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5. August 2009

Wahlen '09 (7): Steinmeiers Visionen. Warum sie im Wahlkampf nicht funktionieren werden

Sie ist ein geflügeltes Wort geworden, Kanzler Helmut Schmidts lakonische Bemerkung "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Gehört Frank-Walter Steinmeier also auf die Couch? Eine "Vision vom Jobwunder" attestierte ihm jedenfalls gestern die "Tagesschau". Steinmeier selbst wird mit der Aussage zitiert, für den Weg aus der Krise bedürfe es einer "visionären Politik".

Er hat's mit den Visionen, der Steinmeier. Im April dieses Jahres pries er Barack Obama, weil dieser als sein Ziel eine "Welt ohne Atomwaffen" verkündet hatte: "Das ist Vision und Realismus zugleich".

Steinmeier versucht in seiner Not (letzter Umfragewert für die SPD: 20 Prozent) jetzt augenscheinlich, den erfolgreichen Wahlkampf Barack Obamas zu kopieren.

Dieser war ja sozusagen umschwirrt gewesen von Visionen. Weniger von der Vision einer Welt ohne Atomwaffen - obwohl auch das vorkam, beispielsweise in Obamas Rede in Berlin - als von der Vision eines Amerika, in dem es keine Gegensätze der Rassen, der Religionen, der Weltanschauungen mehr gibt und in dem ein naiver Glauben an die eigene Omnipotenz - "Yes, we can!" - alle Träume wahr machen sollte.

"Kindlich" (childish; was man hier auch mit kindisch übersetzen kann) hat damals Dennis Prager diese Vision einer Volksgemeinschaft genannt, in der alle Gegensätze sich im Wohlgefallen kollektiver Allmachtsphantasien auflösen.

Immerhin, es hat bei Obama funktioniert; ausgezeichnet sogar. Warum soll also nicht auch Steinmeiers Kopie funktionieren?



Erstens, weil Steinmeier kein Obama ist. Zweitens, weil die Deutschen für Visionen weit weniger anfällig sind als die Amerikaner.

Der amerikanische Nationalcharakter ist bestimmt durch ein eigenartiges, in gewisser Weise faszinierendes Nebeneinander eines Down- to- Earth- Pragmatismus und der Bereitschaft, Visionen nicht nur ernstzunehmen, sondern sie auch zur Richtschnur eigenen Handelns zu machen.

Die Väter der amerikanischen Verfassung hatten die Vision einer freien und gerechten Gesellschaft, wie sie die Aufklärung entworfen hatte. Einwanderer kamen ins Land, bestimmt durch die Vision, es vom Tellerwäscher zum Millionär zu bringen. Die Vision von der "Neuen Grenze" leitete den historischen Prozeß, der durch immer weitere Ausdehnung nach Westen aus den dreizehn Gründerstaaten an der Ostküste die heutigen USA machte.

John F. Kennedy hat das aufgegriffen, als er in der Rede, in der er 1960 die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten annahm, von der "New Frontier" sprach - "the frontier of unfulfilled hopes and dreams"; die Grenze der noch nicht erfüllten Hoffnungen und Träume, über die er die USA hinausführen wolle.

Visionen waren ein Thema vieler amerikanischer Präsidenten gewesen; Woodrow Wilsons Vision einer friedlichen Welt, Franklin D. Roosevelts Vision eines New Deal, einer neuen Verteilung der Karten, die jedem Amerikaner seine Chance geben sollte. Lyndon B. Johnsons Vision einer "Great Society"; einer nicht nur großen, sondern vor allem großartigen Gesellschaft. Und jetzt eben Obamas Vision einer Volksgemeinschaft, die alle Gegensätze aufhebt.

Wenn das in den USA so schön funktioniert, warum nicht auch in Deutschland? Weil wir Deutschen überhaupt keinen Sinn für derartige Visionen haben.

Wenn wir einmal in der Politik emotional waren, dann nicht aus "unfulfilled hopes and dreams" heraus, sondern getragen von nationalem Überschwang. Was in den Freiheitskriegen noch halbwegs gut ausging. Was in Gestalt wilhelminischer Ansprüche auf einen "Platz an der Sonne" schon gar nicht mehr gut ausging. Und was in der nationalsozialistischen Travestie in eine nationale Katastrophe führte.

Nach solchen Phasen nationaler Besoffenheit folgte in der deutschen Geschichte meist eine Zeit größter Nüchternheit - das Biedermeier im frühen 19. Jahrhundert, die Zeit der pragmatischen Bonner Republik, dann der Berliner Republik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute.

Eine "skeptische Generation" war 1945 aus dem Krieg zurückgekommen. Skepsis und Nüchernheit sind bis heute Grundzüge der deutschen Befindlichkeit geblieben. Jeder weiß, daß Steinmeier ein Wolkenkuckucksheim verspricht, wenn er angekündigt, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Geht's nicht 'ne Nummer kleiner? denkt da der normale Deutsche, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit steht.



Und dann Steinmeier! Ihn als Wahlkämpfer dem begnadeten Demagogen Barack Obama nacheifern zu sehen, ist ungefähr so erheiternd, wie wenn Sigmar Gabriel eine Karriere als Model für männliche Bademode versuchen würde.

Ausgerechnet dieser dröge, graue Mensch, dem seine Coachs jetzt mühsam wenigstens das Lächeln beigebracht haben, soll uns Deutsche für Visionen begeistern. Eine krassere Fehlbesetzung kann man sich kaum vorstellen.

Ach, jehn Se mir doch wech, sagt in einem solchen Fall der Berliner.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

18. Juli 2009

Marginalie: German angst? Das war einmal. La peur française! Wer fürchtet sich vor der Schweinegrippe?

Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Es tut sich was in Deutschland.

Seit den siebziger Jahren, gipfelnd in der Zeit der rotgrünen Koalition, waren wir Deutschen ein Volk von Angsthasen. Wir wurden ganz dem Bild gerecht, das man im Englischen mit German angst verbindet.

Glykol im Wein, Maden im Fisch, Feinstaub in der Luft, verstrahlte Pilze aus Polen, kindermordende Kampfhunde, Leukämie verursachende AKWs - es vergingen kaum ein paar Monate, in denen nicht irgendeine German angst grassierte.

Und jetzt? Es scheint, daß wir unter der Ruhe und Kompetenz ausstrahlenden Kanzlerin zu einem gelassenen Volk geworden sind. Es ist ein wenig wie einst unter Konrad Adenauer. Der Alte wird's schon richten, das war damals die Grundstimmung.

Man sieht das beispielsweise daran, daß der Versuch der SPD, einen ungefährlichen Zwischenfall im KKW Krümmel zu einer Beinahe- Katastrophe aufzubauschen, auf nicht eben viel Resonanz gestoßen ist. Man sieht es daran, daß die Wirtschaftskrise bisher die allgemeine Stimmung nicht wirklich getrübt hat.



Und man sieht es an der Angst vor der Schweinegrippe. Oder vielmehr deren Abwesenheit.

Demoskopen haben - es ist heute im Nouvel Observateur zu lesen - in 19 Ländern der Erde dieselbe Frage gestellt: Wieviel Sorgen machen Sie sich wegen der Schweinegrippe?

Die Reaktionen waren extrem verschieden. Am meisten Sorgen ("besorgt oder sehr besorgt") machten sich die Chinesen (64%) und die Bolivianer (59%). In Europa macht man sich am wenigsten Sorgen in den Alpen: Schweiz 7%, Österreich gar nur 3%.

Wer ist Spitzenreiter in Europa? Frankreich, das Land der - so meinen wir es ja - gelassenen Rotwein- Trinker und Gitanes- Raucher; das Land des savoir vivre. 40% Prozent der Franzosen sind besorgt oder sehr besorgt.

Und wir Deutschen? Ganz so gelassen wie unsere schweizer und österreichischen Vettern sind wir noch nicht. Aber mit 14% doch schon recht nah dran.



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25. März 2009

Gedanken zu Frankreich (30): Wie teuer sind französische Restaurants? Jetzt ist es amtlich ...

Zu den offenbar schwer ausrottbaren Vorurteilen über Frankreich gehört, daß man dort in den Restaurants teuer ißt. Ein wenig Überlegung zeigt, daß das eigentlich von vornherein eher unwahrscheinlich ist. Denn in Frankreich wird ungleich öfter in Restaurants gegessen als in Deutschland.

Das zeigt erstens, daß viele Franzosen sich das offenbar leisten können, obwohl der durchschnittliche Verdienst ja keineswegs höher ist als in Deutschland. Zweitens sind diese Restaurants überwiegend gut besucht, können also günstiger kalkulieren als viele deutsche Betriebe, die froh sind, wenn sie am Abend vielleicht zwanzig Essen verkaufen. Auch das läßt nicht erwarten, daß das Essengehen in Frankreich teurer ist als in Deutschland.

Vor der Einführung des Euro war der Preisvergleich mühsam. Heute kann jeder, der die Preise französischer Restaurants mit denen in Deutschland vergleicht, zwei Fakten konstatieren: Erstens, in Frankreich bezahlt man für etwas anderes als in Deutschland. Zweitens, wenn man gleiche Leistungen vergleicht, dann ißt man in Frankreich billiger.



Man bezahlt für etwas anderes, weil man in Frankreich ein Menü bestellt und in Deutschland in der Regel ein einziges Gericht.

Vielleicht haben Sie, lieber Leser, in Deutschland schon einmal die Erfahrung gemacht, die mir so geläufig ist, daß ich inzwischen auf sie verzichte: Wir gehen essen und wollen gern ein Menü haben. Das wird aber auf der Karte als solches nicht angeboten. Also bestellen wir eine Vorspeise, dann vielleicht ein Hauptgericht und dann Käse.

Und machen schon bei diesem wahrlich bescheidenen Menü die Erfahrung, daß das betreffende Angebot gar nicht für ein Menü vorgesehen ist.

Denn die "Vorspeise" entpuppt sich als so umfangreich, daß man sich allein von ihr den Bauch vollschlagen könnte. Und der Käse ist als eine kalte Mahlzeit gemeint, gern auf einem riesigen Holzteller serviert; nicht als der vorletzte Gang eines Menüs. Wer gar auf den Gedanken kommt, zwischen Vorspeise und Hauptgang noch das einzuschieben, was in Frankreich Entrée heißt, auf Englisch Starter und zu Deutsch "Zwischengericht", der wird feststellen, daß er ein weiteres Hauptgericht bekommt.

