OECD. Ebenso ist der Anstieg der Ungleichheit auf Änderungen in der Haushaltsstruktur zurückzuführen, wie etwa die Zunahme von Single-Haushalten und Alleinerziehenden.
    Und wie hat sich der Gini- Koeffizient entwickelt, seit Rotgrün abgewählt wurde? Dazu heißt es:
    Die vergleichenden Ergebnisse der OECD Studie beziehen sich auf den Zeitraum 1985 – 2005. Neuere nationale Ergebnisse, die auf derselben Datenquelle beruhen (SOEP), zeigen auf, dass sich der Trend zu einer ungleicheren Einkommensverteilung 2006 fortgesetzt hat, 2007 allerdings zu einem vorläufigen Ende gekommen ist.
    Mit der zu erwartenden Verzögerung wirkt sich also der Aufschwung, der mit dem Ende von Rotgrün (und zuvor schon durch die Agenda 2010) eingeleitet wurde, so aus, wie es zu erwarten gewesen war: Arbeitslose kehrten in eine Beschäftigung zurück, und damit stieg ihr Einkommen.



    Bleibt das Thema Armut. Der Anteil der Armen liegt nach der Berechnung der OECD in Deutschland in der Tat hoch - bei 11 Prozent.

    Wie es mit der Aussagekraft dieses Werts steht, erhellt daraus, daß er, nach derselben Methode berechnet, in Ungarn mit 7,1 Prozent weit niedriger als in Deutschland liegt! (Gapminder Graphs anklicken).

    Wie kann es sein, daß es im armen Ungarn prozentual weniger Arme gibt als im reichen Deutschland? Das liegt an der Definition von Armut. Arm ist in der Defintion der OECD jede Familie, deren Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens (Median aller Einkommen) beträgt. Verdienen viele Menschen relativ wenig, dann liegt dieser Durchschnitt niedrig, und es gibt folglich wenige Arme. Geht es allen ungefähr gleich schlecht, dann gibt es nach der Definition der OECD so gut wie keine Armen.

    Ausführlich diskutiert habe ich den Widersinn dieses Index für Armut im Mai dieses Jahres anläßlich des Armutsberichts der Bundesregierung und zuvor schon einmal innerhalb einer kleinen Serie über Armut; dort vor allem in der vierten und der fünften Folge.



    Das sind die Fakten; die wichtigsten jedenfalls. Und die Schlagzeilen dazu lauten "Deutschland - Land der Armen", ""Soziale Kluft öffnete sich in Deutschland rasant".

    Wie nicht anders zu erwarten, hat "Spiegel- Online" wieder einmal den Vogel abgeschossen. Die Fakten, die ich genannt habe, werden dort so interpretiert:
    Die Kluft zwischen Arm und Reich reißt in Deutschland immer weiter auf. Einer neuen OECD-Studie zufolge haben sich Einkommensunterschiede und Armutsquote drastisch verschlimmert - schneller als in den meisten anderen Industrieländern der Welt.
    Berichterstattung? Agitprop.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    22. Oktober 2008

    Zitat des Tages: "SPD und Grüne sind die Bauernverbände der Neu-Akademiker"

    Dahrendorf: In meinem Städtchen im Schwarzwald sehe ich das Problem mit eigenen Augen: Die eine Hälfte arbeitet, und die andere sitzt im Park und trinkt Bier. Und die will ich gerne kriegen. Da liegt heute eines der großen deutschen Bildungsprobleme.

    "Spiegel": Und darum kümmern sich die Politiker heute zu wenig?

    Dahrendorf: Ja. Unter anderem, weil die sogenannten linken Parteien zu Akademikerparteien geworden sind. Gerade die SPD und die Grünen haben viele Mitglieder, die es eben durch die Reformen in den sechziger Jahren geschafft haben zu studieren. Und die sorgen jetzt für sich selber. Das sind die Bauernverbände der Neu- Akademiker.


    Der Soziologe Ralf Dahrendorf im Gespräch mit den Redakteuren des gedruckten "Spiegel" Markus Verbeet und Alfred Weinzierl, zu lesen in "Spiegel- Online".

