30. November 2006

Zettels Meckerecke: Hilfssheriffs

Der "Mannesmann-Prozeß" ist zu Ende. Er ist so zu Ende gegangen, wie es gelegentlich im Western passiert: Bevor der Bösewicht zum Galgen geführt werden konnte, kommt jemand angeritten, sprengt die Tür zum Gefängnis, hievt den Bösen auf sein Pferd, und beide suchen das Weite.

Die Bewohner von Tombstone oder Carson City fühlen sich dann um ihr Schauspiel betrogen. Sie wollten den Bösen hängen sehen, und nun wurde ihnen dieses Vergnügen genommen. Also lassen sie sich als Hilfssheriffs vereidigen, schwingen sich zu Pferde und machen sich auf, Gerechtigkeit zu üben.



Eine solche handgreifliche Form der Bürgerbeteiligung ist im Fall Ackermann nun freilich nicht zu befürchten. Aber der Wunsch danach dürfte in mancher deutschen Brust kochen; und vor sozusagen virtuellen Hilfssheriffs wimmelt es nur so.

Statt sich unter einem Schuldspruch zu beugen, macht sich der Bösewicht Ackermann vom Acker, indem er in die Westentasche greift und einen lächerlichen Betrag von ein paar Millionen Euro löhnt. Und wir, die auf das Schauspiel seiner Verurteilung wartenden Bürger, haben das Nachsehen. "Schluß, aus, vorbei", wie der Stern titelt.



Wenn der Volkszorn kocht, dann brodeln die Äußerungen unserer Politiker mit. Spiegel Online konstatiert einen "allgemeinen Aufschrei" und nennt die Begründung der Entscheidung "hanebüchen". Dort wird Renate Künast zitiert: "Die Bürger müssten den Eindruck gewinnen, dass die Summe nur hoch genug sein müsse, damit Manager vor ihrer Strafe davon kommen könnten." Und der Vorsitzende der Landesgruppe der CSU im Bundestag, Ramsauer, fand, laut Spiegel-Online, diese Worte: "Wie eine solche Freikaufaktion auf das gesunde Rechtsempfinden der Menschen im Lande wirkt, so wirkt sie auch auf mich." Laut Tagesspiegel sagte des weiteren Oskar Lafontaine: "Es entsteht der Eindruck, wenn du viel Geld hast, kannst du dich von Strafen freikaufen."

Einige von denjenigen, die sich so geäußert haben - besonders prononciert der Grüne Fritz Kuhn gestern abend bei Frank Plaßberg - sind Juristen, andere nicht. Aber kaum einer scheint überhaupt an den juristischen Gesichtspunkten interessiert zu sein, die zur Einstellung des Verfahrens gegen die Zahlung von Geldauflagen geführt haben.

Soweit das bekannt wurde, wäre es ein Prozeß mit höchst ungewissem Ausgang geworden, der über lange Zeit hätte andauern können. Für Ackermann wäre (die Welt hat es vorgerechnet) gemäß den Paragraphen 40 und 54 des StGB maximal 3,6 Millionen Euro Geldstrafe herausgekommen - maximal, wohlgemerkt; im Fall eines Schuldspruchs. Jetzt zahlt er unwesentlich weniger, 3,2 Millionen.

Die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung und das Gericht haben sich auf das verständigt, was bei dieser Sachlage vernünftig war und was der Paragraph 153a der Strafprozessordnung vorsieht: Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung von Geldauflagen.



Nun hört man - zuletzt habe ich es gestern in den "Tagesthemen" so vernommen - immer wieder die Argumentation, diese Möglichkeit der Einstellung sei für kleinere Delikte gedacht gewesen. Und oft im selben Atemzug wird behauptet, daß nur Millionäre sich auf diese Art "freikaufen" könnten. Ja, watt denn nu? sagt der Berliner in solch einem Fall.

Es wird irrational argumentiert, was das Zeug hält. Wenn irrational argumentiert wird, dann liegt der Verdacht nahe, daß es in den Tiefen der Volksseele rumort.

Andreas Platthaus hat in einem lesenswertigen Beitrag in der FAZ die psychologischen Gründe dafür analysiert, daß Ackermann zum Buhmann wurde; zum Bösewicht eben, wie er im Western auf seine Hinrichtung wartet. Nicht nur seine unverschämt hohen Bezüge, nicht nur sein Erfolg, seine Härte beim Rationalisieren - sondern jenes V-Zeichen sei es, das man ihm angekreidet habe:
Denn was Ackermann endgültig in die Rolle des Buhmanns der Nation brachte, war das Foto mit dem Victoryzeichen vor dem ersten Verhandlungstag. (...) Es ist (...) viel weniger der Neid auf Ackermanns jährliche Millioneneinkünfte (...); es ist das medial befeuerte Gefühl, daß dort einer ohne Rücksicht die Welt verändern wolle. Daß er sich von allem gelöst habe, was als Wert gemeinhin anerkannt wird.
So einen wollen wir hängen sehen.



Mag sein, daß viele Menschen nicht fähig sind, von ihrem Neid, von ihrer Ablehnung des Fremden, des Kühlen, des Globalisierers zu abstrahieren und den Fall sachlich zu sehen. Das ist halt das "gesunde Volksempfinden". Das dumpfe Bauchgefühl, das es uns allen gelegentlich schwer macht, unseren Verstand zu gebrauchen.

Aber sollten Politiker nicht eigentlich einem solchen Brodeln des "gesunden Volksempfindens" entgegentreten, statt ihm nach dem Mund zu reden? Brüsten viele sich nicht oft genug damit, den "Anfängen zu wehren", wenn es um dumpfen Nationalismus, um dumpfe Fremdenfeindlichkeit geht? Erheben sie sich nicht ständig über "die Stammtische"?

Ja, das tun sie. Jedenfalls meist. Offenbar nur dann nicht mehr, wenn es um dumpfen Neid auf die Reichen geht, auf die Erfolgreichen, die Globalisierer. Dann scheint auf einmal der Aufklärungsbedarf wie weggepustet zu sein. Dann schwadronieren Politiker, linke wie rechte, herum, als säßen sie im Bierdunst der Dorfkneipe.

Sie reiten, die Hilfssheriffs. Und kein Marshall ruft sie zur Räson.

29. November 2006

Anmerkungen zur Sprache (2): Die neue Lingua Franca

Gestern am späten Nachmittag übertrug der Sender Phoenix den Besuch des Papstes beim diplomatischen Corps in Ankara. Die Begrüßungsworte sprachen ein katholischer Würdenträger und der Doyen des diplomatischen Corps, der Botschafter des Libanon. In welcher Sprache redeten sie? Natürlich sprachen sie Englisch.

Der Papst sprach dann teils Englisch, teils Französisch. Er wechselte mehrfach zwischen diesen Sprachen. Nach welchen Gesichtspunkten, habe ich nicht verstanden, denn der Papst war ohnehin schlecht zu verstehen. Ärgerlicherweise brabbelte nämlich ein Übersetzer darüber, so daß die Worte des Papsts weitgehend akustisch maskiert wurden.

So, wie es leider in einem Land die Regel ist, in dem die Medien offenbar unterstellen, daß ihre Zuschauer und Zuhörer sozusagen akustisch illiterat sind, sobald ein Text nicht auf Deutsch gesprochen wird.



Es gehört zu den Merkmalen aller Hochkulturen, daß sie sich eine gemeinsame Sprache schaffen, eine Lingua Franca. Es war folglich immer das Merkmal der Zivilisierten, mindestens zweisprachig zu sein.

In der Antike war das Griechische die Sprache der Wissenschaften und der Philosophie. Dies blieb es auch noch, als Griechenland politisch abgestiegen war und Rom die zivilisierte Welt dominierte. Damals wurde Latein die Lingua Franca außerhalb des Kulturlebens. Aber noch der Jude Paulus schrieb, bereits auf einem Höhepunkt der Macht des Römischen Reichs, nicht Latein, sondern Griechisch.

Aus dem Lateinischen gingen viele europäische Sprachen hervor, und viele andere - das Englische zum Beispiel, das Deutsche - wurden stark vom Latein beeinflußt. Zugleich blieb es aber die Sprache der Wissenschaft, auch zum Teil die Sprache von Urkunden, von Verträgen.

Es war ein ungeheurer Vorteil für das mittelalterliche Europa, daß es diese gemeinsame Sprache, diese Lingua Franca, hatte. Es gab dadurch einen geistigen Austausch, der keine Grenzen der Länder, der Nationen kannte.



Bei vielen der Gelehrten des Mittelalters ist es belanglos - und wird oft auch gar nicht beachtet -, welcher Nationalität sie eigentlich waren. Thomas von Aquin war Italiener, aus der Gegend von Neapel gebürtig, lehrte aber in Paris. Sein Lehrer Albertus Magnus war Deutscher - Bayer -, studierte aber in Padua und Bologna. Er lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten und dann in Paris. Duns Scotus war, wie sein Name sagt, geborener Schotte. Er studierte und lehrte in Oxford, in Paris, später in Köln.

Und so fort. Ein bedeutender Gelehrter des Mittelalters, der sich als "Deutscher", als "Franzose" oder als "Schotte" verstanden hätte und der gar darauf beharrt hätte, in seiner Nationalsprache zu lehren und zu schreiben, war undenkbar.



Als Sprache der Wissenschaft blieb das Latein bis ins achtzehnte, teilweise bis ins neunzehnte Jahrhundert dominant. Noch der große Physiologe E.H. Weber publizierte seine bahnbrechende Arbeit über den Tastsinn zunächst unter dem Titel "De tactu". Das war 1834! Und noch Schopenhauer schrieb teilweise Lateinisch und bewarb sich auf Latein an der Berliner Universität.

Aber das war damals, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, schon zu Seltenheit geworden. Bereits Descartes hatte seine Schriften zwar noch zum Teil auf Latein, zum Teil aber schon auf Französisch verfaßt; wie den berühmten "Discours de la méthode", die Abhandlung über die Methode.

Etwa zu seiner Zeit - also in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts - begann eine Epoche, in der das Französische das Latein weitgehend als Lingua Franca ablöste. Spinoza schrieb noch Latein, Leibniz aber schon überwiegend Französisch. Im achtzehnten Jahrhundert dann war Französisch die Sprache der Gebildeten. Friedrich II von Preußen beherrschte sie perfekt; die Feinheiten hatte er sich von Voltaire lehren lassen. In Fontanes wunderbarem Roman "Vor dem Sturm" kann man lesen, wie die Gebildeten in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts noch Französisch parlierten; in Rußland tat man es bis zur Oktoberrevolution.

Davon ist das Französische als "Sprache der Diplomatie" geblieben, wie es der Papst gestern erwähnte, als er auf Englisch begründete, warum er jetzt ins Französische wechseln würde. Aber selbst Diplomaten verständigen sich heute überwiegend auf Englisch; auch wenn sie noch einen Doyen haben und als Attachés ein Aide-Mémoire ausarbeiten.



Also, der Papst war, als er in Ankara passagenweise Französisch sprach, mal wieder ein Konservativer. Die Zeit des Französischen ist jedoch vorbei. Die heutige Lingua Franca ist natürlich das Englische. Oder genauer gesagt: English with a foreign accent.

Kürzlich wurde ich vor der Universität von zwei Iranern auf eine Spende angesprochen, die sich als exilierte Professoren ausgaben. Natürlich auf Englisch. Sie sahen in mir einen Universitätsmenschen; also setzten sie voraus, daß ich Englisch konnte. Zu Recht natürlich. Wer in einer Wissenschaft arbeitet, der liest und schreibt Englisch. Das ist so selbstverständlich, wie ein Physiker die Mathematik beherrschen muß und ein Musiker die Notenschrift.

Aber längst ist ja das Englische nicht mehr nur die Lingua Franca der Wissenschaft. Sondern es ist die Lingua Franca der Globalisierung.

Junge Leute, die als Rucksacktouristen unterwegs sind, verständigen sich ebenso selbstverständlich auf Englisch wie Geschäftsleute, die Waren ex- und importieren oder die in multinationalen Unternehmen tätig sind. Jeder Künstler, der etwas taugt, spricht auf Vernissagen, bei der Vorstellung eines Films, bei Konzertproben Englisch mit den Mitarbeitern, mit den Gästen. Auf internationalen Konferenzen gebietet es zwar oft der Nationalstolz, Reden in der eigenen Sprache zu halten; aber wenn man sich informell trifft, dann wird natürlich auf Englisch diskutiert.



In den kleineren Ländern Europas ist diese Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden. Ob man in Schweden unterwegs ist oder in Lettland, ob in Holland oder Dänemark - man wird kaum jemanden treffen, mit dem man sich nicht auf Englisch verständigen kann.

Als ich einmal in Holland gearbeitet habe, sind meine Versuche, das Niederländische zu lernen, dadurch untergraben worden, daß ich überall mit Englisch durchkam, ja daß man es mir aufdrängte. Vom Hausmeister des Instituts, in dem ich arbeitete, bis zum Taxifahrer und zur Kellnerin antworteten mir alle sofort auf Englisch, wenn ich Niederländisch zu radebrechen anhub.