Das alles ist logischerweise so teuer, wie es umfangreich ist. Bestellt man also in Deutschland in der mittleren bis gehobenen Gastronomie (ich rede jetzt nicht von der Spitzengastronomie) ein Menü, wie es in Frankreich üblich ist (oder vielmehr war - siehe unten), also Vorspeise, Zwischengericht, Hauptgang, Käse, Dessert, dann wird man entweder nur Bruchteile des Gebotenen essen können, oder man kann sich anschließend den Magen auspumpen lassen.

Entsprechend teuer ist diese geballte Ladung an Eßbarem: Auch in einem alles andere als kulinarischen Restaurant wird man in Deutschland für ein solches Menü kaum weniger als fünfzig Euro pro Person zu berappen haben; vermutlich in der Regel mehr.



Und in Frankreich? Da wissen wir es jetzt ganz genau. Es gibt nämlich dort im Rahmen der Versuche, die Krise zu bekämpfen, die Idee, die Mehrwertsteuer für Restraurants zu senken. Und zwar drastisch, von 19,6 Prozent auf 5,5 Prozent. Dafür sollen sich die Restaurants verpflichten, kein Personal zu entlassen und die Steuersenkung an die Gäste weiterzugeben.

Gründlich, wie man in Frankreich ist, hat das Ministerium für Wirtschaft im Vorfeld der Gespräche über diese eventuelle Steuersenkung zunächst einmal die Preise in den Restaurants amtlich erhoben.

Und ist dabei - der Nouvel Observateur berichtete gestern darüber - zu einer entwaffnenden Erkenntnis gekommen: Daß es nämlich eine "grande disparité entre les établissements" gibt, einen großen Unterschied zwischen den Betrieben. Wer hätte das gedacht! An den Champs Elysées in Paris ißt man deutlich teurer als im Café- Restaurant de la Paix in Evolène!

Aber Spaß beiseite. Es wurden die Preise in knapp 2500 repräsentativ ausgewählten Restaurants erhoben; und zwar - in Frankreich ist es gesetzlich vorgeschrieben, das ganz genau mitzuteilen - vom 16. bis 18. März in 100 Départements bei 2470 Betrieben; davon 988 "traditionnellen" Restaurants, 741 "Pizzerien", 494 "Grills" und 247 "exotischen" Restaurants. Ergebnis: Das Tagesgericht kostete im Schnitt 9,67 Euro; die Spanne lag zwischen zwei Euro (in einer Pizzeria) und 39,90 Euro (in einem "exotischen" Restaurant). Das günstigste Menü kostete im Schnitt 12,95 Euro.

Wenn ich in Deutschland im Imbiß um die Ecke ein Schnitzel mit Pommes Frites und Salat esse und dazu ein Bier trinke, bezahle ich rund zehn Euro.



Also alles bestens in Frankreich? Leider nicht.

Über die Veränderungen, die in der französischen Gastronomie stattgefunden haben, seit die sozialistische Regierung Jospin die 35- Stunden- Woche gesetzlich vorschrieb, habe ich vor knapp zwei Jahren hier und später noch einmal in diesem Artikel berichtet: Man kann sich seit dieser "Reform" weniger Personal leisten. Ein umfangreiches Menü ist zwar vom Materialeinsatz her nur unwesentlich teurer als ein Menü aus zwei oder drei Gängen mit entsprechend größeren Portionen. Aber man braucht mehr Köche, die es zubereiten, und mehr Kellner, die es servieren.

Also sind in Frankreich die Menüs geschrumpft und die Portionen gewachsen. Man nähert sich, mit anderen Worten, Deutschland an. Heute hat das Standard- Menü nur noch drei Gänge, und man kann sogar eine Mini- Version mit zwei Gängen wählen (entweder Entrée und Hauptgericht oder Hauptgericht und Dessert). Manchenorts - zum Beispiel in Paris - ist das in den Restaurants der unteren und mittleren Preislage schon die Regel.

Auch Madame Cornut, die Wirtin meines Pariser Stammlokals Chez Clovis, mußte notgedrungen diesen Weg gehen, bevor sie vor zwei Jahren ganz aufgab.

Damit Sie sich ein Bild davon machen können, was man vor einigen Jahren mitten in Paris, im 1er Arrondissement, als Drei- Gänge- Menü für 25,50 Euro bekam, hier die vermutlich letzte Karte von Madame Cornut.



Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen bisherigen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Ausschnitt aus dem Gemälde La Liberté guidant le peuple von Eugène Delacroix, Public Domain.

16. Oktober 2008

Marginalie: Heribert Prantl und die Deutschen. Da staunste!

So sieht er uns, der Heribert Prantl, in der heutigen "Süddeutschen Zeitung". Uns Bürger, um die herum die Finanzkrise tobt:
Die Bürger sind bisher erstaunlich ruhig geblieben.

Ihre innere Unruhe bricht sich nicht Bahn in Tollheit und Irrwitz

Die Wähler gehen aber, wie sich zeigt, nicht zu denen, die schon immer erklärt haben, dass es zum Zusammenbruch kommen muss

sondern sie wollen sich zunächst einmal auf die verlassen, die ihnen sagen, wie man da wieder herauskommt.

Die Wähler sehen in den Parteien weniger die Verfechter von Ideologien als die Vertreter konkreter Positionen

In der Finanzkrise ist die Bevölkerung daran interessiert, dass sich die Lage stabilisiert, nicht daran, dass sie sich dramatisiert.
Das sind Zitate aus einem längeren Text. Von mir herausgerissen und montiert.

Wenn ich ihn recht verstehe, dann will Heribert Prantl uns sagen, uns deutschen Bürgern: Ihr seid ja gar keine geistig minderbemittelten Nervenbündel.

Tja, da staunste.



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15. Oktober 2008

Gedanken zu Frankreich (26): Pfiffe beim Spielen der Marseillaise. Chefsache für den Staatspräsidenten. Ein schwarzer Franzose äußert sich

Stellen Sie sich einmal vor, eine deutsche Nationalmannschaft spielt im Berliner Olympia- Stadion, und beim Spielen des Deutschlandlieds gibt es Pfiffe aus dem Publikum.

Nicht wahr, das würde vielleicht berichtet werden, vielleicht auch nicht. Kommentiert würde es kaum werden.

Und nun sehen Sie sich bitte einmal diese Meldung an, die im Augenblick auf der Startseite des französischen Wochenmagazins Nouvel Observateur auf dem ersten Platz steht:
La classe politique et gouvernementale s'est emparée mercredi 15 octobre de la polémique autour de la Marseillaise sifflée lors du match France-Tunisie.

Nicolas Sarkozy a arbitré : désormais, tout match où l'hymne français sera sifflé sera immédiatement arrêté et les matches amicaux avec le pays concerné suspendus.

De même, en cas de sifflets pendant l'hymne national, "les membres du gouvernement quitteront immédiatement l'enceinte sportive", a annoncé la ministre des Sports Roselyne Bachelot à l'issue d'une réunion organisée à l'Elysée au lendemain des incidents survenus lors de la rencontre amicale France-Tunisie au Stade de France.

Die Politiker und die Regierung beschäftigte am Mittwoch, 15. Oktober, der Streit rund um Pfiffe bei der Marseillaise anläßlich des Spiels Frankreich- Tunesien.

Nicolas Sarkozy bestimmte, daß ab sofort jedes Spiel, bei dem während der französischen Hymne gepfiffen wird, sofort abzubrechen ist. Freundschaftsspiele mit den betreffenden Ländern werden ausgesetzt.

Ebenso werden im Fall von Pfiffen während der Nationalhymne "die Regierungsmitglieder unverzüglich die Sportstätte verlassen". Dies gab Sportministerin Roselyne Bachelot im Anschluß an eine Besprechung bekannt, die im Elysée [dem Amtssitz des Staatspräsidenten] am Tag nach den Vorfällen einberufen wurde, zu denen es bei dem Freundschaftsspiel Frankreich- Tunesien im Stade de France [dem größten Pariser Stadion] gekommen war.
Da haben wir, in einem Brennglas, einen der großen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Für die Franzosen - für ihre große Mehrheit - ist die nationale Würde von zentraler Bedeutung, und zwar quer durch die Parteien und die politischen Strömungen.

Diese Würde der Nation drückt sich auch in deren Symbolen aus. So, wie jeder französische Bürgermeister, auch wenn er Kommunist ist, stolz die blau- weiß- rote Amtsschärpe trägt, so lassen die Franzosen nichts auf ihre Marseillaise kommen und singen sie inbrünstig, ob Kommunist, Sozialist, Konservativer oder Nationalist.

Während in Deutschland, ohne daß sich jemand empört, der Vorsitzende einer Gewerkschaft - nicht irgendeiner, sondern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - öffentlich sagen konnte, das Deutschlandlied "transportiere die Stimmung des Nationalsozialismus", und ihm ein Hochschullehrer - nicht irgendeiner, sondern der Praeceptor Germaniae Walter Jens - sekundieren konnte: "Wenn ich an unserem Land etwas auszusetzen habe, dann ist es diese unsägliche Nationalhymne".



Ich weiß, ich komme immer wieder auf dieses Thema zurück; erst kürzlich wieder anläßlich unseres Nationalfeiertags.

Nicht wahr, schon diese Formulierung klingt ungewohnt? "Unseres", das sagt man hierzulande nicht, wenn man Deutschland meint. Und selbst "Nationalfeiertag" ist als Bezeichnung für den 3. Oktober eher unüblich. Manche Deutsche setzen ja offenbar geradezu ihren Nationalstolz darein, keinen Nationalstolz zu haben.

Da haben wir diese ganze Verdruckstheit: "Wir Deutsche sind stolz darauf, nicht stolz darauf zu sein, daß wir Deutsche sind". So ungefähr.

Was ja nicht weiter schlimm wäre, wenn unser Land nicht vor der Aufgabe stünde, etliche Millionen Einwanderer zu assimilieren. Wie man das ohne ein normales Nationalbewußtsein hinbekommen kann, hat mir noch niemand erklären können.



Heute nahm ein Franzose afrikanischer Herkunft - nicht irgendeiner, sondern der Präsident der Vereinigung dieser Franzosen, des Conseil représentatif des associations noires de France, Patrick Lozès - zu dem gestrigen Vorfall folgendermaßen Stellung:
Comme beaucoup de nos concitoyens qui ont regardé hier le match amical de football France- Tunisie hier soir, j’ai été choqué par les sifflets qui ont couvert la Marseillaise. La République est un bien précieux, ses symboles doivent scrupuleusement être respectés. C’est un préalable absolu car cela indique sans ambigüité dans quel cadre nous évoluons. (...)