    Kommentar: Dahrendorf hat, denke ich, den Nagel auf den Kopf getroffen. Die SPD ist nicht mehr die Partei der Arbeiter und der Kleinen Leute; so wenig, wie die Grünen noch die Partei der alternativen Szene sind. Beide sind Parteien des Öffentlichen Dienstes geworden; und in diesem eher derer, die oberhalb der Besoldungsgruppe A9 und von BAT IV eingestuft sind.

    Denselben Wandel hat in Frankreich die Sozialistische Partei durchgemacht, in Österreich die SPÖ.

    Die Folgen sind stets dieselben: Da keine demokratische Partei mehr existiert, die ihren Schwerpunkt bei der Vertretung der Interessen der Unterschicht und unteren Mittelschicht hat, stoßen Extremisten und Populisten in die Lücke. Das ist in Frankreich, wo bei manchen Wahlen die Links- und Rechtsextremisten zusammen ein Viertel der Stimmen bekommen, nicht anders als in Österreich (FPÖ und BZÖ erreichten bei den letzten Wahlen zusammen fast dreißig Prozent).

    In Deutschland liegen die Kommunisten und die NPD zusammen erst bei ungefähr fünfzehn Prozent. Da ist, wenn erst einmal die nächste Rezession da ist, noch Luft nach oben.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    Wie Wladimir Putin aus einer Luftwaffenbasis ein Sanatorium zauberte, und aus dem Sanatorium wieder einen Militärstützpunkt. Ein Lehrstück

    Kennen Sie Gudauta? Nein? Dann lesen Sie hier die Geschichte der seltsamen Verwandlung von Gudauta.

    Gudauta ist eine Stadt in Georgien. Ein Badeort, eine Kleinstadt, nordwestlich der Provinzhauptstadt Sukhumi am Schwarzen Meer gelegen. Die Vignette zeigt das Rathaus im Zentrum Gudautas.

    "Eine Stadt in Georgien" stimmt allerdings nicht ganz. Oder vielmehr: Man kann darüber streiten, ob es stimmt. Gudauto liegt nämlich in Abchasien. Und Abchasien ist zwar eine Provinz Georgiens, aber die dort im Augenblick Herrschenden haben die Unabhängigkeit der Provinz erklärt.

    Mit der internationalen Anerkennung hapert es allerdings noch etwas. Bisher wurde Abchasien nur von Rußland und von Nicaragua als Staat anerkannt. Ob sich das noch sehr ändern wird, ist fraglich; denn die Vermutung liegt nahe, daß die Unabhängigkeit nur ein Schritt auf dem Weg zur Einverleibung Abchasiens in die Russische Föderation ist.



    Womit ich beim Thema bin. Das Interessante an Gudauta ist nämlich nicht seine Qualität als Badeort, sondern der Umstand, daß sich dort eine russische Militärbasis befindet. Das heißt, eigentlich dürfte sich dort gar keine russische Militärbasis befinden.

    Bei Gudauta liegt der Luftwaffen- Stützpunkt Bombora, auf dem zu Sowjet- Zeiten das 345. Luftwaffen- Garderegiment stationiert war. Als Georgien die Unabhängigkeit erlangt hatte, blieb der Stützpunkt zunächst erhalten; aber Georgien wollte keine russischen Truppen im Land haben und drängte auf die Aufgabe aller russischer Militärbasen auf seinem Territorium.

    Es gab ein diplomatisches Hin und Her, und im Jahr 1999 erklärten sich die Russen schließlich auf einer Konferenz der OSZE in Istanbul damit einverstanden, den Stützpunkt zusammen mit anderen Basen auf georgischem Boden aufzugeben.

    So steht es in dem betreffenden Artikel der Wikipedia, und das ist auch das Aktuellste, was man dort findet, nebst dem Schlußsatz: "The Gudauta base remains one of the main problems in complicated Russian- Georgian relations"; die Basis bleibe eines der Hauptprobleme innerhalb der schwierigen Beziehungen zwischen Rußland und Georgien.



    Wieso bleibt Gudauta ein Problem, wo doch die Russen sich vor fast zehn Jahren verpflichtet hatten, ihre Militärbasis zu räumen?

    Tja.