Nur in den "großen Nationen", allen voran Frankreich und Deutschland, klappt es noch nicht mit der Einführung der Lingua Franca. In beiden sehen viele den Vormarsch des Englischen als eine Attacke auf die eigene Sprache, ja die eigene Kultur.

Quelle sottise! Denn wer eine zweite Sprache beherrscht, der hat natürlich viel mehr Verständnis für die eigene Sprache als diejenigen, die das nicht tun. Es sind ja gerade die Ungebildeten, diejenigen, die des Englischen nicht mächtig sind, die auf das dumme, manchmal absurde Denglisch der Werbung, der Medien hereinfallen. Man beutet aus, daß sie kein Englisch können; jedenfalls nicht hinreichend Englisch können.

Dazu ein paar Überlegungen im dritten Teil.



© Zettel. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

28. November 2006

Zettels Meckerecke: Spiegel Online nimmt ernst

Amerikanische Kolumnisten lieben das, was man als ein counterfactual Argument bezeichnet - ein Argument, das einen Gesichtspunkt auf die Spitze treibt, ihn durch irgendeine absurde hypothetische Konsequenz illustriert. Durch etwas, was nichts mit der Realität zu tun hat, was aber ein Schlaglicht auf die Realität werfen soll.

Dieses Stilmittels hat sich in der Los Angeles Times der Kolumnist Jonathan Chait bedient, als er in seiner Kolumne vom 26. November die Lage im Irak, so wie er sie sieht, diskutierte. Um deutlich zu machen, wie ernst diese Lage sei, spielt Chait die kontrafaktische Idee durch, einfach Saddam Hussein zurück an die Macht zu bringen. Schlimmer als jetzt, so sagt er, könne es dann auch nicht werden. Und malt genüßlich auch noch die "Vorteile" aus, die das hätte.

Bittere Satire, schwarzer Humor. Fast jeder, der den Artikel liest, merkt das von den ersten Sätzen an.

Fast. Da aber auch die Los Angeles Times dumme Leser hat, macht Chait am Ende noch einmal deutlich, daß er natürlich nicht ernsthaft fordert, Saddam Hussein wieder als Präsidenten des Irak einzusetzen:
I know why restoring a brutal tyrant to power is a bad idea. Somebody explain to me why it's worse than all the others.

Ich weiß, warum es eine schlechte Idee ist, einen brutalen Tyrannen zurück an die Macht zu bringen. Aber dann soll mir mal jemand erklären, warum sie schlimmer ist als alle die anderen Ideen.



Solche kontrafaktischen Argumentationen mögen amerikanische Leser, und sie verstehen sie natürlich so, wie sie gemeint sind - als witzig-brutaler Denkanstoß. Art Buchwald ist ein Meister dieses Stils. Und wer's gar nicht versteht, der wird manchmal zur Sicherheit mit der Nase darauf gestoßen, wie es Chait mit diesen Schlußsätzen getan hat.

Nur mit Spiegel-Online, mit SPON, hatte Chait offensichtlich nicht gerechnet.

Dort erschien noch am selben Tag eine Meldung über Chaits Kolumne. Unter der Überschrift: Irak-Krieg: "Saddam, come back!" heißt es dort:
Die Irak-Debatte in den USA wird immer verzweifelter. (...) Jetzt fordert ein prominenter Kommentator die Rückkehr Saddam Husseins an die Macht - Totalitarismus sei besser als Chaos. (...) Die Rückkehr Husseins, "ein Mann, den alle Iraker kennen und fürchten", wäre genau das Richtige, fantasiert Chait weiter. (...) Chaits Kommentar zeigt, wie schnell enttäuschter Idealismus in einen vermeintlich realistischen Zynismus umschlagen kann.
Was die SPON-Meldung zeigt, da ist, wie schnell eine schlechte Redaktion eine Ente produzieren kann. Eine Ente produzieren kann, indem sie ein solches kontrafaktisches Argument als ernsthafte "Forderung" verkauft.



Freilich ist es hier eine doch schon arg, sagen wir abgehangenes Exemplar von Ente. Die USA-Berichterstattung von SPON ist ja reich an solchem Federvieh. Und wenn es noch dazu um Präsident Bush und/oder um den Irak-Krieg geht, dann riecht sie besonders streng, die Ente.

Als ich kürzlich hier ein anderes Exemplar aufgespießt habe, da kommentierte das in "Zettels kleinem Zimmer" ein Diskutant, Mach, so: "SPON hat nichts mit objektivem (falls der wirklich möglich wäre) Journalismus zu tun (...). Was machst du dir die Mühe, SPON-Artikel zu kommentieren (...)?"

Berechtigte Frage. Ich habe Mach geantwortet, daß das ja nicht nur eine Mühe ist, sondern auch Spaß macht.

Den Spaß, den es - mir jedenfalls - macht, hier und da ein wenig aufzuklären. Auch wenn dieser Blog nur von ein paar hundert Menschen gelesen wird und SPON von - ich weiß es nicht - Hunderttausenden, vielleicht Millionen. Worauf mich Mach sehr berechtigterweise hingewiesen hat.



PS: Im aktuellen gedruckten "Spiegel" wird in der Rubrik "Rückspiegel" ein Branchendienst namens "Insight" mit lobenden Worten über SPON zitiert. SPON würde in einer neuen Publikation "neben hohem Prestige unter Journalisten auch die Rolle eines Agenda Setters" zugewiesen.

Ein Agenda Setter ist keine Hunderasse, sondern ein themenbestimmendes Medium.

Mag sein, daß ein Teil der Medien SPON hinterherdackelt. Kein freundliches Urteil über diese Medien.

26. November 2006

Randbemerkung: Mischas Begräbnis

Kleine symbolische Gesten verraten oft mehr über politische Verhältnisse als laute Reden.

Gestern wurde Markus Wolf zu Grabe getragen. Unter den 1500 Trauergästen waren, selbstverständlich, die alten Tschekisten der Stasi; selbstverständlich auch die heutige Führung der deutschen Kommunisten, allen voran der PDS-Vorsitzende Bisky und deren Ehrenvorsitzender Modrow. Kurz, es trafen sich an Wolfs Grab die Überlebenden der DDR-Nomenklatura.

Aber nicht nur deren Vertreter waren unter den prominenten Trauernden, sondern auch ein Ausländer: Kein Geringerer als der Botschafter der Russischen Föderation in Berlin, Wladimir V. Kotenew.



Er war nicht nur einer der Trauergäste, sondern er spielte eine hervorgehobene Rolle auf diesem Begräbnis. Die Junge Welt kündigte es vorgestern so an:
Die Trauerfeier findet um 11 Uhr auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde statt. Redner sind der Botschafter Rußlands, Wladimir Kotenew, der Regisseur Manfred Wekwerth und die Schauspielerin Renate Richter.
Und Fokus Online berichtete am gleichen Tag:
Vladimir Kotenev, der Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, wird am Samstag bei der Beisetzung von Markus Wolf die Trauerrede halten. Das bestätigte sein Sprecher gegenüber FOCUS Online. (...) Botschafter Vladimir Kotenev werde Markus Wolf in seiner Trauerrede als einen Freund und Kenner Russlands charakterisieren, so sein Sprecher. Außerdem wolle er ihn als einen Mann würdigen, der an seine Ideale glaubte und für den Freundschaft kein leerer Begriff gewesen sei.
In der gestrigen Berichterstattung von dem Begräbnis wurde Kotenews Rolle allerdings überwiegend weniger in den Vordergrund gestellt. In der dpa-Meldung von Jutta Schütz, wie man sie zum Beispiel bei N.24 lesen kann, steht dazu ein einziger Satz im letzten Teil der Meldung:
Botschafter Kotenev sagte, an "Mischa" Wolf erinnerten sich in seinem Land viele Menschen. Wort und Tat seien bei Wolf nicht auseinander gegangen.



Mir scheint, damit wird der Brisanz des Vorgangs nicht Rechnung getragen.

Markus Wolf war jemand, der jahrzehntelang als überzeugter Kommunist aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gekämpft hat. Seine Tätigkeit als Chef der Auslandsaufklärung der DDR war zwar, wie höchstrichterlich klargestellt wurde, als solche nicht justiziabel. Aber wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung wurde er 1997 rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren sowie einer Geldstrafe verurteilt.

Daß der Botschafter einer auswärtigen Macht auf einem Begräbnis die Trauerrede hält, ist für sich genommen schon ein seltenes Ereignis. Es ist, selbstverständlich, nicht dessen persönliche Geste, sondern ein diplomatischer Akt von hoher Aussagekraft. Wenn ein Land seinem Botschafter einen solchen Auftrag erteilt, dann will es damit ein politisches Signal setzen. Wenn das aber noch dazu beim Begräbnis eines Mannes geschieht, der jahrzehntelang an vorderster Front gegen das Gastland dieses Botschafters gearbeitet hat, dann hat es diplomatische Brisanz. Es ist ein Affront.



Darüber, was Putins Rußland mit dieser ostentativen Würdigung eines hochrangigen deutschen Kommunisten - noch dazu eines wegen Straftaten verurteilten - signalisieren wollte, kann man nur Vermutungen anstellen. Hier ist eine:

Wolf war seit 1936 sowjetischer Staatsbürger gewesen. Er hatte exzellente Beziehungen zur sowjetischen Nomenklatura, wie sich auch bei seiner Flucht 1989 in die UdSSR zeigte. Nein, das ist eigentlich zu wenig gesagt. Er gehörte zu dieser sowjetischen Funktionärselite.

Diese Nomenklatura ist - hier im Westen viel zu wenig beachtet - dabei, auch im postkommunistischen Rußland wieder die Fäden der Macht in die Hand zu bekommen. Wie der "Spiegel" in seiner Putin-Titelgeschichte vom 10. Juli dieses Jahres berichtet, stammen die russischen Regierungsbürokraten inzwischen zu 77 Prozent aus Geheimdienst und Militär. Die beiden Autoren des Artikels, Walter Mayr und Christian Neef, sprechen von einer "marxistisch-leninistisch vorgebildeten Putin-Kamarilla".

Die Sowjethymne wurde unter Putin wieder die russische Nationalhymne. In den Streitkräften wurde wieder die Rote Fahne eingeführt. Kleine symbolische Gesten. Wie die Trauerrede des russischen Botschafters am Grab des Kommunisten Wolf.

Der Sowjetbürger Mischa war einer der Ihren gewesen, einer von denjenigen, aus denen sich die Kamarilla Putins rekrutiert. Und so ehren sie ihn als einen der Ihren. Sie signalisieren damit, daß sie sich dazu wieder stark genug fühlen. Auch und gerade gegenüber dem demokratischen Deutschland.

Seltsam, daß dieses Signal in Deutschland so unbeachtet bleibt. Die Regierung tut vielleicht aus diplomatischen Erwägungen gut daran, die Sache nicht hochzuspielen. Aber wo ist die Oppositionspartei, wo sind die Publizisten, die sich zu Wort melden und auf diese, milde gesagt, unfreundliche Geste Rußlands gegenüber Deutschland aufmerksam machen?

25. November 2006

Randbemerkung: Gemayel, Litwinenko - um die Ecke gebracht, um die Ecke gedacht. Aber wie oft?

Als vor wenigen Tagen im Libanon Pierre Gemayel ermordet wurde, fiel der Verdacht sofort auf Syrien. Aha, argumentierte daraufhin zum Beispiel ein Kolumnist des Guardian, Jonathan Cook, dann war es Syrien natürlich gerade nicht. Sondern es war jemand, der wollte, daß der Verdacht auf Syrien fallen würde. Israel, vermutet Cook.

Als jetzt der ehemalige KGB-Mann Alexander Litwinenko, der sich zum Gegner des russischen Regimes gemausert hatte, ermordet (offenbar auf eine ungewöhnliche heimtückische Art mit der radioaktiven Substanz Polonium-210 vergiftet) wurde, da fiel der Verdacht sofort auf den russischen Geheimdienst. Aha, argumentierten daraufhin zum Beispiel russische Kreise, laut FAZ, dann war es offensichtlich nicht Rußland. Sondern es war jemand, der den Verdacht auf Rußland lenken wollte. "In Rußland interpretieren kremltreue Politiker den Mord – wie schon im Fall Politkowskaja – denn als Versuch, dem Image Putins zu schaden: eine ins Gegenteil gewendete Verschwörungstheorie", schreibt die FAZ.

Das Argument ist in beiden Fällen identisch: Wenn der Verdacht so offensichtlich auf Syrien, auf Rußland fällt, können die es nicht gewesen sein. Also - jeder Denkende muß sich sagen, Syrien war es nicht im Fall Gemayel, Rußland war es nicht im Fall Litwinenko. Vielmehr wurden die Morde von Leuten begangen, die den Verdacht auf die Geheimdienste dieser Staaten lenken wollten.



Now, wait a moment. Ein Verbrechen ist auf eine solche Weise verübt worden, daß jeder Denkende sich sagt, das waren nicht die Syrer, das waren nicht die Russen. Ja, kann es denn ein perfekteres Verbrechen des syrischen, des russischen Geheimdienstes geben als eines, bei dem sich jeder Denkende sagt, daß sie unschuldig sind?

