28. Juli 2006

Schein und Sein

Wenn man sagt, daß etwas "erscheint", dann ist das doppeldeutig.

Auf der Bühne erscheint der Schauspieler. Dann ist er da. Er erscheint, das heißt: Er zeigt sich, er tritt auf. Man wird seiner "gewahr". Er ist es also wahrlich vorhanden.

Das Denkmal "erscheint" in diesem Sinn im Augenblick seiner Enthüllung. Man sieht dann, was drunter ist, unter der Hülle.

Diese, die Hülle, kann aber auch Schein verbergen. Es gibt Zaubertricks, bei denen ein Tuch über, sagen wir, einem Würfel liegt. Es ist aber gar kein Würfel unter dem Tuch, sondern es wird mittels eingezogener kleiner Stangen nur so geformt, wie wenn darunter ein Würfel ist. Der Würfel scheint da zu sein, ist es aber gar nicht.

Es kann also zum Einen etwas "erscheinen", das heißt sich so zeigen, wie es ist. Es kann aber auch "nur so erscheinen" und ist in Wirklichkeit ganz anders. Erscheinen und Schein, darin steckt eine fast ontologische Doppeldeutigkeit.



Im Nahohst-Krieg hat sich am vergangenen Dienstag ein Vorfall zugetragen, der zu einer Reaktion von Kofi Annan führte. Es gab darüber in den deutschen Medien eine ziemlich einhellige Berichterstattung, für die die Meldung im Hamburger Abendblatt repräsentativ ist:
Bei einem israelischen Angriff im Südlibanon sind vier unbewaffnete Uno-Soldaten getötet worden. (...) Uno-Generalsekretär Kofi Annan protestierte scharf gegen die Bombardierung des Beobachterpostens. Er warf Israel einen "vorsätzlichen Angriff" vor.
So ist es zum Beispiel auch in Spiegel-Online zu lesen, das titelt: "Getötete UNO-Beobachter - Annan wirft Israel vorsätzliche Attacke vor". Ähnlich berichteten die TV-Nachrichten.



Was hatte Annan gesagt? In der Berichterstattung der Washington Post:
In a statement, U.N. Secretary General Kofi Annan said he was "shocked and deeply distressed by the apparently deliberate targeting" of the "clearly marked U.N. post at Khiyam."
"Apparently" sagte er. Das wurde in der deutschen Berichterstattung ganz überwiegend entweder unterschlagen oder mit "offenbar" oder "offensichtlich" übersetzt.

So heißt es in dem verlinkten Spiegel-Online Beitrag im Text: "Uno-Generalsekretär Kofi Annan erklärte, er sei geschockt und zutiefst beunruhigt von dem 'offenbar vorsätzlichen' Angriff der israelischen Streitkräfte auf den Uno-Posten im Südlibanon." Die "Welt" übersetzte das "apparently" mit "offensichtlich". Nur wenige Medien wichen von dieser Übersetzung ab, wie zum Beispiel die "Süddeutsche Zeitung", in der Annans Formulierung mit "'anscheinend vorsätzliche(r)' Angriff" übersetzt wurde.




Was nun heißt "apparently"?

"To appear" heißt "erscheinen". Es kommt aus dem Altfranzösischen aparoir, dieses wiederum vom Lateinischen apparere, hervorgegangen durch Assimilation aus ad-parere. Parere, das heißt ebenfalls "erscheinen"; das ad- ist ein die Bedeutung unterstreichender Zusatz, der aber kaum etwas an ihr ändert. Folglich:
apparently
adv 1: from appearances alone; "irrigation often produces bumper crops from apparently desert land"; "the child is seemingly healthy but the doctor is concerned"; "had been ostensibly frank as to his purpose while really concealing it"-Thomas Hardy; "on the face of it the problem seems minor" [syn: seemingly, ostensibly, on the face of it]
2: unmistakably (`plain' is often used informally for `plainly'); "the answer is obviously wrong"; "she was in bed and evidently in great pain"; "he was manifestly too important to leave off the guest list"; "it is all patently nonsense"; "she has apparently been living here for some time"; "I thought he owned the property, but apparently not"; "You are plainly wrong"; "he is plain stubborn" [syn: obviously, evidently, manifestly, patently, plainly, plain]
Quelle: WordNet ® 2.0, © 2003 Princeton University; hier zitiert.


Da haben wir's: Mit "apparently" kann man etwas aussagen und nachgerade das Gegenteil. Wenn Annan von "apparently deliberate" sprach, dann kann er gemeint haben: Ganz offensichtlich absichtlich. Oder auch: Dem Anschein nach absichtlich.