    Was eigentlich in Gudauto nach dem Istanbuler Abkommen los war, wußte niemand so recht. Die Russen jedenfalls zeigten sich mit den Ergebnissen der Konferenz von Istanbul zunehmend unzufrieden und forderten Neuverhandlungen, zu denen schließlich im Juni 2007 eine außerordentliche Konferenz der Unterzeichner des KSE-Vertrags in Wien zusammentrat. Was sich dort abspielte, hat damals Jean-Christophe Peuch detailliert im Informationsdienst Eurasia.Net berichtet.

    Danach erklärten die Russen, sie hätten die Basis Gudauta aufgegeben und betrieben die Anlage jetzt als Sanatorium für Offiziere im Ruhestand.

    Die Nato- Staaten wollten, daß das durch eine Inspektion bestätigt werde. Die Russen reagierten so, wie die sowjetische Diplomatie zu reagieren pflegte: Sie sagten nicht ja, nicht nein. Die Georgier wollten unbedingt mit eigenen Inspektoren beteiligt sein; das wiesen die Russen zurück.

    Der russische Verhandlungsführer, Armeegeneral Wladimir Nikischin, sagte Jean- Christophe Peuch: "We are not against such a mission provided it brings necessary, useful and -- most importantly -- fair results" - die Russen seien nicht gegen eine solche Mission, vorausgesetzt, sie erbringe notwendige, nützliche und vor allem faire Ergebnisse. Man durfte dreimal lachen.

    Es ging in Wien aus wie das Hornberger Schießen. Es wurden keine Inspektionen vereinbart, und man wußte weiter nicht, was denn in dem Sanatorium Gudauta so vor sich ging.

    Gut ein Jahr nach der Wiener Konferenz, im August dieses Jahres, marschierte Rußland in Georgien ein und besetzte Abchasien. Und nun erfahren wir, wie es mit dem Sanatorium weitergegangen ist.

    Gestern nämlich berichtete darüber die georgische Zeitschrift "The Financial" in ihrem Internet- Portal FinChannel.Com:
    Abkhazia to Host Two Russian Bases – Shamba
    According to Civil Georgia, Russia will station troops in Abkhazia at two military bases – in Gudauta and Ochamchire, Sergey Shamba, the breakaway region’s foreign minister, said on October 21. Russian troops will also have outposts in upper Kodori Gorge, he said, according to the Abkhaz official news agency, Apsnipress. Russia will have 3,800 servicemen in Abkhazia, Shamba said. (...) He also said that it was planned, as envisaged in a partnership and cooperation treaty with Russia, to sign an agreement with Russia that would pave the way for Russian assistance in protecting the Abkhaz border with Georgia.

    Schamba: Abchasien wird zwei russische Basen aufnehmen
    Laut Civil Georgia wird Rußland Truppen auf zwei Militärbasen stationieren - in Gudauta und Ochamchire. Das sagte Sergej Schamba, der Außenminister der abtrünnigen Region, am 21. Oktober laut der abchasischen amtlichen Nachrichtenagentur Apsnipress. Die russischen Truppen würden des weiteren Außenposten in oberen Teil der Kodori- Schlucht einrichten. Wie Schamba sagte, wird Rußland 3.800 Mann in Abchasien stationieren. (...) Er sagte ebenfalls, daß es, wie in dem Vertrag für Partnerschaft und Zusammenarbeit vorgesehen, beabsichtigt sei, einen Vertrag mit Rußland zu unterzeichnen, der den Weg dafür ebnen werde, daß Rußland sich daran beteiligt, die abchasische Grenze zu Georgien zu schützen.



    Ich finde diese Geschichte in mehrfacher Hinsicht interessant.

    Erstens zeigt sie, auf welche planmäßige, langfristig angelegte Weise Rußland dabei vorgeht, die alten sowjetischen Machtpositionen wieder einzurichten.

    Zweitens arbeitet die russische Diplomatie exakt so, wie man es aus Sowjetzeiten kennt: Man macht scheinbar Zugeständnisse, die dann nicht eingehalten werden. Es werden vage Versprechungen formuliert. Solange man schwach ist, zeigt man sich konziliant, und sobald man in einer Position der Stärke ist, ist es vorbei mit dem Entgegenkommen. Auch dumme Lügen wie die vom Sanatorium werden nicht verschmäht.