Woraus derjenige, der sich das Obige überlegt, der also eine Drehung weiterdenkt als der nur einfach Denkende, woraus dieser sozusagen Messerscharfdenkende natürlich schließen wird, daß es also Syrien gerade doch war, daß es Rußland gerade doch war.

Es sei denn, der Mossad, den Jonathan Cook der Tat verdächtigt, wäre so schlau gewesen, sich zu überlegen, daß die Messerscharfdenkenden genau diese Überlegung anstellen werden. Weswegen er, der Mossad, den Mord verüben konnte und den Verdacht der Messerscharfdenkenden auf Syrien richten. Und entsprechend die Oligarchen, die vom Kreml im Fall Litwinenko als Mörder verdächtigt werden.

Weswegen also wir Supermesserscharfdenkenden zu dem Schluß kommen, daß der Kreml und Syrien doch unschuldig sind.

Es sei denn, ...



Und so weiter, und so fort ad infinitum. In meiner Jugend habe ich einmal eine Geschichte über einen Schüler gelesen, der mit seinen Kameraden das folgende Spiel spielte (so ungefähr jedenfalls habe ich es in Erinnerung): Der andere legt eine Spielkarte verdeckt hin, entweder eine schwarze oder ein rote Farbe. Er sagt - so sieht es die Spielregel vor - dabei, welche der beiden Farben er gewählt hat. Dabei darf er lügen. Unser Schlaukopf soll nun erraten, welche Farbe wirklich da liegt - und trifft immer.

Er traf immer, in dieser Geschichte, weil er seine Mitschüler kannte und ihre Intelligenz richtig einzuschätzen wußte. Die ganz Dummen sagten "rot", wenn sie eine schwarze Karte hingelegt hatten. Die etwas Intelligenteren sagten gerade "schwarz", wenn sie eine schwarze Karte hingelegt hatten, unter der Vermutung, daß der Schlaukopf vermuten würde, daß sie lügen würden. Die noch etwas Klügeren bezogen just dies in ihre Überlegungen ein, sagten als wahrweitswidrig "rot". Nicht, weil sie einfach dachten, daß sie den Schlaukopf durch Lügen hereinlegen könnten. Sondern weil sie dachten, daß er dachte, daß sie dachten ... usw.



Unser Schlaukopf in der Geschichte gewann immer, weil er wußte, wieviele solche logischen Umdrehungen der jeweiligen Intelligenz seines Spielpartners entsprachen. Wenn wir versuchen, die Machenschaften von Geheimdiensten zu rekonstruieren, dann haben wir diese Information leider nicht.

Den Russen zu unterstellen, sie hätten Litwinenko nicht ermordet, weil ja der Verdacht sofort auf sie gefallen wäre, ist also ebenso albern, wie den Syrern zu unterstellen, sie hätten aus diesem Grund Gemayel nicht ermordet. So, wie freilich derartige Überlegungen es auch nicht wahrscheinlicher machen, daß sie es jeweils getan haben. Es ist schlicht nutzlos, überhaupt solche Überlegungen anzustellen.

Sinnvoll freilich ist es, zu analysieren, welchen Nutzen denn das jeweilige Land aus dem Mord zieht; ob er seinem Geheimdienst nun zugeschrieben wird oder nicht.

Im Fall Syrien kann man darüber streiten, ob der Gemayel-Mord ihm nützt oder vielmehr Israel; siehe zum Beispiel die Diskussion hier in "Zettels kleinem Zimmer".

Im Fall Rußland liegt aber das "Cui bono?" offen zutage. Die Botschaft, die der Mord vermittelt, ist ja einfach: Wer hinter Machenschaften wie denen herschnüffelt, die zum Tod der Journalistin Anna Politkowskaja geführt haben, der muß damit rechnen, barbarisch ermordet zu werden.

Ob nun der Verdacht auf den russischen Geheimdienst fällt oder nicht: Vestigia terrent.

Im Koordinatenkreuz: Das Parteiensystem

Was ist die Hauptdimension, auf der sich politische Parteien unterscheiden? Natürlich die Dimension "Links-Rechts". So ist es im allgemeinen Bewußtsein verankert; so zeigt es sich in den Parteiensystemen:

In Skandinavien gibt es die Sozialdemokraten und Linksparteien auf der einen, die sogenannten "bürgerlichen Parteien" auf der anderen Seite. In Großbritannien die linke Labour Party und die rechten Tories. In Holland die CDA und die VVD auf der einen und die PvdA und die PS auf der anderen Seite. In GB dazwischen die Liberal Democrats, in Holland dazwischen die religiösen und liberalen Parteien. In Frankreich "La Droite", also die UMP und ihre Verbündeten, und ihr gegenüber die Sozialisten und ihre Verbündeten; dazu die linken Extremisten, hauptsächlich diverse trotzkistische Strömungen, und die Rechtextremen, also die Parteien von Le Pen und von Bruno Mégret. In Italien das Linksbündnis Prodis, das gerade gegen das Rechtsbündnis Berlusconis obsiegt hat. In den USA die - für amerikanische Verhältnisse - linken Demokraten und die rechten Republikaner. Und so fort.



"Links" und "rechts", das sind, so liest man es, Bezeichnungen, die aus der Sitzordnung in irgendeinem französischen Parlament des neunzehnten Jahrhunderts stammen.

Natürlich sind die Bezeichnungen beliebig, und natürlich ist dieser historische Ursprung beliebig. Aber daß wir es hier mit der Grunddimension des Politischen zu tun haben, das scheint als ausgemacht zu gelten. Jedenfalls im allgemeinen Bewußtsein.

Die Politologen sehen das vermutlich anders. Selbst eine populär-politologische WebSite wie der Political Compass arbeitet mit zwei Dimensionen: Ökonomisch links-rechts und autoritär-liberal (englisch "libertarian"; weil in den USA die "liberals" die Linken sind).

Im liberalen Liberty.li-Forum gibt es einen aktuellen Thread, der sich mit der Frage befaßt, wie aktuell eigentlich diese Links-Rechts-Dimension noch ist. Es gibt dort viele interessante Beiträge; aber der zentrale Punkt scheint mir ungeklärt zu sein, ja er wurde in dieser Diskussion kaum angesprochen: Ist in unseren heutigen modernen, kapitalistischen Gesellschaften, in unseren demokratischen Rechtsstaaten, überhaupt noch die Links-Rechts-Dimension die grundlegende Dimension, auf der politische Anschauungen variieren?



In der Internet-Ausgabe der Leipziger Volkszeitung wird heute über ein Interview berichtet, das die gedruckte Ausgabe in voller Länge bringt. Es geht um eine gemeinsame Stellungnahme von Politikern aus drei Parteien. Auszug:
Politiker von CDU, FDP und Grünen haben in einem gemeinsamen Appell die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgefordert, durch konkrete politische Vorbereitungen schon jetzt die Voraussetzungen für eine Jamaika-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl zu schaffen. (...) Die Basis für eine solche Koalition könnten das Prinzip der Nachhaltigkeit, das der sozialen Grundsicherung und Schritte zu mehr Eigenverantwortlichkeit sein.
Weiter heißt es, die Zeit für eine Schwarz-gelb-grüne Koalition sei 2005 noch nicht reif gewesen, und als Gemeinsamkeiten dieser drei Partner werden "Generationengerechtigkeit, eine moderne Umweltpolitik und in erster Linie die Reform der sozialen Sicherungssysteme" genannt.

Die drei Politiker, die dieses Interview gegeben haben - Philipp Mißfelder, Daniel Bahr und Matthias Berninger - sind Vertreter der sogenannten "jungen Generation". Insofern könnte man ihren Vorstoß als so etwas wie ein Gegenstück zur Bewegung der "Grauen Panther" sehen; sozusagen die "Pantherkids". Aber mir scheint, daß er doch - darüber hinaus - symptomatisch ist für eine sich abzeichnende Änderung im politischen Koordinatenkreuz: Die traditionell dominierende Links-Rechts-Dimension veliert an Bedeutung.



"Rechts" und "links", wie immer man es definieren mag (was schwierig genug ist; Sebastian Haffner hat einmal darauf hingewiesen) ist eine Unterscheidung aus dem neunzehnten Jahrhundert. "Rechts" waren die Konservativen. "Links" waren zunächst - noch zum Beispiel im Paulskirchen-Parlament 1848 - die Liberalen.

Mit dem Aufstieg des Bürgertums wurde ein Teil der Liberalen wohlhabend, großbürgerlich und damit "rechts", und links entstand eine neue, immer stärker werdende politische Kraft - die Sozialdemokratie, später dazu der Kommunismus. Im britischen parlamentarischen System hat sich das darin niedergeschlagen, daß an die Stelle des Gegenübers von Whigs und Tories dasjenige von Tories und Labour trat. Die Liberalen hatten zwar noch eine kleine eigene Partei, fanden sich aber größtenteils in einer der beiden großen Parteien wieder.

Auch auf dem Kontinent waren die Liberalen hinfort in "linke" und "rechte" gespalten. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik waren sie auch durch verschiedene Parteien repräsentiert; erst mit der Gründung der Bundesrepublik wurden sie in einer gemeinsamen Partei, der FDP, wiedervereinigt. Anderswo - in Frankreich zum Beispiel - gibt es bis heute Liberale, die sich zum linken Lager rechnen (die ehemaligen "Radicaux de Gauche") und andere, die im allgemeinen Verständnis der Rechten zugehören (die Anhänger von François Bayrou zum Beispiel; früher die Républicains Indépendants von Giscard d'Éstaing).



Das Koordinatensystem des "Political Compass" besteht aus der Dimension links-rechts und zweitens, wie gesagt, der Dimension autoritär-liberal. Die erstere hatte ihre Grundlage in der Klassengesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Ob nicht die heutige Gesellschaft sich viel eher so strukturiert, daß die andere, die autoritär-liberale (oder besser: etatistisch-liberale) zu politischen Grunddimension geworden ist oder jedenfalls im Begriff ist, das zu werden?

Dafür spricht, daß die meisten heutigen politischen Auseinandersetzungen sich nicht mehr dem Schema "links-rechts" fügen.

In der Außenpolitik liegt das auf der Hand. Schröder harmonierte im Irak-Konflikt bestens mit dem Rechten Chirac und mit Putin, von dem man nicht weiß, ob er links oder rechts ist. Ob man im Nahost-Konflikt auf der Seite Israels oder drejenigen der Araber steht, ist nicht eine Frage von Links oder Rechts. Ob man für oder gegen die europäische Verfassung ist, ebensowenig. In Frankreich bestand die Front des "Non" aus Kommunisten, Sozialisten, Konservativen und Rechtsextremisten.

Innenpolitisch ist es nicht anders.

Traditionell war die Linke immer gegen Steuererhöhungen. Heute haben Linke und Rechte in Deutschland gerade gemeinsam eine Erhöhung der alle Bürger treffenden Mehrwertsteuer beschlossen; gegen die Liberalen.

In der Gesundheitspolitik sind Linke wie Rechte für einen Ausbau des staatlichen Gesundheitssystems. Die Liberalen und zum Teil die Grünen sind für eine stärkere individuelle Vorsorge.

In der Rechtspolitik treten Linke wie Rechte für mehr gesetzliche Restriktionen, für Regulierung, für staatliche Steuerung ein. Die Reaktion auf den Mordfall von Emsdetten ist ein aktuelles Beispiel. Die Liberalen sind für den Schutz der Bürgerfreiheiten gegen diese Versuche, die Staatsmacht immer weiter auszudehnen.

Wäre es folglich nicht an der Zeit, an die Stelle der politischen Grunddimension "Links-Rechts" die Grunddimension "Liberal-Etatistisch" zu setzen? Als eine Nebendimension mag Rechts-Links ja weiterbestehen. Aber sie ist nicht mehr die Grunddimension; so, wie heute nicht mehr Bergbau und Stahlindustrie die Leistung unserer Volkswirtschaft bestimmen.



Ein Vorschlag für den Anfang: Die Sitzordnung im Parlament, diese zumindest, könnte doch, sagen wir ab der nächsten Legislaturperiode, an den heutigen tatsächlichen politischen Verschiedenheiten orientiert werden. Also auf der einen Seite - ob links oder rechts, ist egal; es hängt ja auch davon ab, ob man die Perspektive des Präsidenten oder die des Abgeordneten einnimmt - , auf der einen Seite also die Kommunisten der PDS und, sollten sie in den Bundestag kommen, die Neonazis der NPD. Dann, schön nebeneinander, so wie sie heute regieren, die Sozial- und Christdemokraten. Und dann die Liberalen - die der FDP und, vermutlich in wachsender Zahl, die liberalen Grünen.

Welche letzteren inzwischen mit Altlinken wie Stroebele und Trittin ungefähr so viel gemeinsam haben dürften wie die "Radikalsozialisten" in Frankreich, lupenreine Liberale, mit dem Sozialismus, der ihnen im neunzehnten Jahrhundert den Namen gab.

23. November 2006

Deutschland im Herbst. Oder: Die VerSPIEGELte Presse

Mal ehrlich - wer hätte damit gerechnet, daß Deutschland nach einem Jahr Großer Koalition so gut dastehen würde?