Lorsque la Marseillaise est sifflée, c’est notre idéal commun qui est rejeté. Lorsque notre hymne national est sifflé, c’est notre promesse du vivre- ensemble qui est souillée.

Wie viele unserer Mitbürger, die gestern Abend das Freundschaftsspiel Frankreich- Tunesien gesehen haben, war ich von den Pfiffen schockiert, die die Marseillaise übertönten. Die Republik ist ein kostbares Gut. Ihre Symbole müssen sorgsam respektiert werden. Das ist eine absolute Voraussetzung, denn es zeigt ohne Wenn und Aber, in welchem Rahmen wir uns voranbewegen. (...)

Wenn bei der Marseillaise gepfiffen wird, dann wird unser gemeinsames Ideal abgelehnt. Wenn bei unserer Nationalhymne gepfiffen wird, dann wird unser Versprechen des Zusammenlebens beschmutzt.
Man stelle sich vor, der Vorsitzende der Vereinigungen türkischer Einwanderer würde so etwas in Bezug auf unsere deutsche Nationalhymne schreiben.



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20. Juni 2008

Präsident Bush, die Nazizeit und die Deutschen: Eine These

Keinem der Präsidenten seit Eisenhower ist George W. Bush so ähnlich wie John F. Kennedy.

Beide aus wohlhabenden, politisch engagierten Familien stammend. Beide zu ihren Zeiten auf dem College nicht gerade glänzend, sich aber als Präsident mit Intellektuellen umgebend. Der eine wie der andere überzeugt davon, daß sich die USA nach innen auf ihre traditionellen Werte besinnen und in der Welt die Demokratie verbreiten sollten.

Beide mutig bis zur Waghalsigkeit. Kennedy hat in seiner kurzen Amtszeit zweimal - als es um die Freiheit Berlins ging und um die Raketen auf Cuba - Standfestigkeit gezeigt und damit die Welt an den Rand einer militärischen Katastrophe gebracht. Bush hat den Krieg gegen Saddam Hussein riskiert und das Engagement der USA im Irak durchgehalten, als die Niederlage schon greifbar nah schien.



In den Augen der meisten Deutschen aber gibt es bei den US-Präsidenten keinen größeren Gegensatz als den zwischen Kennedy und Bush.

Die meisten Präsidenten seit Eisenhower hat man mit einer gewissen wohlwollenden Gelassenheit gesehen: Eisenhower selbst, der als eine Art Mischung aus Adenauer und Heuß wahrgenommen wurde; den breitbeinigen Texaner Johnson, den blassen Nixon, den ewig lächelnden Idealisten Carter, den Altcowboy Reagan, den sachlichen Gentleman George Bush; schließlich Bill Clinton, dessen Privatleben freilich mehr Interesse weckte als seine Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik zusammen.

Aber es gibt zwei Ausnahmen; zwei Präsidenten, an die man in Deutschland starke Affekte geheftet hat: John F. Kennedy und George W. Bush.

Kennedy wurde verehrt. Natürlich vor allem, weil er sich mit dem Satz "Ich bin ein Berliner" mit uns identifiziert hatte. Daß das solch einen ungeheuren Eindruck machte, lag an der Person dessen, der sich als einer der Unseren bekannte: Man liebte seine Jugendlichkeit, seinen Stil, der irgendwie europäisch erschien. Er verkörperte die Figur des jungen Helden Siegfried.

So, wie Präsident Bush die des finsteren Hagen. Ihm traut man fast alles Böse zu; so sehr, daß sogar die abenteuerlichsten Geschichten über ihn bereitwillig geglaubt werden, auch wenn sie auf mehr als wackligen Füßen stehen.



Mir ist das aufgefallen, als in "Zettels kleinem Zimmer", wie der Zufall es wollte, parallel zwei Diskussions- Stränge liefen: Einer über die Vorgeschichte des Irak- Kriegs, der andere über den deutschen Nationalfeiertag.

Auf den ersten Blick zwei Themen, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Sie treffen sich aber - jedenfalls ist das die These, die ich jetzt nennen und begründen möchte - bei der Frage, wie wir Deutsche unsere nationale Identität definieren und welche Funktion dabei den USA zukommen kann.

In dem Thread über den Nationalfeiertag ist zur Sprache gekommen, wie sehr unser Nationalbewußtsein noch immer unter der Hitler- Diktatur und ihren Folgen leidet. Wir haben, so scheint mir, keinen normalen Nationalfeiertag, weil wir kein normales Nationalbewußtsein haben. Und wir haben kein normales Nationalbewußtsein, weil wir noch immer niedergedrückt sind von der Last dessen, was die Nazis angerichtet haben.

Was hat das mit amerikanischen Präsidenten zu tun? Meine These ist, daß sowohl die übersteigerte Verehrung Kennedys als auch die nachgerade absurde Ablehnung von George W. Bush im Zusammenhang mit diesem gedrückten Selbstbewußtsein stehen. Allerdings auf sehr verschiedene Art.

Was kann man tun, wenn es an Selbstwertgefühl mangelt? Man kann sich entweder daran festhalten, von einem anerkannt werden, der Macht und Ansehen hat. Oder man kann sich selbst daran aufrichten, daß man sich einem anderen überlegen fühlt.

Das eine ermöglichte Kennedy; das andere bot Bush mit seinem Irak- Krieg an.



Daß Kennedy mit seinem "Ich bin ein Berliner" sich stracks einen ewigen Platz im Herzen von uns Deutschen sicherte, lag - nach meiner These - weniger daran, daß er damit garantierte, Berlin vor dem Zugriff der Sowjets zu bewahren. Das war natürlich wichtig, vordergründig betrachtet. Aber mit diesem Satz identifizierte sich Kennedy darüber hinaus mit uns. Das war Labsal für unser niedergedrücktes Nationalbewußtsein.

Wenn so jemand wie der strahlende junge Held Kennedy sich zu uns bekennt, ja sich mit uns identifiziert - dann können wir so schlecht doch gar nicht sein. Kennedy richtete uns auf, indem er erklärte, einer von uns zu sein.

Auch Bush richtete uns auf, aber auf eine ganz andere Weise. Als Gerhard Schröder vor den Bundestags- Wahlen 2002 in einer für die SPD fast hoffnungslosen Situation die Friedens- Karte zog, appellierte er nicht nur an die Angst vor einem Krieg. Diese gab es natürlich weltweit; aber es war doch keine sehr große Angst, denn niemand konnte ja außerhalb des Irak ernsthaft damit rechnen, selbst in Kriegshandlungen hineingezogen zu werden.

Sondern indem er kategorisch erklärte: "Nicht mit uns!", erhöhte Schröder uns Deutsche moralisch. Bush und seine USA, das waren diejenigen, die einen "völkerrechstwidrigen Angriffskrieg" führten. Und wir, die Deutschen, konnten uns als die Guten sehen, als die Friedfertigen. Als diejenigen, die sich penibel an das Völkerrecht hielten.

"Völkerrechtswidriger Angriffskrieg" - fällt Ihnen da etwas auf? Genau das war und ist Teil des Vorwufs an uns Deutsche - daß wir uns von Hitler in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg haben führen lassen.

Indem wir Bush das zuschrieben, was wir als unsere eigene historische Verantwortung mit uns herumtragen, konnten wir diese Last erleichtern. Je mehr Bush geschmäht wurde, umso besser konnten sich die ihn Schmähenden fühlen.

Bush, der häßliche Amerikaner, sollte den häßlichen Deutschen vergessen lassen.



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13. Mai 2008

Marginalie: Warum sind Lebensmittel in Deutschland so billig und in Frankreich so teuer?

Jeder Frankreichurlauber weiß, daß in Frankreich die Lebensmittel teurer sind als in Deutschland. Um genau 14 Prozent, für den Lebensmittel- Warenkorb einer durchschnittlichen Familie; so steht es im aktuellen Nouvel Observateur.

Warum ist das so? Odile Benyahia-Kouider, die Autorin des Artikels, nennt zwei Hauptgründe:
  • Die französische Reglementierungswut ("hyper- réglementation"), die, so zitiert sie einen Ökonomen, "a totalement stérilisé la concurrence. La distribution française vit dans un régime de prix administrés". Die Konkurrenz sei völlig kaltgestellt. Der französische Handel lebe in einem System behördlich kontrollierter Preise.

  • Konsequente Discounter wie Aldi und Lidl spielen in Frankreich längst nicht die Rolle wie in Deutschland. Sie haben nur einen Marktanteil von 13 Prozent, gegenüber 40 Prozent in Deutschland. Dank ihrer Marktmacht können die Discounter in Deutschland mit den Herstellern deren Preise aushandeln. In Frankreich hingegen würde, so sagte es ein Vertreter von Lidl gegenüber der Autorin, die Hersteller die Preise "dekretieren".
  • In der Regierung Fillon gibt es jetzt Bestrebungen, die Reglementierung des französischen Handels durch zahllose Gesetze ein wenig zu lockern.

    Was das Kartell der großen Handelsketten in Unruhe versetze, heißt es in dem Artikel.



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    12. September 2007

    Randbemerkung: "Eine typische Frau aus dem Osten" - so Sarkozy über Merkel

    Die Pressekonferenz im Garten des Schlosses Meseberg nach dem Treffen Merkel- Sarkozy wurde von Phoenix übertragen. Dabei zeigte Sarkozy ein eigenartiges Verhalten: Wann immer die Kanzlerin eine Frage beantwortete, zupfte er nervös an sich herum, nickte er jemandem aus dem Publikum zu, blickte er gen Himmel - kurz, zeigte er alle Anzeichen dessen, was französisch "s'ennuyer" heißt.

    Ein Wort, das etwas andere Bedeutungselemente hat als das deutsche "sich langweilen"; denn die nicht- reflexive Form bedeutet sowohl "langweilen" als auch "ärgern". Und so wirkte der Präsident: Verärgert- gelangweilt.

    Das war sehr auffällig; aber ob es demonstrativ war, blieb offen. Es war es, wie wir jetzt wissen.



    "Le couple franco-allemand", das französisch- deutsche Paar - so nennt man in Frankreich das, was wir nüchterner als die deutsch-französische Zusammenarbeit bezeichnen.

    Daß es bei diesem Paar Beziehungsstreß gibt, das wurde in den letzten Tagen bereits in Deutschland gemeldet. Aber die Quelle war im wesentlichen ein einziger Bericht, der von Matthias Beermann in der "Rheinischen Post".