    Abchasien dürfte für die Russen mindestens so wichtig, wahrscheinlich wichtiger sein als Südossetien. Man hat das Tamtam in Südossetien veranstaltet und sich hinter diesem Sperrfeuer ohne großen Widerstand des Westens Abchasien unter den Nagel gerissen.

    Drittens ist die Geschichte des Stützpunkts Gudauta bezeichnend für das Verhalten der europäischen Gegenspieler Rußlands. Die das eben nicht sind. Die sich hinhalten, die sich einwickeln lassen und dann die vollendeten Tatsachen, die die Russen schaffen, mehr oder weniger achselzuckend hinnehmen.

    Und das ist vielleicht der Hauptunterschied zur Zeit des Kalten Kriegs. Damals hatten die Russen es mit einem entschlossenen Westen zu tun. Heute gibt es bei uns nicht wenige, die wohlwollend zusehen, wie die Russen ihre "berechtigten Interessen" verfolgen.



    Für Kommentare bitte hier klicken.

    21. Oktober 2008

    Zitat des Tages: "Die ICE-Linie verkehrt in ausgewählten Zeitlagen". Nebst Erinnerungen an eine Warteschlange, in der ich den Sozialismus begriff

    Programm für Dienstag, 21.10.2008 und Mittwoch, 22.10.2008

    * Die ICE 3-Linie 41 "Dortmund - Köln - Frankfurt Hbf - Würzburg - Nürnberg - München" verkehrt zwischen Dortmund und Frankfurt Hbf. Die ICE-Züge fallen zwischen Frankfurt Hbf und München Hbf aus. Es verkehren Ersatzzüge zwischen Frankfurt Hbf und München, um die Reiseketten sicher zu stellen.

    * Die ICE 3-Linie 42 'Dortmund - Köln - Frankfurt Flughafen - Mannheim - Stuttgart - München' verkehrt grundsätzlich nur zwischen Köln und Stuttgart; dies jedoch entsprechend der normalen Zugbildung in doppelter Besetzung.

    In den Tagesrandlagen verkehren vereinzelt Züge bis München und Dortmund durchgehend. Darüber hinaus verkehren zwischen Köln und Dortmund/Münster/Hamburg Ersatzzüge. (...)

    * Die ICE 3-Linie 49 "Köln - Frankfurt Hbf" verkehrt in ausgewählten Zeitlagen. Die ICE-Züge 813 und 815 werden zwischen Montabaur bzw. Limburg Süd und Frankfurt Flughafen durch Busse ersetzt.


    Aus dem Webangebot "Planen und Buchen" der Deutschen Bahn.

    Kommentar: Gegen ein technisches Problem, wie es jetzt die Deutsche Bahn hat, ist kein Unternehmen gefeit. Das kann auch einer Fluggesellschaft passieren.

    Nur kann man, wenn eine Fluggesellschaft ein solches Problem hat, mit einer anderen Gesellschaft fliegen. Die Deutsche Bahn ist, von Regionalbahnen abgesehen, hingegen nach wie vor Monopolist und faktisch ein Staats- Unternehmen. Wenn sie, wie jetzt, ein Problem hat, dann gibt es kein Ausweichen, kein Umsteigen auf einen anderen Anbieter.

    Warum kann man nicht endlich die Deutsche Bahn zerschlagen und mehrere Bahngesellschaften miteinander konkurrieren lassen? Der Staat sollte das Schienennetz stellen, so wie er auch das Straßennetz stellt. Aber es gibt keinen vernünftigen Grund, warum auf diesem Netz nicht private Anbieter konkurrieren könnten, so wie das in anderen Bereichen des Verkehrs ja auch funktioniert.



    Monopolist zu sein lädt zur Unfreundlichkeit gegenüber dem Kunden ein. Wenn der Monopolist der Staat ist, dann wird daraus Unverschämtheit. Schon im Stil der zitierten Verlautbarungen zeigt sich die Arroganz, die nur ein staatliches Unternehmen sich leisten kann.

    "Es verkehren Ersatzzüge zwischen Frankfurt Hbf und München, um die Reiseketten sicher zu stellen". Die Ketten, mit denen man die Reisenden fesselt? Das würde passen. Oder ist vielleicht gemeint: "Es verkehren Ersatzzüge, damit die Reisenden fahren können"? Ja, danke für die Auskunft, darauf wären wir nicht gekommen.