Außenpolitisch haben wir wieder Gewicht; die antiamerikanische Politik der Rotgrünen ist Vergangenheit. Die Achse Moskau-Berlin-Paris liegt, vor sich hinrostend, auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Innerhalb eines Jahres hat die Kanzlerin ein internationales Ansehen gewonnen, wie es selbst Helmut Schmidt und Helmut Kohl erst im Lauf von Jahren ihrer Kanzlerschaft hatten erreichen können.

Die Wirtschaft boomt. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Der Haushalt ist nach Jahren erstmals wieder verfassungsgemäß. Die Kriterien von Maastricht werden wieder erfüllt.

Ohne die Großkotzigkeit der Schröder-Regierungen, ohne die immer wieder "nachgebesserten" Gesetze, ohne die ständig korrigierten unsoliden Prognosen, ohne windige Schlagworte à la "Agenda 2010", ohne diese ganze Schaumschlägerei, die Rotgrün kennzeichnete, arbeitet die jetzige Regierung zurückhaltend, solide und erfolgreich. Die Kanzlerin prägt mit ihrer Persönlichkeit diesen Arbeitsstil.



Gewiß, wir haben nun einmal keine liberalkonservative Regierung, sondern eine schwarzrote. Also gibt es manches, das wie eine Fortsetzung der rotgrünen Restaurationszeit anmutet, dieses nachgerade gespenstischen Versuchs altgewordener Linker, ihre Jugendträume aus den siebziger Jahren als Sechzigjährige in die Tat umzusetzen.

Der bisher schlimmste Rückfall dieser Art war das unsägliche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das man im Grund nur mit einem difficile satiram non scribere kommentieren kann. Auch die Gesundheitsreform trägt diese rotgrüne "Handschrift"; obwohl sie zugleich auch diejenige der CDU trägt. Ob ein solches seltsames Palimpsest überhaupt realitätsfähig ist, bleibt abzuwarten. Ich glaube es eher nicht.



Aber abgesehen von solchen Rückfällen und Einschränkungen hätten wir Deutsche doch jeden Grund, aufzuatmen und uns zu freuen. Der Mehltau ist weggeblasen. Deutschland ist erkennbar dabei, in die Gegenwart zurückzukehren, die Realitäten der Dritten Technologischen Revolution, der Globalisierung, der weltweiten Deregulierung und Liberalisierung zur Kenntnis zu nehmen und sich darauf einzustellen. Überall wird Deutschland reformiert; manchmal fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit, wie bei der größten Universitätsreform in der Deutschen Geschichte, der allgemeinen Einführung der Bachelor-Studiengänge, die gegenwärtig stattfindet.

Nur, was tun die Deutschen? (Nein, nicht die Deutschen; aber doch ein erschreckend großer Teil unseres Volks): Sie motzen. Sie verweigern dieser erfolgreichen Regierung ihre Zustimmung. Ja, gewisse Umfragen werden sogar so interpretiert, daß eine Mehrheit das Vertrauen in die Demokratie verloren habe.

Quer durch die Medien wird das mit moroser Bedenklichkeit kommentiert. Politikverdrossenheit wird mal wieder konstatiert, unsere Zukunft wird in Frage gestellt.



Berechtigterweise? Nein, gewiß nicht. Aber alle diese düsteren Kommentare sollten schon ernstgenommen werden. Nicht, weil sie berechtigter Ausdruck einer angeblichen deutschen Misere wären. Sondern weil sie eine ihrer wesentlichen Ursachen sind.

In unseren Medien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das abgespielt, was ich ihre VerSPIEGELung nennen möchte.

Eine Demokratie braucht eine investigative, eine gnadenlos alle Mängel aufdeckende Presse. Sie braucht auch eine Presse, die das Bestehende radikal in Frage stellt, die den Herrschenden nicht ihre Selbstrechtfertigungen und den Dummen nicht ihre Sottisen glaubt.

Diese Rolle hat in der Bundesrepublik der SPIEGEL gespielt; seit ihrem Bestehen. Er hat sie hervorragend gespielt. Rudolf Augstein hat sein Blatt zu Recht einmal das "Sturmgeschütz der Demokratie" genannt.

Was ein Lob ist; aber ja doch ein sehr selbstkritisches Selbstlob. Eine Presse, die in ihrer Gesamtheit aus Sturmgeschützen besteht, würde den demokratischen Rechtsstaat schnell in Schutt und Asche schießen.

Also: Einen SPIEGEL brauchte die Bundesrepublik, sie brauchte ihn dringend. Kein Presseorgan hat sich um die deutsche Demokratie so verdient gemacht. Aber eine Presse, die durchweg investigativ, erbarmungslos kritisch, nur aufs Aufdecken von Mängeln gerichtet ist - die ist alles andere als der Demokratie zuträglich.

In diese Richtung aber hat sich die deutsche Presse entwickelt. Investigativ sind sie heute alle, vom Stern über die taz bis zur FAZ. Von den "politischen Magazinen" im öffentlich-rechtlichen TV ganz zu schweigen, die von Anfang an so konzipiert gewesen waren; ein deutsches Unikum.

Auch kritisch, nicht selten ätzend kritisch, sind sie alle. Selbst die Zeit, unter Bucerius und der Gräfin von angelsächsischer Fairness, stimmt heute oft ein ins Konzert der, nennen wir sie so: Pankritiker, also der die schlechte Wirklichkeit schlechthin Bejammernden, ein.



Warum? Nun, only bad news is good news; das ist sicher ein wichtiges Motiv. Der Wettbewerb ist härter geworden. Neid ist das vermutlich stärkste Motiv von sehr vielen Menschen. Das Aufdecken von Durchstechereien, von Intrigen und von Versuchen Mächtiger, sich ungerechtfertigt zu bereichern - das ist ein sicheres Mittel, Leser zu finden, Quote zu machen. Es war früher das Alleinstellungsmerkmal des SPIEGEL und, auf einer anderen Ebene, der Boulevardpresse. Heute ist es das Erfolgsrezept eines großen Teils aller Medien.

Aber natürlich kann die Presse nicht eine Unzufriedenheit erzeugen, wenn es dafür nicht eine reale Basis gibt. Viele Menschen in Deutschland, wie viele Menschen in ganz Westeuropa, haben Angst. Sie sind zu Recht beunruhigt, denn wir befinden uns nun einmal in einer historischen Situation, in der wir Westeuropäer es viel schwerer haben werden, als wir es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatten, unserem Goldenen Zeitalter.

Wir vergreisen, wir sehen uns zunehmend mächtiger wirtschaftlicher Konkurrenz gegenüber, wir müssen mit Einwanderung zurechtkommen. Wir schienen den Reichtum gepachtet zu haben, und nun müssen wir ihn nicht nur mit der ganzen Welt teilen, sondern es besteht die reale Gefahr, daß wir ärmer werden. Wir sind nicht mehr besser als die anderen, und bald werden wir vielleicht viel schlechter sein.

Die Angst vor einer derartigen Entwicklung versuchen viele Menschen an Personen festzumachen, an Institutionen; sie irgendwie zu konkretisieren.

Sie versuchen, ihre Angst zu beherrschen, indem sie ihr Namen und Bilder zuordnen. Indem sie sie auf das Versagen bestimmter Parteien, auf die Schlechtigkeit der "politischen Klasse", auf die "Gier" der Manager und dergleichen zurückführen. So, wie unsere Vorfahren Dämonen oder den Teufel für das verantwortlich gemacht haben, dem sie sich ausgeliefert fühlten und das sie anders nicht begreifen konnten.

Man muß also realistisch sein. In gewissem Umfang müssen wir mit einer negativen Grundstimmung vieler Deutscher leben; auch wenn wir - hoffentlich - 2009 eine liberalkonservative Regierung bekommen, die, wenn sie über mehrere Legislaturperioden Bestand haben sollte, Deutschland wieder ganz nach vorn bringen könnte. Eine neue Adenauerzeit, eine neue Kohl-Epoche ist durchaus möglich.



Es sei denn, daß diese negative Grundstimmung uns 2009 eine Linksregierung beschert; bestehend aus der SPD mit den Grünen und/oder der PDS.

Dann allerdings müßten auch diejenigen, die wie ich Optimisten sind, wohl ihre Position korrigieren. Eine erneute Linksregierung könnte Deutschland wahrscheinlich nicht überstehen, ohne daß wirklich der Niedergang eintritt, den jetzt viele fürchten.

Aber noch bin ich Optimist. Bei Wahlen geht es ja immer nur um einen Swing von ein paar Prozent. 2005 waren es ein paar Prozent Dumme, die sich mit dem Gespenst des "Professors aus Heidelberg" schrecken ließen. Warum sollten es 2009 nicht ein paar Prozent Intelligente sein, deren Herz zwar links schlägt, die aber bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen und die deshalb, sagen wir, liberal wählen?

22. November 2006

Randbemerkung: Der Gesetzgebungsreflex

Spektakuläre Verbrechen regen unsere Phantasie an, vielleicht auch Gedanken über das Schlechte in der Welt. Das war so, seit Kain den Abel erschlug und seit Herostrat den Tempel der Artemis in Ephesos anzündete. Heutzutage aber regen sie noch etwas anderes an: Die Gesetzgebung.

Nachgerade reflexhaft folgen auf jedes Verbrechen, das in den Massenmedium Beachtung findet, öffentliche Vorschläge, was denn der Gesetzgeber tun solle oder tun müsse, um derartigen Verbrechen künftig zu begegnen. Mindestens werden administrative Maßnahmen gefordert.

Als vor Jahren einige Unfälle mit Kampf- und anderen Hunden für ein paar Tage die öffentliche Diskussion beherrschten, war die Folge eine Flut von "Hundeerlassen", die sich von den Landesregierungen bis hinein in die Kommunen ergossen, wo sie neue Behörden erheischten, die seither, und vermutlich bis in alle Zeiten, die Hunde der betreffenden Kommune erfassen, verwalten, gegebenenfalls prüfen und aus dem Verkehr ziehen.

In einigen Gemeinden wird jeder Hund mit einer eigenen Akte geführt, die alles Wichtige über ihn enthält; ein Vollbürger der Gemeinde sozusagen.

Zehntausende, vielleicht hunderttausend Jahre ist der Mensch mit Hunden zurechtgekommen, ohne dafür eine Bürokratie zu benötigen. Allenfalls eine Lizenz zur Hundehaltung brauchte man bisher; und auch das nur in einigen Ländern. Unsere Zeit - und, in ihr mal wieder an der Spitze des Wahnwitzes marschierend, unser Land Deutschland - hat die Notwendigkeit entdeckt, unsere Hunde staatlich zu verwalten.

Weil sie ja ein Kind beißen könnten. Und wer kann dafür sein, daß ein Kind gebissen wird, nicht wahr?



Wer kann dafür sein, daß ein Schüler in einer Schule wild um sich ballert? Nein, dafür kann niemand sein. Also muß der Staat etwas dagegen tun. So fordern es die Medien, so exekutieren es die Politiker.

Die Gesetzgebungsmaschine wird angeworfen. Mit derselben gesetzmäßigen Zuverlässigkeit, mit welcher der konditionierte Hund in Pawlows Labor aufs Glöckchen hin Speichel sekretierte, wirft diese Maschine Gesetze aus, sobald ein spektakuläres Verbrechen die Medien erreicht hat. Mindestens werden bestehende Gesetze verschärft. Allermindestens werden neue Verordnungen erlassen.



Im jetzt aktuellen Fall von Emsdetten hat der Täter, wie es scheint, gern ein bestimmtes, gewaltbetontes Computerspiel gespielt. Niemand weiß, ob das irgendwie ursächlich für seine Tat gewesen ist, ob das Computerspielen überhaupt jemals ursächlich für irgendeine Gewalttat war - aber tut nichts, ein Verbot dieses Spiels muß her. Am besten verbietet man gleich alle derartige Spiele, wie es der niedersächsische Innenminister Schünemann gefordert hat.

Als sich vor einigen Jahren in Erfurt ein ähnlicher Fall zutrug, wurden daraufhin die Waffengesetze verschärft. Das hat offenbar den jetzigen Fall nicht verhindert. Natürlich nicht, denn wer eine Waffe haben will, der kann sie sich auch besorgen. Auch gewaltbetonte Computerspiele wird man durch ein Verbot nicht aus der Welt bekommen. So, wie auch nach der Einrichtung des ganzen administrativen Aufwands der Hundeverordnungen Unfälle mit Hunden immer noch vorkamen und weiter vorkommen werden.



Kurzum, es ist offen, ob diese reflexhaft ausgelösten Gesetze und Verordnungen überhaupt irgendeine gefahrenverhütende Wirkung haben. Aber das ist, glaube ich, auch gar nicht so entscheidend. Im Grunde sind sie nämlich so etwas wie ein Beschwörungs- und Exkulpationsritual.