    Jetzt gibt es aber eine Bestätigung aus Frankreich, und sogar eine offizielle: Heute fand in Frankreich die routinemäßige Sitzung des Conseil des ministres statt. Diesen Kabinetts- Sitzungen steht der Staatspräsident vor. Und Sarkozy berichtete über seine Reise zur Partnerin Merkel.

    Darüber informierte soeben der Regierungssprecher Laurent Wauquiez die Presse: "Il a souligné que l'échange avait été très franc"; Sarkozy habe unterstrichen, daß der Austausch sehr freimütig gewesen sei. Der "Nouvel Observateur" weist in seinem Bericht darauf hin, daß dies in der Diplomaten- Sprache bedeutet: Es gab große Spannungen.

    Ansonsten berichtet der Regierungssprecher - bei Sarkozy nicht wirklich überraschend - nur von Erfolgen des Präsidenten:
  • Er habe die Zustimmung der Kanzlerin zu seinem Vorschlag erreicht, einen "Rat der Weisen" einzurichten, der über die Zukunft der Europäischen Union nachdenken soll.

  • Er habe ihre Zustimmung zu seinem Wunsch erreicht, die Transparenz der Finanzmärkte zu einem Thema der nächsten Sitzungen der Europäischen Union zu machen.

  • Angela Merkel habe sich auch "bewegt", was die Frage des chinesischen Yuan angehe. Die Kanzlerin habe eingesehen ("reconnue" - erkannt oder auch anerkannt), daß die Unterbewertung eine Schwierigkeit darstellen könne.


  • Wie man es mittlerweile von Sarkozy kennt: Er stellt sich dar - oder läßt sich darstellen - als derjenige, der international die Dinge bewegt, der sich mit seinen Ideen durchsetzt.

    So war es in Bezug auf die Brüsseler Konferenz, deren Ergebnis er sich ans Revers heftete. So war es bei der Befreiung der bulgarischen Geiseln in Libyien, die er als seinen Erfolg feierte.

    Jetzt also ist er - so läßt er es darstellen - dabei, Angela Merkel zu belehren, was getan werden muß.

    Und wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen:
    Nicolas Sarkozy "a expliqué qu'il fallait apprendre à se connaître au delà des mots, que l'Allemagne avait effectué une profonde mutation dont on n'avait pas forcément jusque là mesuré l'ampleur avec le déplacement de Bonn à Berlin, que la personnalité d'Angela Merkel, qui était une femme de l'Est avec toutes ses qualités, était aussi un changement", selon Laurent Wauquiez.

    Nicolas Sarkozy hat laut Laurent Wauquiez "erläutert, daß man sich mehr als nur mit Worten kennenlernen müsse, daß in Deutschland mit dem Umzug von Bonn nach Berlin ein tiefgreifender Wandel eingetreten sei, dessen Umfang man bisher nicht unbedingt ermessen habe, daß die Persönlichkeit von Frau Merkel, die mit allen ihren Eigenschaften eine Frau aus dem Osten sei, auch eine Veränderung bedeute".
    Aus dem Mund Sarkozys, dessen Weltbild von den Polen "dynamischer Kapitalismus - unfähiger Sozialismus" geprägt wird, ist das ungefähr die vernichtendste Art, wie man durch die Blume sagen kann, daß man von jemandem nichts hält.

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    25. August 2007

    Gedanken zu Frankreich (18): Deutschland bewegt sich nach links, Frankreich nach rechts - warum?

    In Deutschland hat kürzlich eine TSN Emnid- Umfrage im Auftrag der "Zeit" Aufsehen erregt, die darauf hindeutet, daß die Deutschen in ihrer Mehrheit links sind.

    In dieser aktuellen Umfrage bezeichneten sich 34 Prozent der Befragten als links und nur 11 Prozent als rechts. 1981 war die Relation umgekehrt (17 Prozent links, 38 Prozent rechts) und 1991 immerhin noch ungefähr ausgeglichen gewesen (24 Prozent links, 26 Prozent rechts; der Rest lokalisierte sich jeweils in der Mitte).

    Selbst von den Anhängern der Union bezeichneten sich 25 Prozent als links und nur 22 Prozent als rechts. (Die Union dürfte damit die einzige Partei der rechten Mitte in Europa, vielleicht weltweit sein, die - nach deren eigenen Aussagen - mehr linke als rechte Anhänger hat!).

    Zum Teil mögen diese Antworten einer intensiven öffentlichen Diskussion geschuldet zu sein, in der - vor allem, aber leider nicht nur von Seiten der Kommunisten und ihrer Verbündeten - der Begriff "rechts" ständig mit "rechtsextrem" identifiziert und damit diskreditiert wird. (Auch das ist eine deutsche Besonderheit; kein Franzose käme auf den Gedanken, "la droite" und "l'extrême-droite" auch nur in eine Nähe zueinander zur rücken).

    Aber das kann nicht die ganze Erklärung sein. Denn auch in den Einstellungen zu vielen politischen und gesellschaftlichen Einzelfragen fanden die Demoskopen bei der Mehrheit der Deutschen eine Linksneigung.

    So glauben 72 Prozent, daß die "Regierung zu wenig für soziale Gerechtigkeit" tue. 68 Prozent sind für die Einführung von Mindestlöhnen. Nur 15 Prozent sind mit der Rente mit 67 einverstanden.

    67 Prozent sind dafür, daß Bahn, Telekom, Energieversorgung in Staatsbesitz sind; nur 27 Prozent wollen sie in privatem Besitz sehen. Und während die Macht der Gewerkschaften bei früheren Umfragen mehrheitlich als "zu groß" beurteilt wurde, ist jetzt eine Mehrheit, fast die Hälfte der Befragten (46 Prozent), der Meinung, sie sei "zu klein".



    Im aktuellen "Nouvel Observateur" werden die Ergebnisse einer Umfrage des Instituts TNS Sofres vorgestellt, die zwar einen etwas anderen Hintergrund hat, die aber auch auf die Haltung der Befragten zu linken und rechten politischen Positionen zielt. (Die Web- Version des Artikels enthält nicht die Ergebnis- Tabellen. Ich zitiere aus diesen aufgrund der gedruckten Ausgabe des "Nouvel Observateur").

    In dem Begleit- Artikel von Claude Ascolovitch geht es um die Gründe für die Niederlagen der PS bei den vergangenen Wahlen und um die Aussichten dieser Partei. Dazu wurde, ähnlich wie in der deutschen Umfrage, die Meinung zu politischen Streitfragen erhoben. Und fast durchweg fand sich eine Mehrheit für rechte Positionen:
  • Die von der rechten Mehrheit in der Nationalversammlung beschlossene Einschränkung des Streikrechts (Service Minimum) wurde von 67 Prozent als "angemessen" beurteilt. Nur 30 Prozent fanden sie "nicht angemessen".

  • Eine Verschärfung der Strafandrohung für Rückfall- Täter wird von 62 Prozent begrüßt; nur 32 Prozent lehnen sie ab.

  • Die Legalisierung von illegal in Frankreich lebenden Ausländern - ein Lieblingsprojekt der Linken - wird von 56 Prozent abgelehnt. Lediglich 38 Prozent würden sie begrüßen.

  • Eine Verkürzung der Arbeitszeit lehnen sogar 68 Prozent ab; nur 28 Prozent sprechen sich dafür aus.

  • Als aussichtsreiches Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sprechen sich 49 Prozent für "größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt" aus. Das linke Rezept, die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer zu verbessern, halten nur 39 Prozent für den richtigen Weg.

  • Und das vielleicht erstaunlichste Ergebnis: Auf die Frage nach der Haltung zur Marktwirtschaft entschieden sich nur 16 Prozent für die Aussage: "Sie ist ein schlechtes System und muß geändert werden". Volle 65 Prozent der Befragten bejahten dagegen die Aussage: "Sie ist das am wenigsten schlechte System; sie sollte ausgebaut werden".
  • Gewiß, es handelt sich um andere Fragen als diejenigen, die den Befragten von Emnid gestellt wurden. Aber es ist doch offensichtlich, daß die Franzosen - heutzutage, in dieser aktuellen Befragung - in ihrer Mehrheit rechte politische Positionen bevorzugen, während die Deutschen im Zweifelsfall - heutzutage, in der deutschen aktuellen Befragung - nach links neigen. Warum ist das so?



    Es ist eine triviale Feststellung, daß es für solche Unterschiede nie eine einzige Ursache gibt. Es ist ebenso trivial, daß die Frage nach den Ursachen eine empirische Frage ist; eine für die empirische Sozialforschung also.

    Aber dies gesagt - ich möchte eine Hypothese zur Diskussion stellen. Sie ist spekulativ, wie anders. Aber sie scheint es mir wert, in Betracht gezogen zu werden. Sie ergänzt das, was ich früher über eine strukturelle linke Mehrheit im wiedervereinigten Deutschland geschrieben habe.



    Seit den achtziger Jahren standen Deutschland und Frankreich vor im wesentlichen denselben Problemen:
  • Sie hatten ein System der sozialen Rundum- Versorgung, das immer weniger zu bezahlen war.

  • Sie hatten Arbeitnehmer, die es gewohnt waren, für immer höhere Löhne immer weniger zu arbeiten.

  • Sie hatten einen unterentwickelten Dienstleistungs- Sektor (sieht man von den staatlichen "Dienstleistungen" ab, die freilich wenig von Dienst und viel von Herrschaft an sich hatten).

  • Und vor allem hatten sie eine Industriestruktur, die überhaupt nicht fit für den heraufziehenden Wettbewerb mit den sich schnell industrialisierenden Staaten Asiens war.


  • Anders als zum Beispiel Großbritannien, Neuseeland, Holland, die skandinavischen Staaten reagierten Frankreich und Deutschland auf diese Herausforderungen, indem die Regierungen den Kopf in den Sand steckten.

    In Frankreich waren in den achtziger Jahren die Sozialisten und die Kommunisten an der Macht. Für sie war die Globalisierung nur ein Trick des bösen Kapitals, um die Arbeiter noch mehr auszubeuten.

    In Deutschland gab es zwar die rechte Regierung Kohl; aber ihre zaghaften Reformversuche wurden durch die Obstruktionspolitik der SPD im Bundesrat blockiert.

    In den neunziger Jahren, bis hinein ins neue Jahrtausend änderte sich in beiden Ländern im Grunde nichts.