Mit der rühmenswerten Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" und einiger weniger anderer Medien scheint diese Doppeldeutigkeit kaum einem Redakteur aufgegangen zu sein. Man wählte - ob nun aus Unkenntnis des Englischen oder aus einer Voreingenommenheit gegenüber Israel heraus - fast durchgängig diejenige Lesart, die Annan als Ankläger gegenüber Israel erscheinen ließ.

Dabei hätte man es mindestens seit Mittwoch besser wissen können.

Die Aussage, mit deren Exegese wir uns jetzt beschäftigen, machte Annan in Rom, am Vorabend der Konferenz, die sich dort traf, um die Situation im Nahen Osten zu beraten. Nach dem Ende dieser Konferenz gab es am Mittwoch eine Pressekonferenz, die CNN übertrug.

Annan wurde auf seine Äußerung angesprochen, und der ihn fragende Reporter implizierte in seiner Frage dasselbe, was in den deutschen Berichten behauptet worden war: Daß Annan Israel einen absichtlichen Angriff auf den UNO-Posten vorgeworfen habe.

Darauf reagierte Annan scharf und forderte den Journalisten auf, genauer zu zitieren. So habe ich es bei CNN gehört; allerdings habe ich ein Wortprotokoll dieser Pressekonferenz bisher nicht gefunden.

Die "Jerusalem Post" faßt aber die Bemerkung Annans richtig zusammen:
Annan issued a statement Tuesday night expressing "shock and deep distress" over what he called the "apparently deliberate targeting" of the UN observer post.
He seemed to soften the sharp language at a press conference after the Rome conference Wednesday, stressing that in his original statement he said the attack was "apparently deliberate."
"The statement said 'apparently deliberate targeting,'" Annan said, stressing that the word "apparent is important in this."


Daraus geht hervor, daß Annan das "apparently" nicht im Sinn von "offensichtlich", sondern im Sinn von "anscheinend" verstanden wissen wollte.

Aber in der deutschen Presse habe ich über diese Richtigstellung kaum etwas gefunden. So wenig, wie über die Stellungnahme des kanadischen Ministerpräsidenten Harper (bekanntlich war ein Kanadier unter den Opfern des Angriffs gewesen):
Harper indicated he did not agree with UN Secretary General Kofi Annan's characterization of the Israeli hit as "deliberate targeting" of UN personnel. "I certainly doubt that to be the case, given that the government of Israel has been co-operating with us in our evacuation efforts, in our attempts to move Canadian citizens out of Lebanon, and also trying to keep our own troops that are on the ground involved in that evacuation out of harms way. So, I seriously doubt that," he said.


Eine wichtige Meldung, sollte man meinen, eine Meldung vom Typus "Man Bites Dog". Ich habe eben noch einmal in Paperball nachgesehen, welche deutsche Medien sie gebracht haben. Genau zwei: die "Rheinpfalz" und "Köln.de".

Zwei Provinzmedien. Aber immerhin.

27. Juli 2006

Der Letzte







Der Máximo Líder, inzwischen meist Comandante in Jefe, vergangene Nacht im Cubanischen Fernsehen "Cubavision".



Solche Reden werden mehrfach pro Woche ausgestrahlt. Sie dauern jeweils mehrere Stunden.

Die thematische Konstante ist die Lobpreisung des cubanischen Sozialismus und die Verdammung des Kapitalismus. Ansonsten erzählt Castro anscheinend das, was er gerade gelesen oder gehört hat oder was ihm sonst so durch den Kopf geht. Stundenlang. Ohne roten Faden, assoziativ aneinandergereiht.

Manchmal stellt er Fragen an seine Zuhörer wie das Kasperle. Die antworten dann im Chor, und Castro wackelt mit dem Kopf und nickt.



Nein, zum Lachen ist er nicht, einer der schlimmsten noch lebenden Diktatoren, der Letzte der kommunistischen Revolutionäre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er gehörte für das, was er seinem Volk angetan hat, vor Gericht gestellt wie Saddam Hussein.

Aber es scheint ihm zu gehen wie Mao: Noch gilt er Vielen als großer Staatsmann. Was er angerichtet hat, wird erst allgemein zur Kenntnis genommen werden, wenn er tot und/oder wenn seine Diktatur zusammengebrochen ist.