Eine Exkulpation brauchen die zuständigen Politiker oder glauben sie zu brauchen. Denn wir, die Deutschen, haben uns angewöhnt, für ein Verbrechen nicht etwa den Verbrecher verantwortlich zu machen, sondern den Staat, der irgendwie, irgendwann versagt habe. (Als kürzlich drei Verbrecher einen Zellengenossen viehisch ermordeten, hat man sich mehr mit der Verantwortung der Justizministerin des Landes NRW befaßt als mit der Verantwortlichkeit dieser Verbrecher für ihre Tat).

Also, sie müssen Diskussionen über ihre angebliche Schuld oder Verantwortung bestehen, die Politiker. Und das tun sie am besten, indem sie Maßnahmen ankündigen, am besten gleich neue Verbote beschließen.

Und Beschwörungscharakter hat das Ganze, weil es etwas verspricht, was es in dieser schlechten Welt nun mal nicht gibt: Sicherheit, perfekte Sicherheit. Das Versprechen, das "etwas getan" wird, hat, psychologisch gesehen, wohl eine ähnliche Funktion wie in früheren Zeiten die öffentliche Hinrichtung des Täters: Das Böse wird beseitigt, es wird aus der Welt geschafft. Es passiert was.

Nun könnte man das gelassen beobachten, so wie, sagen wir, die Tätigkeit von Exorzisten. Nur ist dieser Gesetzgebungsreflex ja nicht harmlos. Mit jedem solchen Gesetz wird unsere Freiheit weiter eingeschränkt, wird die Bürokratie ausgeweitet, die wir bezahlen müssen, auch wenn wir ihre Dienstleistung gar nicht bestellt haben.

Kaum eines der Gesetze, die anläßlich eines spektakulären Verbrechens, eines spektakulären Unfalls in die Welt kamen, wird wieder aufgehoben. So werden wir allmählich, still und leise, immer fester eingesponnen in den Kokon staatlicher Fürsorglichkeit.

21. November 2006

Zettels Meckerecke: Die Sünden der Väter

"Nicht nachvollziehen" könne man, "daß Teile der Studenten von 68 an den chinesischen Halbgott glaubten", an Mao also. Das kann man heute im "Spiegel" lesen. Auf Seite 136 der aktuellen Nummer, in einer Kurzkritik der Mao-Sendung aus der Reihe "Die Großen Diktatoren", die am 14. November vom ZDF gesendet worden war.

Ich allerdings kann das sehr gut nachvollziehen. Kunststück: Ich habe es ja erlebt. Und es waren zwar "Teile" der Stundentenschaft insgesamt, die Mao verehrten, aber es war - jedenfalls zeitweilig - eine Mehrheit der politisch aktiven Studenten, die das taten.



Es dürfte ungefähr 1976 gewesen sein, daß die Pekinger Staatsoper eine Europa-Tournee machte. Es war die Zeit, als in China sich Kritik an der "Viererbande" zu regen begann, diese aber noch nicht entmachtet war. Im Repertoire war das Stück "Das rote Frauenbataillon", das im Auftrag von Maos Ehefrau Tschiang Tsching, einem Mitglied dieser Viererbande, komponiert und choreografiert worden war. Es verherrlichte eine angebliche Episode aus dem chinesischen Bürgerkrieg.

Die Truppe gastierte auch im Bochumer Theater. Es gab eine ungeheure Kartennachfrage. Irgendwie gelang es meiner Freundin und mir, Karten zu ergattern. Das überwiegend studentische Publikum feierte die Aufführung frenetisch. Es traten, wenn ich mich recht erinnere, am Rand der Aufführung deutsche Redner auf, die Mao und die Kulturrevolution priesen, unter stürmischem Beifall. Es herrschte Sportpalast-Atmosphäre.

Da saßen proportional mindestens so viele überzeugte Maoisten im Publikum, wie Goebbels im Sportpalast überzeugte Nazis vor sich gehabt hatte, und sie bejubelten die chinesische Dikatur mindestens so fanatisch. Es war beschämend. Es war erschreckend. Ich habe damals erstmals sozusagen sinnlich erlebt, was es bedeutet, wenn Menschen kollektiv politisch die Vernunft verlieren.



Also, es waren nicht ein paar Doktrinäre, die Anfang der siebziger Jahre Mao verehrten, sondern es war ein großer Teil der studentischen Linken. Sieht man von den Mitgliedern und Sympathisanten des von der DKP, also von der DDR gesteuerten "Spartakus" ab und den Jusos, zu denen ich damals gehörte, dann waren im Grunde fast alle linken Studenten - also eine Mehrheit der Studenten überhaupt - Maoisten; ob sie nun in einer der vielen maoistischen "Parteien" (der KPD/AO, der KPD/ML, dem KB, dem KBW und wie sie alle hießen) organisiert waren oder nicht.

Das "kleine rote Buch", die sogenannte Mao-Bibel, wurde in großer Auflage verkauft und verteilt. Die "Kulturrevolution" galt als die große Hoffnung des Sozialismus, angesichts der "Verkrustungen", die man dem real in Osteuropa existierenden Sozialismus attestierte. Daß in China die Roten Garden die Alten zum Teufel jagten, das gefiel diesen jungen deutschen Linken; viele mögen sich dergleichen für Deutschland ausgemalt haben.



Wie konnten große Teile einer studentischen Generation so besoffen sein von einer hanebüchenen Ideologie? Wie konnten Menschen, die vermeinten für Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten, einer der barbarischsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts, vermutlich der unmenschlichsten überhaupt, zujubeln?

Wie konnten ausgerechnet diejenigen, die ihren Vätern vorwarfen, einer Diktatur nicht widerstanden zu haben, selbst zu begeisterten und unkritischen Anhängern einer nicht weniger schlimmen Diktatur werden?

Fragen, die man doch eigentlich an diese, an meine, Generation mit derselben Härte stellen sollte, mit der wir damals unsere Väter gefragt haben, wie sie denn Hitler zujubeln konnten.

Aber seltsam, diese Vergangenheitsbewältigung findet kaum statt. Diejenigen, die damals Maoisten und Spontis waren, brauchen sich offenbar nicht zu rechtfertigen - sie haben es zu Ministerämtern gebracht, sitzen in den Redaktionen, machen Filme und schreiben Romane. Viele verklären ihre maoistische (oder stalinistische; so verschieden war das ja nicht) Begeisterung als jugendlichen Idealismus. Andere zucken mit den Schultern; naja, man war damals halt unreif.

Warum zum Teufel lassen die Söhne und Töchter, teilweise inzwischen ja schon die Enkel und Enkelinnen derer, die damals so jämmerlich moralisch versagt haben (viel jämmerlicher als viele von denen, die unter dem Druck der Verhältnisse bei den Nazis mitgelaufen waren) diesen das durchgehen?

19. November 2006

Anmerkungen zur Sprache (1): Traduttore, traditore

Man kann falsch übersetzen. Richtig übersetzen kann man im Grunde nicht.

Eine Übersetzung aus einer natürlichen Sprache in eine andere natürliche Sprache ist keine "Übertragung"; so wie man, sagen wir, bei einer TV-Übertragung Bilder in elektromagnetische Schwingungen und diese wieder zurück in Bilder "übersetzt". Ein übersetzter Text ist vielmehr ein neuer Text, der mit dem Originaltext mehr oder weniger zahlreiche Gemeinsamkeiten hat.

Ist die Übersetzung gelungen, dann gibt es viele Gemeinsamkeiten in den wesentlichen Merkmalen. Ist sie mißlungen, dann ist die Schnittmenge kleiner. Die gute Übersetzung ist nicht eigentlich "richtig". Die mißlungene ist in der Regel nicht in einem absoluten Sinn "falsch". Sie liegen an verschiedenen Stellen auf einem Kontinuum, das Perfektion nicht einschließt. Und ebensowenig ein völliges Mißglücken.



Meist jedenfalls. Grenzfälle gibt es freilich.

Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit an die Übersetzung, die ein Mitschüler für den Satz: "Vous avez cette tranquillité d'âme qui est le propre du sage" gefunden hatte. Sie lautete: "Sie haben die Geduld eines Esels, der sauber und brav ist".

Das Unheil begann offensichtlich damit, daß der Unglücksrabe "âme" (Seele) mit "âne" (Esel) verwechselte. "Propre", das wußte er, heißt "sauber". Es heißt allerdings auch "eigen"; das wußte er wahrscheinlich nicht. Und "sage" heißt in der Tat "brav", aber "le sage" ist auch "der Weise". Der Satz lautet also, richtiger übersetzt: "Sie haben jene Seelenruhe, die dem Weisen eigen ist".

Richtiger - aber richtig? Sollte man statt "Seelenruhe", ein doch etwas altfrankisch-unüblicher Begriff, nicht vielleicht "Gelassenheit" übersetzen? Und "dem Weisen eigen", das klingt ja auch nicht eben wie modernes Deutsch. Also wäre eine richtigere Übersetzung vielleicht: "Sie haben jene Gelassenheit, die den Weisen auszeichnet"? Oder einfach: "Sie haben die Gelassenheit eines Weisen"? Oder warum dann nicht gleich: "Sie haben die typische Gelassenheit eines Weisen"?

Da hätten wir dann einen schönen, runden, einfachen deutschen Satz. Von der Umständlichkeit, auch vom Sprachrhythmus des Originals, auch von dessen eigener Altfränkischkeit, ist freilich nichts mehr erhalten geblieben.



Bei technisch-naturwissenschaftlichen Texten liegen die Dinge anders; wie auch bei juristischen, bei sonstigen fachlichen Texten. Sie kann man weitgehend in einem absoluten Sinn richtig übersetzen, weil die Sprache schlicht ist, weil die Termini definiert sind. Im Grunde geht es hier nur darum, Bedeutungen zu kennen oder nachzuschlagen und die Syntax der einen Sprache in die der anderen zu transformieren.

Nur - warum in aller Welt sollte man das tun? Es liegt doch auf der Hand, daß einfache Texte mit einer eindeutigen Terminologie gleich auf Englisch geschrieben werden sollten und daß auch jedem zugemutet werden kann, das zu tun; erst recht solche englischen Texte zu lesen, wenn sein Beruf das verlangt. Die Debatte darüber, ob deutsche Wissenschaftler nicht ihre Publikationen auf deutsch schreiben und ihre Vorlesungen auf deutsch halten sollten, ist bizarr. Sie wird allerdings im Augenblick heftig geführt; deshalb werde ich auf sie in einem späteren Teil dieser Serie zu sprechen kommen.

Aber darum geht es hier nicht. In Fachtexten spielen Konnotationen, Nebenbedeutungen, spielen Rhythmus und Prosodie, spielt das ganze Netz der Assoziationen kaum eine Rolle. Also alles das, was einen Alltagstext, was erst recht Prosa und was ganz und gar Lyrik über die schlichte Denotation hinaus ausmacht.



Hier also, bei Fachtexten und nur bei ihnen, liegt das Terrain der automatisierten Übersetzung. Solange, wie nicht alle diese Texte gleich auf Englisch geschrieben werden.

In den sechziger Jahren, als es die ersten theoretischen Vorarbeiten für automatisches Übersetzen gab - von lauffähigen Programmen war man damals noch sehr weit entfernt -, erzählte der Tübinger Altphilologe Wolfgang Schadewaldt seinen Studenten, unter denen ich damals saß, den folgenden Witz: Ein Übersetzungsprogramm wird mit dem Satz "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" gefüttert und übersetzt ihn ins Chinesische. Dann gibt man diesen chinesischen Satz ein und läßt ihn ins Deutsche zurückübersetzen. Ergebnis: "Der Schnaps ist gut, aber das Steak ist zäh".

Das war damals nicht nur gut erfunden, sondern es entsprach auch dem Stand des Wissens und Könnens vor knapp einem halben Jahrhundert. Schadewaldt, der Meister des Übersetzens aus dem Griechischen, erzählte diesen Witz natürlich, um seine Verachtung für die in seiner Sicht erbärmlichen Versuche auszudrücken, Maschinen das Übersetzen beizubringen.

Hat er Recht behalten? Ja und nein. Wenn man den Satz aus dem Witz in Google Translate eingibt und ihn ins Englische übersetzen läßt, dann bekommt man: "The spirit is willing, but the flesh is weak", und zurückübersetzt liefert das brav: "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach."

Nur besagt das nicht viel. Der Satz ist beim Google-Programm offenbar im Phrasenspeicher für Englisch und Deutsch enthalten.

Um ein Schadewaldt'sches Resultat zu bekommen, muß man einen kleinen Umweg gehen. Aus dem Deutschen zum Beispiel ins Spanische ("El alcohol está dispuesto, pero la carne es débil") und von dort ins Englische liefert: "The alcohol is arranged, but the meat is weak". Schadewaldt würde im Grab laut lachen.



Schadewaldts Einsichten waren der erste Anlaß für mich, über die Fragwürdigkeit des Übersetzens nachzudenken. Ein zweiter ergab sich daraus, daß ich damals, als Student, Gelegenheit hatte, ein wenig an einer Arbeit mitzuwirken, die sich mit Rilkes Übersetzungen von Gedichten Paul Valérys befaßte.