    Deutschland war zunächst mit den Folgen der Wiedervereinigung beschäftigt; dann leisteten sich die Deutschen eine rotgrüne Regierung, die fünf Jahre lang mit geradezu diabolischer Zielsicherheit das Gegenteil von dem tat, was notwendig gewesen wäre.

    In Frankreich schleppten sich die Regierungen unter Mitterand bis 1995 hin; zuletzt in Gestalt einer Cohabitation, in der Mitterand mit einer rechten Mehrheit in der Nationalversammlung regieren mußte.

    Als Jacques Chirac seine Nachfolge antrat, gab es eine kurze Phase eines rechtsliberalen Aufbruchs. Aber bald neutralisierten sich die beiden Regierungsparteien (die Gaullisten und die Liberalen) in internen Streitigkeiten gegenseitig. Dann gab es - von 1997 bis 2002 - wieder eine Cohabitation; diesmal zur Abwechslung die einer linken Parlaments- Mehrheit mit einem rechten Präsidenten.

    Und über all dem wurde Chirac immer kraftloser; ähnlich wie Kohl in seinen letzten Jahren. Selten waren die Franzosen über den Abschied eines Präsidenten so froh wie im Mai dieses Jahres, als sie Chirac endlich losgeworden waren.



    Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein hatte also weder Frankreich noch Deutschland eine Regierung, die die Herausforderungen der Globalisierung akzeptierte; die die dringend erforderlichen neoliberalen Reformen anpackte.

    Als es dann aber doch so weit war, geschah es auf radikal verschiedene Weise. Und darin liegt, so scheint mir - so lautet jedenfalls die Hypothese - der Grund dafür, daß in Deutschland heute eine linke, in Frankreich eine rechte Grundstimmung herrscht.



    In beiden Ländern wurden zwar nach der Jahrtausendwende die Probleme so offensichtlich, daß es eine breite öffentliche Diskussion darüber gab, was geändert werden mußte.

    Aber die Änderung, die Wende vollzog sich auf völlig verschiedene Art.

    In Frankreich hatten sich sowohl François Bayrou als auch Nicolas Sarkozy zu Anwälten marktwirtschaftlicher Reformen gemacht; der eine mehr am modernen Neoliberalismus orientiert, der andere mehr an der ordoliberalen Position Ludwig Erhards.

    Diese beiden Kandidaten, die beide Wirtrschaftsliberale sind, erreichten im ersten Wahlgang der Präsidentschafts- Wahlen zusammen genau 50 Prozent der Stimmen; gegenüber 26 Prozent für die sozialistische Kandidatin und rund 37 Prozent für die gesamte Linke.

    Die Franzosen hatten sich also, nach einer breiten öffentlichen Diskussion und mit vollem Bewußtsein dessen, worauf sie sich einließen, für liberale Reformen entschieden. Sie erwarten jetzt, daß diese Früchte tragen und sind also in ihrer Mehrheit rechts.



    In Deutschland dagegen hat die rotgrüne Regierung von ihrem Amtsantritt im Herbst 1998 bis zum März 2003 alle liberalen Reformen verteufelt. In ihren ersten Jahren machte sie viele der Reformen Kohls wieder rückgängig; später fand eine "Politik der ruhigen Hand", d.h. des Nichtstuns, statt.

    Mit heftiger Ablehung aller neoliberalen Reformen hatte Schröder die Wahlen im Herbst 2002 gewonnen. Einige Monate später putschte er.

    Das ist die richtige Bezeichung für das, was Schröder zwischen den Dezember 2002 und seiner Regierungserklärung am März veranstaltete: Erst wurde ein Strategiepapier aus dem Kanzleramt Ende Dezember an die Öffentlichkeit lanciert. Dann gab es hektische Aktivität der Regierung und in den Regierungsparteien. Und am 14. März 2003 hörte die staunende Nation eine Regierungserklärung von Gerhard Schröder, die das genaue Gegenteil der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen proklamierte, mit denen er ein halbes Jahr zuvor die Wahlen gewonnen hatte.



    Viele Deutsche haben seither zu Recht den Eindruck, daß sie sich nicht nach einer öffentlichen Diskussion frei für liberale Reformen entschieden haben wie die Franzosen, sondern daß diese Reformen ihnen von "denen da oben" aufgedrückt wurden.

    Seither geht es abwärts mit der SPD. Zu Recht.

    Nicht, weil sie sich damals, 2003, zu den erforderlichen Reformen durchgerungen hat.

    Sondern weil die Regierung Schröder sich schlimmer als ein autoritärer Monarch verhalten hat, indem sie diese Reformen par ordre du mufti oyktroyierte. Weil Schröder, wie er es in seiner gesamten Karriere gemacht hat, erst das eine sagte und dann das andere tat; weil er, wie immer, mit einer Überrumpelungstaktik arbeitete.



    Diese Reformen sind dadurch von Anfang an in den Ruch des Willkürlichen, des Ungerechten geraten. Der Aufstieg der WASG, der dann zum Aufstieg auch der PDS führte, hat darin seine Ursache.

    Die Deutschen sind jetzt mehrheitlich links, weil sie mehrheitlich diese liberalen Reformen nicht als notwendig, sondern als eine Willkür wahrgenommen haben. Genau umgekehrt wie die Franzosen, die in ihnen eine Chance sehen, mehrheitlich.

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    27. Juni 2007

    Gedanken zu Frankreich (15): Welche Kultur! Was für eine nationale Würde!

    Frankreich liegt in Vielem hinter Deutschland zurück.

    Deutschland ist weniger bürokratisch, ungleich weniger klassenkämpferisch als Frankreich. Wir Deutsche haben uns inzwischen entschlossen, die Globalisierung als Herausforderung zu sehen und nicht als Heimsuchung.

    Vielleicht schafft es Präsident Sarkozy, das auch den Franzosen nahezubringen; aber sie sind nun mal seit der Zeit des Merkantilismus mehr auf Schutz als auf Konkurrenz eingestimmt. Frankreich zu liberalisieren - das ist eine Herkules- Aufgabe.

    Deutschland hat einen weit stärkeren, selbstbewußteren Mittelstand als Frankreich. "On se défend", das ist das Motto des französischen Mittelstands; man verteidigt sich. "Das wollen wir doch mal sehen" das des deutschen.

    Kurz, wir Deutsche sind ungleich liberaler als Frankreich, also in fast allen Bereichen erfolgreicher. Wir sind amerikanisiert, das ist unsere Stärke.



    Aber es gibt Bereiche, in denen wir hinter Frankreich zurück sind; wo wir Frankreich bewundern sollten.

    Nun gut, die Küche, das savoir vivre. Klischees. Auch zweifelhaft. In Baden ißt man nicht schlechter als im Elsaß.

    Aber in zwei Bereichen sind die Franzosen uns wirklich gewaltig überlegen: In der Kultiviertheit und in der nationalen Würde.



    Ich war in Paris, als sich die Passation des Pouvoirs vollzog, die Übertragung der Gewalten von Chirac auf Sarkozy. Welche Würde, welche Feierlichkeit!

    Und heute nun die Eröffnungssitzung des Parlaments. LCP hat sie übertragen.

    Es gab einige Eigenheiten, die vielleicht auch die deutschen Parlamentarier übernehmen sollten. Zum Beispiel wurde die Wahlkommission zur Wahl des neuen Parlaments- Präsidenten vom Alterspräsidenten per Verlosung ermittelt; zum Beispiel wurde - das finde ich sehr hübsch - das Los gezogen, um zu entscheiden, bei welchem Buchstaben die namentliche Abstimmung beginnen würde.

    Aber was mich beeindruckt hat - und was der Anlaß für diesen Beitrag ist -, das war die Rede des Alterspräsidenten Loic Bouvard. Ein Mann, der als Fünfzehnjähriger noch in der Résistance gekämpft hat, ein überzeugter Liberal- Konservativer, der seit Jahrzehnten in die Nationalversammlung gewählt wird.

    In seiner Rede hat er natürlich große Franzosen zitiert - und ausführlich Robert Musil!

    Kann man sich einen deutschen Alterspräsidenten vorstellen, der so gebildet ist, daß er, sagen wir Paul Valéry zitiert? Und der dabei voraussetzen kann, daß die Abgeordneten wissen, von wem er spricht?

    Voilà la grandeur de la Grande Nation!

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    22. Juni 2007

    De Gaulle, Thatcher, die Kaczynskis: Wiederholt sich die Geschichte?

    Europa hatte es schwer mit Charles de Gaulle, es hatte es noch schwerer mit Margaret Thatcher.

    So schwer wie jetzt mit dem Polen der Brüder Kaczynski hatte es Europa noch nie; nicht seit dem Beginn der Einigung mit der Montanunion.

    Für de Gaulle war La France Alles; manche meinten, er hielte sich selbst für die Verkörperung der Grande Nation. Für ihren Retter hielt er sich ganz gewiß, und dazu hatte er Grund.

    Margaret Thatcher dachte wie er in den Kategorien der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Für sie gab es Britain und Europe. Getrennt durch den Ärmelkanal, getrennt durch den Gegensatz zwischen Vernunft und Revoluzzerei, getrennt durch Pragmatismus auf der einen und einen rationalistischen Dogmatismus auf der anderen Seite.



    In gewisser Weise waren aber beide schon Europäer.

    De Gaulle war Europäer, insofern er sein Vaterland als das größte und beste, das vor allem kultivierteste aller europäischen Vaterländer sah. Mit ihnen wollte er gut auskommen; Frieden halten. Aber nichts aufgeben von den Vaterländern ("L'Europe des Patries").

    Margaret Thatcher war Europäerin insofern, als sie die klassische britische Sichtweise teilte, daß Großbritannien in Europa vitale Interessen hat; vor allem dasjenige, die Vormacht eines einzigen Staats in Europa zu verhindern.

    Beide dachten aber nicht im Traum daran, die nationalen Interessen ihres Landes, gar seine Souveränität zur Disposition zu stellen zugunsten eines europäischen Staatenbundes oder - am Ende - horribile dictu - Bundesstaats.



    Stehen die Kaczynskis in der Tradition dieser beiden, wenn sie jetzt in Europa auftrumpfen und den Wilden Mann geben; wenn sie sich in Quertreibereien gefallen? Wenn sie ein Pathos anstimmen wie de Gaulle und vom Zweiten Weltkrieg reden wie Margaret Thatcher?

    In einem Punkt ja, in drei Punkten nicht, scheint mir.



    Wie de Gaulle und Thatcher sind sie Patrioten, die man auch Nationalisten nennen könnte.