    "Die ICE 3-Linie 42 "Dortmund - Köln - Frankfurt Flughafen - Mannheim - Stuttgart - München" verkehrt grundsätzlich nur zwischen Köln und Stuttgart"

    Grundsätzlich? Aufgrund einer Maxime der Deutschen Bahn? Oder ist à la Radio Eriwan gemeint "Grundsätzlich kein Zug, aber wer weiß, vielleicht machen wir Ausnahmen"?

    "... dies jedoch entsprechend der normalen Zugbildung in doppelter Besetzung". Über diesen Satz können wir Reisenden in Ruhe nachdenken, während wir auf dem Bahnsteig stehen und frieren. "Doppelte Besetzung" - das heißt vermutlich, daß in jeden Wagen doppelt soviele Reisende gepfercht werden, als eigentlich hineinpassen? Oder sind doppelt so viele Schaffner unterwegs wie üblich, damit sich der Unmut der Reisenden auf mehr Adressaten verteilt?

    "In den Tagesrandlagen verkehren vereinzelt Züge bis München und Dortmund durchgehend. Darüber hinaus verkehren zwischen Köln und Dortmund / Münster / Hamburg Ersatzzüge." In den Tagesrandlagen, nun gut, das verstehen wir. Das sagt ein Beamter, wenn er "morgens und abends" meint. Aber was soll das "darüber hinaus"? Abends ist es dunkel, und darüber hinaus gibt es Bratkartoffeln mit Spiegelei?

    "Die ICE 3-Linie 49 "Köln - Frankfurt Hbf" verkehrt in ausgewählten Zeitlagen". Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Nicht "manchmal" fahren diese Züge, oder "teilweise". Nein, "in ausgewählten Zeitlagen". Da dürfen wir doch stolz sein, wir Reisenden, wenn wir das Glück haben, daß gerade wir zu den Privilegierten gehören, für die eine Zeitlage ausgewählt wurde.



    Genug. Die Bahn hat ein technisches Problem. Ein Problem, das voraussehbar war, seit Monaten. Vor genau einem Vierteljahr, am 19. Juli, berichtete "Spiegel- Online" über die Warnungen von Prof. Vatroslav Grubisic, Spezialist für betriebssichere Bemessung von Fahrzeugbauteilen am Fraunhofer-Institut in Darmstadt. Ein Fachmann für genau dieses Problem; er hat den Spitznamen "Räder-Papst". Grubisic sagte damals, er halte es für "fraglich, ob diese Wellen eigentlich die Dauerfestigkeitskriterien nach Normen erfüllen."

    Seit einem Vierteljahr hätte die Bahn die betroffenen Wagen sukzessiv überprüfen können. Aber man wartete, bis das Problem nicht mehr zu leugnen war (ein Bahnsprecher damals: Es gebe "keine Befunde für Rissbildungen"). Und jetzt muß es holterdipolter gehen, natürlich auf Kosten der Reisenden.

    Man hätte bei einem vernünftigen, geplanten Vorgehen die Einschränkungen in Grenzen halten und vor allem sie rechtzeitig und präzise den Reisenden mitteilen können. Die vagen Angaben in der zitierten Mitteilung ("ggf. fehlen bei einzelnen Zügen die Wagen 31 - 38 zwischen Dortmund und Passau" heißt es in einem hier nicht zitierten Teil der Meldung) sind schlicht eine Unverschämtheit.

    So, als sei eine Naturkatastrophe über die Deutsche Bahn hereingebrochen. So, als hätte man keine Zeit gehabt, genaue und vollständige Ersatz- Fahrpläne aufzustellen und sie rechtzeitig zu publizieren. Aber was soll's? Die Kunden können ja nicht zur Konkurrenz gehen.



    Vor Jahrzehnten, als viele vom Sozialismus träumten, stand ich einmal in einer Warteschlange vor einem Bahnhofs- Schalter, und in der Dösigkeit dieser Siutation schoß es mir durch den Kopf: Im Sozialismus wird es überall - in der Industrie, im Handel - so zugehen wie jetzt bei der Deutschen Bundesbahn.

    Das hat mich fortan gegen alle sozialistischen Träume gefeit.



    Für Kommentare bitte hier klicken.