Ich erinnere mich noch an die erste Zeilen des "Cimetière Marin" und Rilkes Übersetzung: "Ce toit tranquille où marchent des colombes / entre les pins palpite, entre les tombes." Beschrieben wird die Zeit des Mittags, die Stunde des Gottes Pan in der griechisch-römischen Tradition. Diese Überklarheit, dieses Flirren, diese lähmende Ruhe auch. Valéry drückt das aus durch die harten t- und p-Laute, das "Marschieren" der aufgereihten Segler, wie Tauben auf dem Dach, das "Zittern" ("Pulsieren"? "Beben"?) des flimmernden Horizonts zwischen den Pinien.

Sinnlichkeit also, intellektuell mit Schärfe, ja Überschärfe reflektiert, wie oft bei Valéry.

Und nun Rilkes Übersetzung (aus der Erinnerung zitiert; ich habe den Text nicht vorliegen): "Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden, / scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden". Aus dem harten, affirmativen "palpiter" wird eine weiches, sanftes und unbestimmtes "scheint schwingend zu verbinden"; das fast militärische "marcher" wird zu "sich finden". Aus der Klarheit des lateinischen Mittags mit seiner niederbrennenden Sonne wird bei Rilke eine nachgerade romantische Idylle, im Inhalt wie im Wortklang und in der Prosodie.

Keine "Übertragung" also. Noch nicht einmal eine "Nachdichtung". Sondern Rilke, der ein durch Valéry inspiriertes Gedicht verfaßt.



Und noch ein drittes Beispiel, das mich für die Lektüre von Übersetzungen verdorben hat:

Ab etwa Mitte der siebziger Jahre erschien eine sehr eigenwillige Zeitschrift, "Die Republik". Sie war am Vorbild der "Fackel" orientiert, bis hin zur graphischen Gestaltung, und wurde herausgegeben von Uwe Nettelbeck, zeitweilig unterstützt von seiner Frau Petra. In der Lieferung 48-54 vom 8. Mai 1980 war eines der Themen Gustave Flaubert. Nettelbeck hatte sich die Mühe gemacht, alle verfügbaren deutschen Übersetzungen des berühmten ersten Absatzes des Zweiten Teils der "Madame Bovary" zusammenzutragen und sie, zusammen mit dem Original, abzudrucken.

Ich habe mir das damals ziemlich lang und ziemlich genau angesehen, weil ich es spannend fand, die richtige Übersetzung zu finden. Aber ach, es gab sie nicht: Die Übersetzungen waren nicht nur allesamt verschieden - sie wichen zum Teil krass voneinander ab -, sondern es gelang mir auch nicht, diejenige herauszufinden, die den Text "richtig" wiedergab.

Alle hatten sie den einen oder anderen Aspekt des Originals getroffen und andere vernachlässigt. Dem einen Übersetzer war es gelungen, den Sprachrhythmus zu erhalten; dafür klang sein Text im Deutschen unbeholfen und fremd. Der andere hatte sich um flottes Deutsch bemüht und dabei den Stil Flauberts verfehlt. Manche hatten brutal in der Syntax von Flaubert herumgefuhrwerkt. Andere hatten sie exakt erhalten und dadurch Perioden hervorgebracht, die gerade dadurch, daß sie dem Original gerecht zu werden versuchten, schlechtes Deutsch waren.

Manches konnte man als Übersetzungsfehler ankreiden - beispielsweise Arthur Schurigs Übersetzung von "les garçons, le dimanche, s'amusent à pêcher à la ligne" damit, daß "die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung angeln".

Wußte der Übersetzer nicht, daß "pêcher à la ligne" schlicht "angeln" heißt, ganz ohne "reihenweise"? Aber was, wenn er vielleicht besonders um Textnähe bemüht war und dem deutschen Leser dieses Bild der aufgereiht dasitzenden Angler vermitteln wollte, das vor dem geistigen Auge des Franzosen auftaucht, wenn er pêcher à la ligne liest? Arno Schmidt hat sich bei seinen Übersetzungen oft um eine solche extreme Form der Textnähe bemüht, und Harry Rowohlt hat es ihm, in Pooh's Corner in der "Zeit", einmal als übersetzerische Unfähigkeit angekreidet.




So what? Ich möchte eine persönliche und eine allgemeine Konsequenz nennen.

Die persönliche ist einfach: Ich vermeide es, wenn irgend das möglich ist, Übersetzungen zu lesen. Das verschließt mir die russische und die gesamte slawische Literatur, die skandinavische und viele anderen. Ich kann's verkraften; denn die verbleibende Lebensspanne wird nicht ausreichen, in den mir verfügbaren Sprachen das zu lesen, was ich gern gelesen hätte.

Allgemein trete ich dafür ein, daß alle Menschen mindestens zweisprachig erzogen werden sollten: in der Muttersprache und im Englischen. Ein Kind lernt in seinen ersten zwei bis sechs Lebensjahren zwei Sprachen ebenso leicht wie eine. Die Mühe für das Kind wäre also gering. Der Aufwand für das Erziehungssystem wäre bescheiden.

Wir leben in einer glücklichen Zeit, in der es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Lingua Franca gibt. Das Englische ist dabei, sich von der Muttersprache der angelsächsischen Völker zu einer Sprache zu entwickeln, die weltweit beherrscht wird. Das, was die Esperantisten mit ihrer Kunstsprache wollten, ist jetzt mit der gewachsenen Sprache Englisch Wirklichkeit geworden.

Warum also nicht schon im Kindergarten die Kinder zweisprachig erziehen? Warum sollte es nicht erreichbar sein, daß alle deutschen Kinder ebenso gut und vollständig beim Schuleintritt Deutsch und Englisch beherrschen, wie die Kinder von Einwanderern Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Serbokroatisch beherrschen?

Sie würden dann vermutlich nicht ein Cell Phone als "Handy" bezeichnen. Und sie würden sich schlapp lachen über alle die albernen Anglizismen, mit denen man ihre Kauflust anzuregen versucht.

Denn der Reiz aller dieser Anglizismen besteht ja gerade darin, daß sie fremd sind.



© Zettel. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

14. November 2006

Wie wird man US-Präsident? Oder: Warum Hillary und Barack gute Chancen haben

Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika kann man - konnte man jedenfalls im vergangenen halben Jahrhundert - auf eine von zwei Arten werden: Entweder als Erbe, oder als Fahnenträger einer, sagen wir, Mini-Revolution.

Die Erben - das sind die ebenso soliden wie langweiligen Präsidenten, die als Nachfolger ins Amt kamen. Truman, der Vizepräsident Roosevelts gewesen war und Präsident wurde, als dieser 1945 starb. Lyndon B. Johnson, der Kennedys Vize gewesen war und der nach dessen Ermordung Präsident wurde. Gerald Ford, der von Präsident Nixon zum Vizepräsidenten ernannt worden war, nachdem der gewählte Vize Spiro Agnew hatte zurücktreten müssen, und der dann unversehens Präsident wurde, als Nixon selbst zurücktrat, um der Amtsenthebung zuvorzukommen.

Und zu den Erben gehört schließlich auch Bush senior, der Ronald Reagan als Vizepräsident zur Seite gestanden hatte und den man - freilich nur einmal - zum Präsidenten wählte, weil man eine Fortsetzung der guten, für die USA so ersprießlichen Reagan-Jahre wollte.

Interessanter, und auch viel bezeichnender für die amerikanische Mentalität, sind aber diejenigen Präsidenten, die nicht als Erbe ins Amt kamen, sondern in their own right, aus eigener Kraft und Rechtfertigung. Und sie sind - jedenfalls in der Zeit, die ich jetzt betrachte - fast alle so etwas wie Mini-Revolutionäre gewesen.



In den USA herrscht eine nachgerade unglaubliche politische Stabilität. In den mehr als zwei Jahrhunderten ihres Bestehen haben sie nicht nur keine einzige Revolution erlebt, sondern noch nicht einmal eine radikale Verfassungsänderung, wie sie beispielsweise Frankreich seit der Grande Révolution alle paar Jahrzehnte heimzusuchen pflegen.

Nichts davon in den USA. Aber das heißt nicht, daß die Amerikaner nicht auch gelegentlich - vielleicht sogar häufiger als die Franzosen - den radikalen Wechsel wollen, den Schnitt, das Neue.

Nur realisieren sie das nicht, indem sie revoluzzen, sondern indem sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Und dabei freilich jemanden wählen, der verspricht, es ganz anders zu machen. Neu zu beginnen, mit einem New Deal, also die Karten neu zu verteilen. Zu einer New Frontier aufzubrechen, zu einer neuen Grenze.



Roosevelt war so ein Neubeginner, der im Wahlkampf 1932 versprach, die USA aus der Misere der Großen Depression herauszuholen und der in seiner Amtseinführungsrede den berühmten Satz sprach: "The only thing we have to fear is fear itself." Nur die Furcht selbst sei es, was Amerika zu fürchten habe.

Nach Truman, Roosevelts Vize (kein unbedeutender Präsident; aber eben ein Erbe) gab es wieder diesen Neubeginn: 1952 wählten die Amerikaner nicht Adlai Stevenson, der in vielerlei Hinsicht ein zweiter Roosevelt gewesen wäre, sondern dessen Antipoden, den konservativen General Eisenhower. Nach 18 Jahren demokratischer Regierung wieder einen Republikaner.

Eine Mini-Revolution also, ein turnabout; aber noch viel mehr war das die Wahl Kennedys 1960: Dem alten Haudegen folgte der junge Prinz, der den Weg zur neuen Grenze versprach. Dem einen Archetypus der andere.

Und so war es auch danach: "Tricky Dicky" Nixon wurde (nach dem Zwischenspiel mit dem unfreiwilligen Präsidenten Ford) durch den sanften, frommen und immer lächelnden Bill Carter abgelöst: Zurück zur Tugend.

Er war nicht sehr erfolgreich; er war in gewisser Weise ein Symbol des amerikanischen Niedergangs nach dem schmählichen Rückzug aus Vietnam. Also ein neuer turnabout: Auf den milden Linken Carter folgt der knorrige Rechte Reagan, der den Amerikanern wieder Mut machte, der sie sozusagen wieder zu ihrer historischen Größe zurückführte.

Jeder auf seine Art ein Hoffnungsträger, ein Neubeginner - eben ein Mini-Revolutionär. Eine Wahlmonarchie hat man die USA oft genannt. Wenn das stimmt, dann neigen die Amerikaner dazu, den strahlenden Helden als ihren Monarchen zu wählen; denjenigen, der das ganz Andere, das ganz Neue verspricht.



Mir scheint, ein solcher turnabout steht jetzt wieder ins Haus.

Auch George W. Bush war als der Mini-Revolutionär gewählt worden, der mit einem geradelinigen, wertorientierten Programm die Unsäglichkeiten von Bill ("I-never-had-sex-with-this-woman") Clinton vergessen machen sollte. Er hat jetzt selbst das Etikett des Lügners angehängt bekommen. (Nach meiner Überzeugung zu Unrecht, but that's another story). Wieder läuft eine Ehrlichkeits-Kampagne. Und wieder wartet Amerika auf eine Heldenfigur.

Hillary Clinton könnte das sein. Barack Obama könnte das vielleicht noch besser sein. Beide wären solche Mini-Revolutionäre, wie die Amerikaner sie gern wählen. Mit dem Alleinstellungsmerkmal, eine Frau oder ein Farbiger zu sein. Als Vertreter von als benachteiligt geltenden Gruppen also; nach dem Präsidenten, der das konservative, das WASP-Amerika, das Amerika der Red States zwischen den Küsten verkörperte.



Ob das gut sein wird für die USA, weiß ich nicht. Ich glaube es eher nicht. Aber: Glücklich das Land, in dem man, novarum rerum cupidus, zu einer neuen Heldenfigur wechselt, statt gleich die ganze Verfassung umzustürzen!

11. November 2006

Eine "diplomatische Lösung" für den Irak? Wie damals in Vietnam?

James Webb, dessen knapper Sieg über den Republikaner George Allen in Virginia den Demokraten die Mehrheit im Senat gebracht hat, äußerte sich unmittelbar nach seinem Sieg zum Irak-Krieg. In ein Rede in Arlington versprach er, so berichtete es gestern die Washington Post, a new approach to the war that he said will lead to a diplomatic solution, ein neues Vorgehen im Irak-Krieg, das, wie er sagte, zu einer diplomatischen Lösung führen wird.

Bei mir weckt das schlimme Erinnerungen. Erinnerungen an das Ende des Vietnam-Kriegs.



In letzter Zeit häufen sich Stimmen von Kommentatoren, die eine Parallele zwischen dem Irak- und dem Vietnam-Krieg ziehen. Repräsentativ dafür ist ein Kommentar von Colbert I. King in der Washington Post, in dem er von ghostly similarities, von schaurigen Ähnlichkeiten zwischen dem Irak- und dem Vietnamkrieg spricht und fragt: How in the world could we be reliving a nightmare like Vietnam? Wie in aller Welt habe es geschehen können, daß dieser Alptraum zurückgekehrt sei.