    Die Gründerväter Europas waren das nicht - Adenauer, Schuman, de Gasperi, Spaak, Bech, Luns. Sie waren Männer, die aus den Katastrophen der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts den Schluß gezogen hatten, daß es vorbei sein müsse mit Patriotismus und Nationalismus.

    Genauer: Sie waren schon auch Patrioten - aber nicht nur deutscher, französischer, belgischer Patriot, sondern das erst in zweiter Linie; in erster Linie aber waren sie europäische Patrioten. Katholiken, die geprägt waren von unserer gemeinsamen abendländischen Kultur.

    De Gaulle und Thatcher hatten nicht diese Beziehung zum Abendland; die Kaczynskis offenbar auch nicht. Insofern gehören sie in diese Tradition. Sie sehen sich in der ausschließlichen Verantwortung für ihr Vaterland, überhaupt nicht für Europa. Jedenfalls, sofern das aus ihrem Verhalten zu erschließen ist.

    Aber dreierlei unterscheidet sie von de Gaulle und Thatcher.



    Diese beiden waren, zum ersten, nicht nur überzeugte Demokraten, sondern sie stützten sich auch ausschließlich auf eine große demokratische Partei.

    Die Kaczynskis hingegen arbeiten im Bündnis mit zwei Parteien, die nach deutschen oder französischen Maßstäben rechtsextrem und linksextrem sind: Der "Liga Polnischer Familien" und der "Notwehr der Republik Polen". Die Vorsitzenden beider Parteien sind Vize- Ministerpräsidenten.

    Von einer solchen Regierung pro-europäisches Verhalten zu erwarten wäre so naiv, als würde man das von einer deutschen Regierung erwarten, in der der DVU-Frey und der PDS-Bisky Vizekanzler sind; unter einem Kanzler, der weit rechts von jedem Abgeordneten des Deutschen Bundestags steht.



    Zweitens waren de Gaulle und Thatcher weltläufige Menschen. Gebildet; im Lauf ihres Lebens mit vielen kulturellen und politischen Erfahrungen konfrontiert gewesen, bevor sie die höchste Verantwortung in ihrem Land erlangten.

    Die Kaczynskis sind das nicht, was nicht ihre Schuld ist.

    Es ist die Schuld der polnischen Kommunisten, die "ihre Menschen" ebenso eingesperrt, von Informationen, von der Welt abgeschnitten haben wie die DDR- Kommunisten.

    Bis zur Wende kannten beide Zwillingsbrüder nichts als Polen. Sie haben sich gegen die Kommunisten wacker geschlagen, beide in der "Solidarnosc". Einen europäischen Horizont konnten sie in dieser Zeit nicht gewinnen; nicht kulturell, nicht politisch.



    Und drittens gibt es einen zentralen Unterschied, der in diesen Tagen immer deutlicher wird: Mit ihrem nationalistischen Gehabe sind die beiden Zwillinge nur sozusagen die Personifizierung eines objektiven Problems: In sechzig Jahren Nachkriegszeit wurde es versäumt, die deutsch- polnische Vergangenheit aufzuarbeiten.

    In der alten Bundesrepublik war kein anderes Land so wichtig gewesen wie Frankreich. Die Aussöhnung mit den Franzosen wurde über die Jahrzehnte auf allen Ebenen engagiert betrieben. Unter allen Regierungen, von allen Parteien. Von Intellektuellen und Wissenschaftlern.

    Allmählich verschwand die "Erbfeindschaft". Psychologische Vorbehalte, über Generationen aufgebaut, wurden diskutiert, relativiert, schließlich eliminiert.

    Am Ende stand nicht nur die völlige Beseitigung der alten Feindschaft, sondern sogar ein Verhältnis besonderer Freundschaft. In Frankreich hat sich die Rede vom "Couple Franco-Allemand", vom deutsch-französischen Paar, eingebürgert.

    Nichts davon war, aufgrund der Herrschaft der Kommunisten, mit Polen möglich.

    Wir in der alten Bundesrepublik waren froh, daß die Polen weit weg waren, durch den Korridor der DDR von uns getrennt.

    Gewiß, es gab auf einigen Ebenen Kontakte und Kontaktversuche - die "deutsch- polnische Schulbuchkommission" zum Beispiel. Aber im Bewußtsein der Westdeutschen existierte Polen im Grunde nicht; außer für die Heimatvertriebenen, die logischerweise keine erfreulichen Erinnerungen hatten.

    Und in der DDR? Dort wurde das Verhältnis zu Polen so wenig aufgearbeitet wie die Nazi- Zeit. In Bezug auf beides gab es eine dröhnende Propaganda, aber keine ehrliche Diskussion.

    Wie zu allen politischen Themen wurden den DDR- Bürgern zu Polen gestanzte Formeln vorgesetzt; allen voran die von der "unverbrüchlichen Freundschaft" und von der "Friedensgrenze". (Gestern abend hat Maybritt Illner unverständlicherweise diesen kommunistischen Agitprop- Begriff verwendet).

    Das Verhältnis zu den Polen aber blieb lauwarm bis eisig; wie bei jeder erzwungenen Freundschaft. Man kannte einander nicht; man schätzte einander nicht.

    Hinzu kam der Nationalismus, der mit jedem Sozialismus notwendig verbunden ist. Denn wenn der Staat die Wirtschaft beherrscht, dann ist wirtschaftliche Konkurrenz nationale Konkurrenz.

    Die Polen sahen, daß es den DDR- Deutschen besser ging als ihnen, weil sie von der Existenz der Bundesrepublik profitierten. Beide lagen zudem in Konkurrenz miteinander bei dem Versuch, sich der Ausbeutung durch die Russen zu erwehren.



    Also, gemessen am deutschen Verhältnis zu Frankreich sind wir in Bezug auf Polen vielleicht im Jahr 1960. Die Verständigung, die Aussöhnung steht noch am Anfang.

    Solche sinistren Sachverhalte kehren wir gern unter den Teppich. Und es ist das Verdienst der Brüder Kaczynski, den Teppich gelüftet zu haben.

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    5. Mai 2007

    Gedanken zu Frankreich (11): Ist Frankreich modernisierbar? Wird vielleicht Deutschland wie Frankreich werden?

    Im Grunde ist die Frage, wie das moderne Frankreich aussehen könnte, aussehen sollte, vielleicht aussehen muß, einfach zu beantworten: So, wie die erfolgreichen Staaten des kapitalistischen Westens.

    Also wie die angelsächsischen Staaten (die USA, England, Kanada, Australien, Neuseeland); wie die skandinavischen Länder; wie Spanien, das sich in einem erstaunlichen Prozeß aus einer rückständigen Diktatur zu einem modernen kapitalistischen, demokratischen Land gewandelt hat.

    Und natürlich wie Deutschland.



    Viele Diskussionen während des französischen Wahlkampfs durchzog der Vergleich mit uns, den östlichen Nachbarn, den voisins d'outre-Rhin, wie man in Frankreich gern sagt, die immer ersehnte Rheingrenze im Blick.

    Warum schafft Frankreich nicht das, was Deutschland hinbekommen hat? Die Antworten - die der rechten, der liberalen Politiker, die vieler Wissenschaftler - waren in den Diskussionen, die ich verfolgt habe, eigentlich immer dieselben: Weil Deutschland sich den Herausforderungen Europas, der Globalisierung, der Dienstleistungs- Gesellschaft gestellt hat. Während in Frankreich die politischen Kämpfe des Zwanzigsten, wenn nicht des Neunzehnten Jahrhunderts weiter ausgetragen werden.

    Wie wahr das ist, - dafür hat gestern Ségolène Royal den Beweis geliefert; mit einer Klassenkampf- Rhetorik, die man in Deutschland allenfalls von Kommunisten erwarten würde.



    Warum ist Frankreich politisch so weit hinter Deutschland zurück, obwohl es in anderer Hinsicht - in der Bildung und vor allem der Ausbildung der Eliten, in der Technologie, auch der gesellschaftlichen Akzeptanz der Hochtechnologie - noch immer weit vor Deutschland liegt?

    Im ersten Teil dieser Überlegungen habe ich auf die Rolle des Parteiensystems hingewiesen. Das Frankreich der Vierten Republik war, wie die italienische Nachkriegsrepublik, wie die deutsche Weimarer Republik, durch starke extremistische Parteien gelähmt gewesen, vor allem die Kommunistische Partei. Da niemand sie in der Regierung haben wollte, blieben nur Koalitionen aller restlichen Parteien, in wechselnden Konstellationen. Damit eine unglückliche Kombination von ständiger Unruhe an der Oberfläche und darunter Immobilismus.

    Die Fünfte Republik hat das beseitigt, ist dabei aber gewissermaßen von der Skylla weg direkt in die Fänge der Charybdis geraten: Es gibt nun einen funktionierenden Wechsel zwischen linker und rechter Mehrheit - aber die linke ist von den Linksextremisten abhängig, und die rechte von den Rechtsextremisten.

    Würde Royal gewählt werden, dann nur dank der Stimmen von Anhängern von Parteien, die gegen den demokratischen Rechtsstaat, gegen den Kapitalismus, gegen die Globalisierung, gegen den Liberalismus sind.

    Sarkozy wird mit den Stimmen von Menschen gewählt werden - und ihnen seine Wahl verdanken - die in allen diesen Punkten ihren linken Zwillingen gleichen wie ein Ei dem anderen; nur daß es nationalistisch statt kommunistisch etikettiert ist.



    Kein französischer Präsident, keine französische Regierung kann sich dieser Abhängigkeit entziehen.

    Zumal, weil die linken Extremisten in den Gewerkschaften einen sehr starken verlängerten Arm haben; vor allem in den Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes (der Lehrer, der Eisenbahner zum Beispiel), die auch unter den vergangenen rechten Regierungen Reformen immer wieder erfolgreich boykottiert haben.

    Ebenso wird Sarkozy keine durchgreifenden Reformen hinbekommen, die dem Nationalismus, der Europafeindlichkeit, der Globalisierungsfeindlichkeit und Intoleranz seiner rechtsextremen Wähler zuwiderlaufen. Die rechten Abgeordneten, auf die er sich stützt, würden ihre Wiederwahl gefährden, wenn sie zustimmten; er selbst jede Chance auf eine zweite Amtszeit verspielen.



    Der politische Extremismus ist im Einundzwanzigsten Jahrhundert in den Ländern westlich der Ukraine keine Gefahr mehr in dem Sinn, daß irgendwo die Möglichkeit eines totalitären Regimes bestünde; als Ergebnis eines Putschs oder gar einer Revolution. Das ist vorbei.