Ich will nicht untersuchen, inwieweit die aktuelle Situation im Irak mit der in Vietnam während des dortigen Kriegs vergleichbar ist; vielleicht einmal später in einem anderen Blog (ein paar vorläufige Gedanken dazu hier). Jetzt will ich mich mit der diplomatic solution befassen, die Webb ins Auge fassen möchte. Denn dazu gibt es eine unmittelbare, eine beklemmende Parallele im Vietnam-Krieg.



Die letzte Phase dieses Kriegs begann mit der Tet-Offensive Ende Januar 1968, einer großangelegten gemeinsamen Offensive des Vietcong und nordvietnamesischer Truppen gegen vietnamesische Großstädte wie Saigon und Hue und gegen US-Militärbasen.

Diese Offensive wurde für die Angreifer zum Desaster. Keine einzige Stadt oder Militärbasis konnte erobert und gehalten werden. Die Zahl der gefallenen Vietcong und Nordvietnamesen wird auf 45 000 geschätzt, das Zehnfache der US- und südvietnamesischen Verluste. Nach dieser Offensive hatten die Kommunisten keine Chance mehr, diesen Krieg militärisch zu gewinnen. Dennoch schuf die Tet-Offensive die Grundlage für ihren triumphalen Sieg sechs Jahre später.

Denn mit den Bildern von der Offensive, mit Fotos wie dem berühmten Bild, auf dem der Polizeichef von Saigon einen Gefangenen erschießt, kippte die Stimmung in den USA. Bis dahin hatte in den Umfragen eine Mehrheit der Amerikaner das US-Engagement in Vietnam befürwortet; das änderte sich nun. In seiner eigenen Demokratischen Partei geriet Präsident Johnson unter heftige Kritik; zwei Gegenkandidaten für die im November 1968 bevorstehenden Wahl des Präsidenten, Eugene McCarthy und Robert F. Kennedy, erhielten großen Zulauf. Johnson hatte keine Alternative, als auf eine erneute Kandidatur zu verzichten und anzukündigen, er werde bis zum Ende seiner Amtszeit versuchen, den Vietnam-Krieg zu beenden.



Man suchte also, so wie Webb das jetzt für den Irak vorschlägt, die diplomatic solution. In Paris starteten im Mai 1968 Friedensgespräche. Sie dauerten fünf Jahre, während denen sich der Krieg dahinschleppte, ohne Siegeswillen auf amerikanischer und ohne Siegesaussicht auf der kommunistischen Seite. Am 27. Januar 1973 wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet, der einen Waffenstillstand, den Rückzug der US-Truppen, Verhandlungen zwischen den beiden vietnamesischen Seiten und eine Wiedervereinigung mit "friedlichen Mitteln" vorsah.

Es war faktisch die Kapitulation der USA gegenüber einem Gegner, der ihnen zu keiner Zeit militärisch gewachsen gewesen war. Die südvietnamesische Regierung wehrte sich verzweifelt gegen diesen "Frieden", aber sie hatte keine Chance mehr.

Die USA begannen den Truppenabzug, doch die versprochene Hilfe für die südvietnamesische Regierung wurde immer dürftiger. Im Kongreß herrschten die Demokraten, die im Dezember 1974 die Militärhilfe für Südvietnam kurzerhand ganz strichen. Damit war das Ende besiegelt. Im April 1975 rückten die kommunistischen Truppen in Saigon ein.



Danach begann eine Schreckensherrschaft der Kommunisten, der Hundertausende zum Opfer fielen. Hier ist eine Zusammenstellung von Quellen zu den Opferzahlen. Geschätzt wird, daß
  • 65 000 Menschen von den Kommunisten hingerichtet wurden (Quellen: The Washington Quarterly und US-Außenministerium)

  • eine Million Menschen in Konzentrations- (sogenannte "Umerziehungs-") lager eingeliefert wurden, von denen 165 000 umkamen (Quellen: Orange County Register und Northwest Asian Weekly)

  • 250 000 Menschen bei dem Versuch, über das Meer zu fliehen, ums Leben kamen. 929 600 wurden als Asylsuchende registriert (Quelle: UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen)


  • R.J. Rummel, emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Universität von Hawai, der sich in einer Monographie mit den Kriegen in Indochina befaßt hat und mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, schrieb im April 2005 zum dreißigsten Jahrestag des Falls von Saigon unter der Überschrift "An ihren Händen klebt das Blut von Millionen" (Auszüge; meine Übersetzung):
    Am 30. April ist der Fall von Saigon 30 Jahre her, eine Horrorgeschichte des Verrats amerikanischer Linker und Kommunisten, und des Bluts an ihren Händen. (...) Obwohl der Krieg faktisch militärisch gewonnen war, erzwang die Allianz zwischen der Linken, Kommunisten, der Demokratischen Partei und wichtigen Medien den militärischen Rückzug aus Vietnam und eine massive Reduktion der Hilfe für Südvietnam. Ohne hinreichende amerikanische Hilfe und Unterstützung brach der Süden unter der der Offensive der Nordvietnamesen mit regulären Truppen zusammen, und der Norden besetzte und annektierte ein zuvor souveränes Land. (...) Hunderttausende wurden ermordet - einfach hingerichtet, oder sie starben in "Umerziehungslagern" und in den "neuen Wirtschaftszonen". Und man vergesse nie die mehr als eine Million Vietnamesen, die einen entsetzlichen Tod auf dem Meer riskierten, um der kommunistischen Versklavung zu entkommen (die Boat People), von denen schätzungsweise 500 000 nie mehr Land sahen.
    Das war das Ergebnis der "diplomatischen Lösung". Und diejenigen, die diese "Lösung" ausgehandelt hatten - Henry Kissinger und Le Duc Tho - erhielten dafür den Friedensnobelpreis. Eine "diplomatische Lösung" für den Irak - man kann nur hoffen, daß sie dem irakischen Volk erspart bleibt.


    Dank an Reader für die vielen ausgezeichneten Beiträge in der Sektion "Aus der heutigen amerikanischen Presse" in Zettels kleinem Zimmer, denen auch dieser Blog wieder viele Hinweise und Einsichten verdankt. Herzlichen Dank, auch wenn wir sicherlich vieles unterschiedlich beurteilen; gerade beim jetzigen Thema.

    10. November 2006

    Zum Jahrestag des Mauerfalls: Ein fiktiver innerer Monolog

    Die DDR ist Vergangenheit. Ist die DDR Vergangenheit? Ich sehe keine Anzeichen dafür, daß diejenigen, die die DDR regiert haben, deren Ende als das Scheitern ihres Bestrebens ansehen, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten.

    Das hat diesen Beitrag motiviert, eine Fiktion. Ich stelle mir einen Menschen aus der DDR-Elite vor, der auch nach der Wende noch politisch Karriere machen konnte. Sagen wir, er war in der DDR leitender Funktionär in einem Berufsverband, dem alle in diesem Beruf Tätigen angehören mußten, oder er war ein leitender Kulturfunktionär. Er war das nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung; ein Mensch, der an die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus glaubt. Jetzt arbeitet er - so stelle ich es mir vor - immer noch an führender Stelle in seiner Partei, auch wenn diese sich inzwischen in PDS umbenannt hat und in Linkspartei.

    Ich stelle mir vor, was er denkt. Das Folgende ist also erdacht: Das, was Zettel sich denkt, was dieser von ihm gedachte Ex-Funktionär sich denkt.



    In welcher historischen und strategischen Situation befinden wir uns?

    Der Untergang der DDR und des gesamten real existierenden Sozialismus in Europa ist der bisher größte Rückschlag, den wir seit dem Beginn der kommunistischen Bewegung erlitten haben. Wir haben ihn teils dem Verrat Gorbatschows zu verdanken. Teils geht er aber auch auf schwere Fehler zurück, die wir beim Aufbau des Sozialismus gemacht haben. Wir müssen aus diesem Rückschlag die Konsequenzen ziehen. Aber die Konsequenz kann nicht sein, auf das Ziel des Aufbaus des Sozialismus zu verzichten.

    Wir werden über den Kapitalismus siegen, weil die unumstößlichen Gesetze der Geschichte es so bestimmen. Marx hat uns gelehrt, daß der Kapitalismus zum Untergang verurteilt ist und daß die Dialektik der Geschichte mit Notwendigkeit die Diktatur des Proletariats, den Sozialismus und schließlich den Kommunismus hervorbringen wird.

    Wir sehen in unserer Gegenwart, wie die Widersprüche im Kapitalismus immer mehr zunehmen, wie er immer mehr an Massenloyalität einbüßt. Die Klassengegensätze verschärfen sich; immer mehr zerfällt die Gesellschaft in wenige Reiche, die immer reicher werden, und die Masse der Lohnabhängigen, die immer mehr ins Prekariat absinkt. So hat es Marx vorhergesagt, und so tritt es jetzt ein. In Deutschland vertraut bereits die Mehrheit nicht mehr der bürgerlichen Demokratie. Noch ist keine revolutionäre Situation erreicht, aber die objektiven Tendenzen der Geschichte bewegen sich auf sie zu.

    Es wäre abwegig, unwissenschaftlich und kleinbürgerlich, in dieser Situation das Ziel der Diktatur des Proletariats und der anschließenden Entwicklung hin zum Kommunismus fallenzulassen. Vielmehr ist das Scheitern des ersten Versuchs, einen realen Sozialismus in Europa zu schaffen, nur eine verlorene Schlacht, nicht der verlorene Krieg. Wir müssen jetzt klug sein, uns geschickt tarnen und geduldig warten, bis die objektiven Bedingungen dafür herangereift sind, wieder zum Aufbau des Sozialismus überzugehen. Wir müssen unter den gegenwärtigen Bedingungen parlamentarisch arbeiten und Machtpositionen erobern, die wir benötigen, wenn die sozialistische Revolution wieder auf der Tagesordnung der Geschichte stehen wird.



    Wie kam es zu dem schweren Rückschlag vom 9. November 1989?

  • Unserer größter Irrtum war die Hoffnung, der Sozialismus ließe sich in einem Staat aufbauen, der nur einen Teil Deutschlands umfaßte. Wir haben zwar mit allen Mitteln versucht, die BRD zur Anerkennung der DDR zu bringen, und hatten die SPD auch soweit. Aber die reaktionären Kräfte und vor allem das in ihren Diensten urteilende BVG haben das verhindert. Die BRD hat die DDR nicht als Staat anerkannt. Unsere Menschen lebten dadurch geistig immer zum Teil in der BRD. Sie verglichen die Lebensbedingungen im Sozialismus mit denen in der BRD, wie das Fernsehen sie ihnen vorgaukelte. Sie wollten latent immer Bundesbürger werden. Deshalb war unser Grenzregime erforderlich, das uns erst recht die Loyalität vieler unserer Menschen gekostet hat.

  • Unser zweiter schwerer Fehler war es, daß es uns nicht gelungen ist, die Produktivkräfte so zu entfalten, wie das im Kapitalismus geschah und geschieht. Die materiellen Bedürfnisse unserer Menschen konnten niemals hinreichend befriedigt werden. Das lag an einer Planungsstruktur, die die Möglichkeiten der modernen Technik der Kommunkation und Steuerung nicht genutzt hat.

  • Ein dritter Fehler war, daß wir uns antiquierter Methoden der Agitprop bedient haben. Das ND war langweiliger als der Rundbrief eines Kaninchenzüchtervereins. Die Propaganda in der "Aktuellen Kamera" war so plump und so durchsichtig, daß niemand sie ernst nahm und selbst treue Genossen sich aus dem Westfernsehen informierten. Wir waren propagandistisch schon lange nicht mehr auf der Höhe der Zeit, als die DDR zusammenbrach.



  • Was folgt daraus für unsere jetzige Strategie und Taktik?

  • Der Sozialismus ist für wenigstens eine Generation diskreditiert. Folgerung: Wir reden vorerst überhaupt nicht vom Aufbau des Sozialismus oder gar vom Übergang zur Diktatur des Proletariats. Wir stellen uns als eine soziale Partei dar, die die Sorgen der kleinen Leute ernst nimmt und die die kapitalistischen Ausbeuter bekämpft. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Grundgesetz; so, wie es die DKP zu Zeiten der alten BRD getan hat.

  • In dieser jetzigen Phase geht es um dreierlei: Erstens die Organisation intakt zu halten. Zweitens Sympathie für uns zu gewinnen, uns als Partei der sozialen Gerechtigkeit, als Partei der Kleinen Leute zu profilieren. Und drittens geht es darum, zur Zuspitzung der Widersprüche in der jetzigen Phase des Imperialismus beizutragen, indem wir die SPD mit Forderungen unter Druck setzen, die bei ihrer Realisierung die Krise des Kapitalismus weiter verschlimmern würden, die andererseits aber auch die SPD nur schwer ablehnen kann, weil sie das Etikett "soziale Gerechtigkeit" tragen.

  • Wenn dann die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus wieder zu einem allgemeinen Zusammenbruch geführt hat, wie Ende der Zwanziger Jahre, wird sich das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten ändern. Irgendwann werden die Menschen vom Kapitalismus und der angeblichen Demokratie des bürgerlichen Staats so enttäuscht sein, daß sie Alternativen suchen. Sie werden sie teils bei den Faschisten suchen, teils bei uns. Es wird sich also wieder eine Situation ergeben ähnlich wie um 1930.