    Aber die Gefahr, daß man nicht zwischen Skylla und Charybdis hindurchkommt - oder, in einer drastischeren Metapher, daß nur die Wahl zwischen Pest und Cholera bleibt -, ist sehr real.

    Frankreich hat sozusagen erst die Pest erlebt; in der Vierten Republik - den Immobilismus von zu unnatürlichen Koalitionen gezwungenen demokratischen Parteien, da weder die demokratische Rechte noch die demokratische Linke eine Mehrheit hatte.

    Und Frankreich hat dann, in der Fünften Republik, die Cholera kennengelernt - rechte Regierungen, die von den Stimmen von Wählern der Rechtsextremen abhängig waren; linke Regierungen, die zum Teil sogar Kommunisten als Minister hatten. (Chiracs letzte fünf Jahre waren eine Ausnahme gewesen; und er hat sie nicht genutzt).



    Warum ist uns Deutschen das im vergangenen halben Jahrhundert erspart geblieben? Aus einem einzigen Grund: Weil aufgrund unserer Vergangenheit, und aufgrund der abschreckenden Gegenwart der DDR, sowohl der Links- als auch der Rechtsextremismus vollkommen diskreditiert gewesen waren.

    Mit anderen Worten: Bis 2005 hatte es immer eine linke oder eine rechte demokratische Mehrheit im Bundestag gegeben. Nach den Bundestags- Wahlen 2005 war das erstmals nicht mehr der Fall; weil die PDS, dank der Unterstützung durch die WASG, erheblich stärker in den Bundestag eingezogen war als zuvor.

    Damit herrschen in Deutschland im Augenblick in dieser Hinsicht bereits Verhältnisse wie in der französischen Vierten Republik und in der Weimarer Republik: Wenn man die Extremisten nicht in die Regierung aufnehmen will, bleibt nur eine unnatürliche Koalition zwischen linken und rechten demokratischen Parteien.

    2005 wurde es eine Große Koalition. Aber auch Ampel oder Jamaika wären ja unnatürliche Koalitionen gewesen.



    Nach den Wahlen 2009 wird die SPD sehr wahrscheinlich der Versuchung ausgesetzt sein, mit den Grünen und den Kommunisten eine Volksfront- Regierung zu bilden. Dann herrschen Verhältnisse wie in der Fünften Republik, unter Mitterand.

    Oder sie widersteht; dann wird es eine unnatürliche Koalition der Mitte geben. Es sei denn, CDU und FDP erreichen eine gemeinsame Mehrheit, was sehr unwahrscheinlich ist.

    François Bayrou hat, so scheint mir, dieses Dilemma erkannt, was Frankreich angeht. Nicht zufällig wird seine neue Partei "Demokratische Partei" heißen, wie in den USA. Eine linke Mitte, die keine, aber auch nicht die geringsten Beziehungen zu Linksextremen hat. Schafft Sarkozy dasselbe für die Rechte, dann gäbe es ein modernes Frankreich.

    Funktionieren kann das freilich nur mit einem strikten Mehrheitswahlrecht. Auch Deutschland würde - soweit ich sehe - nur dann die Wahl zwischen Pest und Cholera erspart bleiben, wenn es ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild gäbe, das Extremisten keine Chance läßt; das auch extremistische Parteien gar nicht erst aufkommen oder Bestand haben läßt, weil sie politisch nicht wirken können.

    Nur wird es das wohl kaum geben; in Frankreich so wenig wie in Deutschland.

    4. März 2007

    Viel Phil

    Ich bin frankophil.

    Ich liebe die französische Sprache, die französische Kultur. Wenn es irgend geht, fahre ich nach Paris, steige in meinem Lieblingshotel im 1. Arrondissement ab, in der Rue du Roule, gehe in meinem Lieblingslokal essen, wo die Wirtin mich kennt, mir ihre neueste Création empfiehlt und mit dem deutschen Gast über dies und jenes schwatzt.

    Sie war schon Wirtin, als es die Halles noch gab, sie erzählt gern über diese gute alte Zeit, die ich ja auch erlebt habe, weil ich seit fast einem halben Jahrhundert nach Paris fahre.

    Vielleicht habe ich schon 1965 bei ihr gegessen; wir konnten das leider nicht klären.



    Ich bin ein großer Freund Amerikas. Ich bewundere dieses Land, dessen Verfassung die Aufklärung in Realität umgesetzt hat. Nie in der Geschichte der Menschheit ist ein so gutes politisches System ersonnen und realisiert worden; sonst hätte es sich ja nicht mehr als 200 Jahre halten können.

    Ich bin also amerikophil, so wie ich frankophil bin.



    Und ich bin germanophil. Ich bin ein deutscher ... naja, man sagt gern: Patriot. Man könnte auch sagen: Ich bin ein bewußter Deutscher.

    Denn ich bin in dieser meiner deutschen Kultur verwurzelt.

    Ja, gewiß, ich lese und schreibe das Englische und Französische fast so gut wie das Deutsche. Einen wissenschaftlichen Text auf Englisch zu schreiben fällt mir leichter, als ihn auf Deutsch zu schreiben. Ich lese einen französischen Text so wie einen deutschen.



    Aber ich bin Deutscher. Es gibt für mich überhaupt keinen Zweifel an meiner nationalen Identität.

    Je älter ich werde, umso mehr sehe ich mich sehr bewußt als einen Deutschen.

    Man muß das natürlich präzisieren.

    Für mich bedeutet mein Deutschsein, daß ich erstens in der Tradition Preußens stehe - dieses wunderbaren Staats, der die Aufklärung in politische Realität umgesetzt hat, bevor das dann den USA ungleich besser gelang. Der erste Rechtsstaat der modernen Geschichte.

    Preußen kann man nicht genug loben. Seine Verteufelung durch die Kommunisten diskreditiert nicht Preußen, sondern die Kommunisten. Ich hoffe sehr, daß aus der Vereinigung von Berlin und Brandenburg ein neues Preußen hervorgehen wird.



    Zweitens sehe ich mich in der Tradition der süddeutschen Demokraten.

    Da entstand am Ende des 18. Jahrhundets, am Anfang des 19. Jahrhunderts ein liberales Bürgertum, ein Freiheitsbewußtsein, das in Europa seinesgleichen sucht.

    Deutschland war damals das Land der Freiheit.

    Ja, es ist wahr, daß daraus wenig wurde - so, wie überall, wo die Restauration von Metternich siegte.

    Deutschland, das von Bismarck, von Wilhelm II - das war kein Musterstaat.

    Es war aber auch kein schlechter Staat. Es war halt so, wie Staaten nun einmal sind. Durchwachsen, normal.



    Und heute? Ich lebe gern in diesem Land. Nein, es ist nicht vollkommen. Manches ist in den USA besser, anderes in Frankreich.

    Aber das gleicht sich so ungefähr aus. Alles in allem freue ich mich, in Deutschland zu leben, ein bewußter deutscher Patriot zu sein.

    10. Februar 2007

    Randbemerkung: Putin 2007, Hitler 1936

    Den ersten Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs, "The Gathering Storm", eröffnet Winston Churchill mit dem Kapitel "The Follies of the Victors", der Wahnwitz der Sieger. Darin beschreibt er, wie die Sieger des Ersten Weltkriegs ein immer noch starkes, demographisch auf Wachstum ausgerichtetes Deutschland den "bösartigen und dummen" (malignant and silly) Bestimmungen des Versailler Vertrags unterwarfen.

    Eine Einladung an dieses gedemütigte Deutschland, den Weltkrieg wieder aufzunehmen, wie Hitler das dann getan hat.



    Nein, ich will Putin nicht mit Hitler "vergleichen" oder gar "gleichsetzen". Ich will auf eine historische Parallele hinweisen.

    Deutschland hätte 1919 - Churchill beschreibt das - durch einen großzügigen Frieden, der seine berechtigten Interessen wahrte, in den Kreis der friedlichen Großmächte aufgenommen werden können. Oder man hätte es mit allen militärischen Mitteln niederhalten müssen.

    Man tat aber weder das eine noch das andere. Deutschland wurde als besiegter Feind behandelt, mit Reparationen gepiesackt. Aber zugleich ließ man es zu, daß v. Seeckt die Reichswehr als die Kadertruppe einer neuen Wehrmacht aufbaute.



    Der Verlust Osteuropas, der Zerfall der Sowjetunion hat Rußland nach 1989 ähnlich tief gedemütigt wie die Niederlage von 1918 Deutschland. Rußland verlor nicht nur sein gesamtes osteuropäisches Kolonialreich, sondern auch die baltischen Sowjetrepubliken, die Ukraine, Weißrußland, den Kaukasus.

    Diese ihren russischen Kolonialherren entronnenen Völker wußten - anders als die naiven deutschen Friedensfreunde ("von Freunden umzingelt") - , daß sie ihre Freiheit einer vorübergehenden Schwäche des russischen Herrenvolks verdankten. Daß also Rußland, sobald es wieder zu Kräften gekommen sein würde, wieder seine angestammte Rolle zurückzugewinnen versuchen würde: Die Wiederherstellung des Zarenreichs, des kommunistischen Kolonialreichs.

    Diese befreiten Völker flüchteten infolgedessen unter den Schirm der NATO. Sie machten riesige Anstrengungen, sich fit für die EU zu machen. Es war und ist ihre einzige Chance, der erneuten Kolonisierung durch die Russen zu entgehen.



    Aber so, wie v. Seeckt beharrlich und mit sehr großem Erfolg in den zwanziger Jahren die deutsche Wiederaufrüstung vorbereitete, so ist Rußland, still und heimlich, längst wieder auf dem Weg, auch militärisch zu seiner Weltmachtrolle zurückzukehren. Und damit seine Nachbarn, das heißt seine verlorenen Provinzen, erneut zu bedrohen.

    Die rührenden Vereinbarungen zur Verschrottung von Raketen ("Friedensdividende"), diese ganze Friedensbesoffenheit nach 1989, hat das lange kaschiert: Wir stehen vor einer neuen Ost- West- Konfrontation.

    Die Länder Osteuropas, die rechtzeitig der NATO und der EU beitreten konnten, wird Rußland abschreiben müssen. Umso mehr wird es um den Rest seines Kolonialreichs im Westen kämpfen - die Ukraine, Weißrußland, den Kaukasus.