  • Ein Teil unserer Vorbereitung auf diese Situation besteht darin, daß wir schon jetzt alle politischen Kräfte rechts von der Sozialdemokratie als faschistisch oder faschistoid im allgemeinen Bewußtsein verankern. Das Ziel muß es sein, daß SPD und PDS als eine gemeinsame Linke wahrgenommen werden und CDU und FDP zusammen mit den Rechtsextremisten als reaktionäre Kräfte, gegen die wir Antifaschisten kämpfen. Es muß ein linkes Lager geben, zu dem wir gerechnet werden, und ein rechtes, zu dem von der CDU bis zur NPD alle rechts von der SPD gehören.

  • In der bevorstehenden allgemeinen Krise des Kapitalismus wird dann die SPD eher bereit sein, mit uns zusammenzugehen als mit den reaktionären Kräften. Jedenfalls dann, wenn wir alles getan haben, die SPD-Linke zu stärken. Damit ist die strategische Situation ungleich günstiger als 1930. Wenn es uns gelingt, die SPD mit uns in eine gemeinsame Front zu bringen, werden wir in diesem linken Bündnis sehr schnell die Macht übernehmen, so wie nach der Gründung der SED. Wir werden das dank unserer überlegenen Theorie und unserer ungleich besseren Organisation und Disziplin. Damit sind beste Voraussetzungen für eine erneute sozialistische Revolution gegeben. Auch Lenin hat aus einer extremen Minderheitsposition heraus die Macht erobert.



  • Wie wird dann der erneute Aufbau des Sozialismus aussehen müssen, damit er diesmal Bestand hat?

  • Nach der Wiedererrichtung des Sozialismus werden wir die Fehler der DDR vermeiden. Eine BRD, die uns die Loyalität unserer Menschen stiehlt, wird es dann ja nicht mehr geben. Wir werden die modernste Computertechnologie einsetzen, um die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Wir werden uns in der Agitprop der medialen Mittel bedienen, die wir in der BRD erlernt haben.

  • Selbstverständlich wird es aber auch in diesem neu aufzubauenden Sozialismus weder ein Mehrparteiensystem geben, noch ein mit irgendwelchen Befugnissen ausgestattetes Parlament, noch gar eine Justiz, die von den Weisungen der Leitung unabhängig wäre. Gerade das Scheitern der DDR lehrt uns, daß wir unseren Feinden keinen Spielraum lassen dürfen. Der neue Sozialsmus wird viel mehr tun, als es die DDR jemals geschafft hat, um seinen Menschen das Bewußtsein von Zufriedenheit zu geben. Aber niemals darf ihnen auch nur der geringste Einfluß auf die Enscheidungen der Parteileitung und der Regierung gegeben werden. Der demokratische Zentralismus allein wird den Bestand des Sozialismus und schließlich den Übergang zum Kommunismus gewährleisten. Nur so können wir verhindern, daß uns erneut die Macht entgleitet. Wir werden uns den Sieg des Sozialismus nicht noch einmal aus den Händen winden lassen.



  • Soweit meine Fiktion; soweit mein Versuch, mich in die Gedankwelt eines Politikers zu versetzen, der der DDR bis zu ihrem Ende aus marxistisch-leninistischer Überezugung treu gedient hat und der nun in der Bundesrepublik Politik macht.

    Vielleicht ist sie ohne Bezug zur Realität, meine Fiktion. Ich weiß das nicht, denn ich kenne so jemanden nicht, habe also schon gar nicht Kenntnis davon, was er wirklich denkt. Ich habe mir nur einmal zu vorzustellen versucht, wie er denkt.

    Dieser Blog erscheint etwas verspätet, am 10.11. Wer ihn gar nicht ernst nehmen kann, der möge ihn als verfrüht lesen, als meinen Beitrag zum 11.11., dem Beginn der Närrischen Zeit.

    8. November 2006

    Armut (4): Politisches

    Darüber, wann jemand im herkömmlichen Sinn arm ist, gibt es weitgehend Übereinstimmung: Arm ist, wer nicht genug zu essen hat, sich nicht ordentlich kleiden kann, wer nicht in menschenwürdigen Verhältnissen wohnt, wer frieren muß, wer keine ausreichende Gesundheitsversorgung hat.

    Das läßt sich nicht leicht quantifizieren, aber die Weltbank versucht es: Ein Einkommen von weniger als einem Dollar am Tag, kaufkraftbereinigt - also inflations- und paritätsbereinigt - , wird als Armutsgrenze definiert.

    Die Armut in diesem herkömmlichen Sinn nimmt weltweit ab. Sogar dramatisch, wie die Weltbank im Vergleich zwischen 2001 und 1981 festgestellt hat: Der Anteil der Armen hat sich in diesen zwei Jahrzehnten von 40 auf 21 Prozent der Weltbevölkerung reduziert. Besonders dramatische Fortschritte hat Ostasien gemacht, während die Armut im subsaharischen Afrika allerdings im selben Zeitraum noch zugenommen hat.



    Ginge es nur um Armut in diesem herkömmlichen Sinn, dann hätten wir in Deutschland keine Armutsdiskussion. Niemand, der in Deutschland ein Einkommen bezieht - und sei es durch Sozialhilfe -, muß vom Äquivalent von weniger als einem Dollar am Tag leben. Aber darum geht es ja längst nicht mehr. Diskutiert wird heute - wurde kürzlich unter den Schlagworten "Unterschicht" und "Prekariat" - über Armut in einem anderen Sinn.

    Wie das britische Forschungsinstitut Overseas Development Institute (ODI) es in einem sehr lesenswerten Bericht beschreibt, begann man in den siebziger Jahren, die Armut neu zu definieren: Nicht mehr nur als ein Problem des Einkommens, sondern unter diversen sozioökonomischen, politischen, kulturellen Gesichtspunkten. Es entstand ein neuer Begriff von Armut: Nicht einfach als geringes Einkommen, sondern als ein dadurch bedingtes Zurückbleiben hinter den Standards einer gegebenen Gesellschaft.

    In den achtziger und neunziger Jahren wurde dieser neue Armutsbegriff weiter ausgeweitet. New layers of complexity were added, neue Komplexitätsebenen wurden hinzugefügt, sagt der Bericht des ODI. Nicht nur Einkommen sollte von nun an Armut definieren, sondern beispielsweise auch mangelnder Zugang zur sozialen Teilhabe (Participation). Arm sollte auch sein, wer nicht gut in der Lage ist, auf Lebensprobleme angemessen zu reagieren (Vulnerability).

    Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen, die sich mit Themen der nachhaltigen Entwicklung beschäftigte und ihren Bericht 1987 vorlegte, bettete den Armutsbegriff in ein allgemeineres theoretisches Konstrukt ein, auskömmliches Leben (Livelihood). Arm ist danach, wer - in irgendeiner Hinsicht - kein auskömmliches Leben hat. Arm ist, nach einer anderen Definition aus den achtziger Jahren, wem sein Einkommen nicht erlaubt, seine Fähigkeiten (Capabilities) zu entfalten.

    Und schließlich trat - in den neunziger Jahren - überhaupt der materielle Aspekt bei der Definition der Armut in den Hintergrund. Als arm sollte nun gelten, wer in irgendeiner Hinsicht nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann (Exclusion) - an der demokratischen Willensbildung, in juristischer Hinsicht, in Bezug auf den Zugang zu Märkten, zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaats, in familiärer Hinsicht oder in Bezug auf die Gemeinschaft, in der er oder sie lebt: Rechte, Ressourcen und Beziehungen seien alle wichtig. In den Worten des Berichts der ODI: The idea of well-being came to act as a metaphor for absence of poverty. Wohlbefinden wurde zur Metapher für Nicht-Armut.

    Oder, in einer anderen Definition, Armut sollte nun sein the denial of opportunities and choices ... to lead a long, healthy, creative life and to enjoy a decent standard of living, freedom, dignity, self-esteem and the respect of others. Arm ist, wem es verwehrt ist, Chancen zu nutzen und Wahlen zu treffen, um ein langes, gesundes, kreatives Leben zu führen und einen angemessenen Lebensstandard, Freiheit, Würde, Selbstachtung und den Respekt anderer zu genießen. (Definition des United Nations Development Program, zitiert in dem Bericht der ODI).

    Welch ein Weg, innerhalb von dreißig Jahren!



    Es liegt auf der Hand, daß der "Arme" im Sinn dieser neuen Definitionen kaum noch Ähnlichkeit mit dem klassischen "Armen" hat, der hungert, friert und nicht adäquat versorgt wird, wenn er krank ist. Arm im Sinn dieser neuen Definitionen ist der reiche Pensionär, der vereinsamt ist, weil seine Freunde weggestorben sind. Arm ist, wer seinen Kinder nicht die Markenklamotten kaufen kann, wie sie die Schulkameraden tragen, sondern nur Kleidung von C&A. Arm ist, wer ungebildet ist und deshalb nicht so am Kulturleben teilnimmt, wie der Theaterbesucher und Kunde von Buchhandlungen; wer mit Ikea-Möbeln lebt, während seine Freunde sich mit Antiquitäten ausstatten.

    Nun sind Definitionen bekanntlich nicht beweisbar oder widerlegbar. Es liegt im Wesen einer Definition, daß sie beliebig ist, eine Setzung.

    Aber es gibt vernünftige, begründete, einleuchtende Setzungen. Und es gibt solche, denen etwas Willkürliches, Unplausibles anhaftet. Die skizzierte Ausweitung des Armutsbegriffs in den vergangenen drei Jahrzehnten scheint mir von dieser Art zu sein. Denn es werden nun ganz verschiedene Sachverhalte mit demselben Begriff bezeichnet. Armut im herkömmlichen, absoluten und unbestreitbaren Sinn wird mit demselben Wort bezeichnet wie Armut in diesem neuen Sinn, der nahezu jede gesellschaftliche Benachteiligung einschließt.



    So etwas nennt man in der Logik eine Äquivokation: Zwei Dinge oder zwei Sachverhalte werden mit demselben Begriff bezeichnet. Das kann historische Ursachen haben, es kann aus Nachlässigkeit geschehen. Es kann freilich auch politischen Absichten dienen.

    Diese dritte Möglichkeit wird man bei der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Armut, wie sie in den vergangenen drei Jahrzehnten eingeführt wurde, wohl in Betracht ziehen müssen.

    Denn den Armen im klassischen Sinn gilt ja zu Recht unser Mitleid. Kein mitfühlender, kein halbwegs human denkender Mensch wird wollen können, daß Menschen hungern und frieren und ihren Krankheiten hilflos ausgeliefert sind. "Armut" in diesem Sinn ist ein - zu Recht - mit emotionalen Konnotationen verknüpfter Begriff. Diese Armut ist etwas Abscheuliches, Intolerables.

    Wenn man den Begriff der Armut nun für etwas ganz anderes verwendet - soziale Benachteilung in irgendeiner Hinsicht -, dann übertragen sich natürlich auch diese Konnotationen. Mit anderen Worten, es wird nahegelegt, ja nachgerade definitorisch festgelegt, daß die "Armut" in diesem ganz anderen Sinn ebenfalls unsere Abscheu erregen sollte.

    Positiv gesagt: Es wird das Ideal einer Gesellschaft impliziert, in der es allen Menschen gleich gut geht; in der sie alle ein gleiches Interesse an Kultur, gleiche Bildung, gleich reiche und befriedigende soziale Beziehungen, eine gleiche Teilhabe am politischen Leben haben.

    Es wird, mit anderen Worten, das Ideal einer egalitären, einer sozialistischen Gesellschaft impliziert.



    Jedermann ist unbenommen, dieses Ideal zu haben und seine Realisierung politisch zu betreiben. Ich habe es nicht, weil ich der Überzeugung bin, daß jeder Versuch, eine solche Gesellschaft herzurichten, nur zur Egalität in Armut und Unterdrückung führt. Aber jeder mag das sehen, wie er will.

    Nur, was haben solche Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft in den Wissenschaften zu suchen? Was in Berichten der Vereinten Nationen? Mir scheint, hier wird Wissenschaft politisiert, hier werden die Vereinten Nationen instrumentalisiert.

    Hier wird die Feststellung von Sachverhalten mit der Deklaration von Zielvorstellungen durcheinandergewürfelt. Da es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften so gut wie keine Armut im herkömmlichen Sinn mehr gibt, wird der Begriff der Armut umdefiniert mit dem Ergebnis, daß man wieder Arme hat, sogar in steigender Anzahl. Mittels einer Definition wird die Armut, die in unseren Gesellschaften so gut wie verschwunden ist, wieder herbeigezaubert.

    Schlechte Wissenschaft, die mit Umdefinitionen arbeitet. Politisierte Wissenschaft, parteiliche Wissenschaft. Also keine Wissenschaft.

    Und schlechte Wissenschaft noch in einem anderen Sinn: Bei aller Betonung des Qualitativen hat dieser neue, weite Begriff von Armut doch Versuche zur Quantifizierung nach sich gezogen. Sehr seltsame, zum Teil. Mit ihnen befaßt sich der folgende, abschließende Teil dieser Serie.