    Putins heutiger Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz bedeutet, daß Rußland sich jetzt stark genug fühlt, auch nach außen hin die Konsequenzen aus seiner Aufrüstung der letzten zehn Jahre zu ziehen (so, wie sofort nach der Machtübernahme der Nazis aus den Kadern der Reichswehr wieder eine Wehrmacht aus dem Boden gestampft worden war - in demselben atemberaubenden Tempo).

    Wenn man die Parallele noch ein wenig ausreizen möchte - dieser heutige Auftritt Putins ist vergleichbar dem Einmarsch Hitlers in das entmilitarisierte Rheinland am 7. März 1936. Beide Male das Signal, das den anderen sagt: Jetzt sind wir militärisch wieder soweit, euch Paroli zu bieten. Es ist aus mit unserer Schwäche, vorbei mit der Demütigung.



    Natürlich muß man Putins heutigen Auftritt auch vor dem Hintergrund der in gut einem Jahr bevorstehenden Präsidentschaftswahlen sehen.

    In einem kürzlichen Beitrag habe ich einige Szenarien für die Fortsetzung der Präsidentschaft Putins diskutiert. Als ich das schrieb, ging mir eine weitere Variante durch den Kopf, die mir aber allzu spekulativ erschien: Putin könnte eine internationale Krise inszenieren, in der er als einziger als Retter des Vaterlands in Frage kommen würde.

    Seit heute erscheint mir das nicht mehr so abwegig. So rüde wie Putin ist meines Wissens noch nie jemand in München aufgetreten, seit es diese Sicherheitskonferenz gibt.

    23. November 2006

    Deutschland im Herbst. Oder: Die VerSPIEGELte Presse

    Mal ehrlich - wer hätte damit gerechnet, daß Deutschland nach einem Jahr Großer Koalition so gut dastehen würde?

    Außenpolitisch haben wir wieder Gewicht; die antiamerikanische Politik der Rotgrünen ist Vergangenheit. Die Achse Moskau-Berlin-Paris liegt, vor sich hinrostend, auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Innerhalb eines Jahres hat die Kanzlerin ein internationales Ansehen gewonnen, wie es selbst Helmut Schmidt und Helmut Kohl erst im Lauf von Jahren ihrer Kanzlerschaft hatten erreichen können.

    Die Wirtschaft boomt. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Der Haushalt ist nach Jahren erstmals wieder verfassungsgemäß. Die Kriterien von Maastricht werden wieder erfüllt.

    Ohne die Großkotzigkeit der Schröder-Regierungen, ohne die immer wieder "nachgebesserten" Gesetze, ohne die ständig korrigierten unsoliden Prognosen, ohne windige Schlagworte à la "Agenda 2010", ohne diese ganze Schaumschlägerei, die Rotgrün kennzeichnete, arbeitet die jetzige Regierung zurückhaltend, solide und erfolgreich. Die Kanzlerin prägt mit ihrer Persönlichkeit diesen Arbeitsstil.



    Gewiß, wir haben nun einmal keine liberalkonservative Regierung, sondern eine schwarzrote. Also gibt es manches, das wie eine Fortsetzung der rotgrünen Restaurationszeit anmutet, dieses nachgerade gespenstischen Versuchs altgewordener Linker, ihre Jugendträume aus den siebziger Jahren als Sechzigjährige in die Tat umzusetzen.

    Der bisher schlimmste Rückfall dieser Art war das unsägliche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das man im Grund nur mit einem difficile satiram non scribere kommentieren kann. Auch die Gesundheitsreform trägt diese rotgrüne "Handschrift"; obwohl sie zugleich auch diejenige der CDU trägt. Ob ein solches seltsames Palimpsest überhaupt realitätsfähig ist, bleibt abzuwarten. Ich glaube es eher nicht.



    Aber abgesehen von solchen Rückfällen und Einschränkungen hätten wir Deutsche doch jeden Grund, aufzuatmen und uns zu freuen. Der Mehltau ist weggeblasen. Deutschland ist erkennbar dabei, in die Gegenwart zurückzukehren, die Realitäten der Dritten Technologischen Revolution, der Globalisierung, der weltweiten Deregulierung und Liberalisierung zur Kenntnis zu nehmen und sich darauf einzustellen. Überall wird Deutschland reformiert; manchmal fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit, wie bei der größten Universitätsreform in der Deutschen Geschichte, der allgemeinen Einführung der Bachelor-Studiengänge, die gegenwärtig stattfindet.

    Nur, was tun die Deutschen? (Nein, nicht die Deutschen; aber doch ein erschreckend großer Teil unseres Volks): Sie motzen. Sie verweigern dieser erfolgreichen Regierung ihre Zustimmung. Ja, gewisse Umfragen werden sogar so interpretiert, daß eine Mehrheit das Vertrauen in die Demokratie verloren habe.

    Quer durch die Medien wird das mit moroser Bedenklichkeit kommentiert. Politikverdrossenheit wird mal wieder konstatiert, unsere Zukunft wird in Frage gestellt.



    Berechtigterweise? Nein, gewiß nicht. Aber alle diese düsteren Kommentare sollten schon ernstgenommen werden. Nicht, weil sie berechtigter Ausdruck einer angeblichen deutschen Misere wären. Sondern weil sie eine ihrer wesentlichen Ursachen sind.

    In unseren Medien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das abgespielt, was ich ihre VerSPIEGELung nennen möchte.

    Eine Demokratie braucht eine investigative, eine gnadenlos alle Mängel aufdeckende Presse. Sie braucht auch eine Presse, die das Bestehende radikal in Frage stellt, die den Herrschenden nicht ihre Selbstrechtfertigungen und den Dummen nicht ihre Sottisen glaubt.

    Diese Rolle hat in der Bundesrepublik der SPIEGEL gespielt; seit ihrem Bestehen. Er hat sie hervorragend gespielt. Rudolf Augstein hat sein Blatt zu Recht einmal das "Sturmgeschütz der Demokratie" genannt.

    Was ein Lob ist; aber ja doch ein sehr selbstkritisches Selbstlob. Eine Presse, die in ihrer Gesamtheit aus Sturmgeschützen besteht, würde den demokratischen Rechtsstaat schnell in Schutt und Asche schießen.

    Also: Einen SPIEGEL brauchte die Bundesrepublik, sie brauchte ihn dringend. Kein Presseorgan hat sich um die deutsche Demokratie so verdient gemacht. Aber eine Presse, die durchweg investigativ, erbarmungslos kritisch, nur aufs Aufdecken von Mängeln gerichtet ist - die ist alles andere als der Demokratie zuträglich.

    In diese Richtung aber hat sich die deutsche Presse entwickelt. Investigativ sind sie heute alle, vom Stern über die taz bis zur FAZ. Von den "politischen Magazinen" im öffentlich-rechtlichen TV ganz zu schweigen, die von Anfang an so konzipiert gewesen waren; ein deutsches Unikum.

    Auch kritisch, nicht selten ätzend kritisch, sind sie alle. Selbst die Zeit, unter Bucerius und der Gräfin von angelsächsischer Fairness, stimmt heute oft ein ins Konzert der, nennen wir sie so: Pankritiker, also der die schlechte Wirklichkeit schlechthin Bejammernden, ein.



    Warum? Nun, only bad news is good news; das ist sicher ein wichtiges Motiv. Der Wettbewerb ist härter geworden. Neid ist das vermutlich stärkste Motiv von sehr vielen Menschen. Das Aufdecken von Durchstechereien, von Intrigen und von Versuchen Mächtiger, sich ungerechtfertigt zu bereichern - das ist ein sicheres Mittel, Leser zu finden, Quote zu machen. Es war früher das Alleinstellungsmerkmal des SPIEGEL und, auf einer anderen Ebene, der Boulevardpresse. Heute ist es das Erfolgsrezept eines großen Teils aller Medien.

    Aber natürlich kann die Presse nicht eine Unzufriedenheit erzeugen, wenn es dafür nicht eine reale Basis gibt. Viele Menschen in Deutschland, wie viele Menschen in ganz Westeuropa, haben Angst. Sie sind zu Recht beunruhigt, denn wir befinden uns nun einmal in einer historischen Situation, in der wir Westeuropäer es viel schwerer haben werden, als wir es in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatten, unserem Goldenen Zeitalter.

    Wir vergreisen, wir sehen uns zunehmend mächtiger wirtschaftlicher Konkurrenz gegenüber, wir müssen mit Einwanderung zurechtkommen. Wir schienen den Reichtum gepachtet zu haben, und nun müssen wir ihn nicht nur mit der ganzen Welt teilen, sondern es besteht die reale Gefahr, daß wir ärmer werden. Wir sind nicht mehr besser als die anderen, und bald werden wir vielleicht viel schlechter sein.

    Die Angst vor einer derartigen Entwicklung versuchen viele Menschen an Personen festzumachen, an Institutionen; sie irgendwie zu konkretisieren.

    Sie versuchen, ihre Angst zu beherrschen, indem sie ihr Namen und Bilder zuordnen. Indem sie sie auf das Versagen bestimmter Parteien, auf die Schlechtigkeit der "politischen Klasse", auf die "Gier" der Manager und dergleichen zurückführen. So, wie unsere Vorfahren Dämonen oder den Teufel für das verantwortlich gemacht haben, dem sie sich ausgeliefert fühlten und das sie anders nicht begreifen konnten.

    Man muß also realistisch sein. In gewissem Umfang müssen wir mit einer negativen Grundstimmung vieler Deutscher leben; auch wenn wir - hoffentlich - 2009 eine liberalkonservative Regierung bekommen, die, wenn sie über mehrere Legislaturperioden Bestand haben sollte, Deutschland wieder ganz nach vorn bringen könnte. Eine neue Adenauerzeit, eine neue Kohl-Epoche ist durchaus möglich.



    Es sei denn, daß diese negative Grundstimmung uns 2009 eine Linksregierung beschert; bestehend aus der SPD mit den Grünen und/oder der PDS.

    Dann allerdings müßten auch diejenigen, die wie ich Optimisten sind, wohl ihre Position korrigieren. Eine erneute Linksregierung könnte Deutschland wahrscheinlich nicht überstehen, ohne daß wirklich der Niedergang eintritt, den jetzt viele fürchten.

    Aber noch bin ich Optimist. Bei Wahlen geht es ja immer nur um einen Swing von ein paar Prozent. 2005 waren es ein paar Prozent Dumme, die sich mit dem Gespenst des "Professors aus Heidelberg" schrecken ließen. Warum sollten es 2009 nicht ein paar Prozent Intelligente sein, deren Herz zwar links schlägt, die aber bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen und die deshalb, sagen wir, liberal wählen?