26. Juli 2006

Die Deutschen und das Atom (4): Tschernobyl und die Folgen

Wie im dritten Teil beschrieben, hatte sich im Lauf der siebziger Jahre eine politisch sehr aktive "Anti-AKW-Bewegung" gebildet, die über die extreme Linke hinaus in die SPD, die Gewerkschaften und auch in das hineinwirkte, was ich das romantische Bürgertum genannt habe. Aber sie war eben doch auf diese Teile der Gesellschaft beschränkt, blieb also eine Minderheit. Die Leute, die vor Brokdorf randalierten und mit "Krallen" (einer Art Enterhaken) die Absperrungen zu überwinden versuchten, die Anti-AKW-Demonstranten im Bonner Hofgarten 1979, die zottelhaarigen Alternativen, die vor Gorleben ihre "Republik Freies Wendland" proklamierten - das waren keine Repräsentanten der Mehrheit der Deutschen, und es sah bis Mitte der achtziger Jahre nicht so aus, als könnten sie das jemals werden.

Das änderte sich schlagartig, innerhalb weniger Tage, als der atomare Unfall in Tschernobyl passierte. Ein Unfall, der sehr bald als "GAU" bezeichnet wurde, obwohl er genau das nicht war - der "größte anzunehmende Unfall", nämlich eine Kernschmelze, die zum Durchschmelzen des Reaktors führt. Das Wort "Gau" drang aber fast sofort in die Umgangssprache ein; bald sprach man vom "Gau" eines katastrophal geschlagenen Fußballvereins oder vom "Gau" einer Partei, die eine schlimme Wahlniederlage erlitt.



Ich kann mich noch gut an diese Tage erinnern, ähnlich wie an den Tag von Kennedys Ermordung, der Mondlandung, des Mauerfalls. Es gab zunächst Berichte aus skandinavischen Ländern von einem Anstieg der Radioaktivität, deren Quelle anfangs unklar blieb. Im Lauf dieses Tages - des 27. April 1986 - und der folgenden Tage wurden die Berichte immer bedenklicher. Die sowjetischen Behördern mauerten zunächst, bis schließlich die Wahrheit herauskam, daß es in einem sowjetischen AKW einen schweren Unfall gegeben hatte.

In den Tagen danach wurden immer neue Meßwerte mitgeteilt. Man begann sich ein Bild davon zu machen, wie sich eine "Wolke der Radioaktivität" aus dem Osten näherte und allmählich über Deutschland hinwegzog.

Das Szenario hatte alle Merkmale eines Katastrophenfilms. Die deutschen Behörden beschwichtigten zunächst - auch das kannte man aus diesen Filmen - und schwenkten dann (anders als zB in Frankreich, wo weiter abgewiegelt wurde) auf ein geradezu groteskes Überreagieren um.

So wurden Kinderspielplätze geschlossen. Landwirte wurden aufgefordert, Feldfrüchte unterzupflügen. Es wurde empfohlen, den Umstieg von der Winterfütterung mit Heu auf die Sommerfütterung zu verschieben. Die Milchproduzenten trennten die Molke von der Milch ab, weil sie als besonders strahlenbelastet galt. Diese Molke, die weniger strahlte als mancher Dünger, wurde verwahrt wie etwas Hochgiftiges. (Noch zehn Jahre nach Tschernobyl wurde sie in Bayern gelagert.) "Verstrahle Molke" wurde zum Sinnbild für die unsichtbaren Gefahren, die diese radioaktive Wolke über uns gebracht hatte.

Es gab zahllose Auftritte von ExpertInnen, die Empfehlungen gaben, was man essen durfte und was nicht. Es gab Eltern, die ihre Kinder tagelang nicht auf die Straße ließen. Als besonders gefährlich galt es, die Kinder auf Rasen spielen zu lassen, weil sich dort die Radioaktivität besonders gut niederschlagen konnte. In den Zeitungen erschienen täglich Meldungen über die aktuell gemessene Radioaktivität in den einzelnen Regionen, bei den einzelnen Produkten. "Becquerel" wurde zu einem Maß, das bald jedem so geläufig war wie Meter und Kilogramm.



Kurz, es war das Hereinbrechen eines Unsichtbaren Feindes. Kein GAU, aber ein Trauma. Und danach waren die Deutschen - ihre Mehrheit - wie verwandelt, was die Haltung zur friedlichen Nutzung der Nuklearenergie anging.

Die Warner, die AKW-Gegner hatten Recht gehabt, so dachten viele. Was die Haltung einer radikalen Minderheit gewesen war, wurde mehrheitsfähig.

Die Partei der Grünen, die 1983 ganz knapp die Fünfprozenthürde übersprungen hatte, erreichte bei den Bundestagswahlen 1987 mehr als acht Prozent. Wichtiger noch: In der SPD, die zuvor hinsichtlich der Kernenergie gespalten gewesen war, in der die Befürworter aber immer die Mehrheit gehabt hatten, erreichten die Kernkraftgegner nun sehr schnell eine große Mehrheit. Schon im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag den "Ausstieg aus der Kernenergie", der dann 1989 in das Berliner Programm aufgenommen wurde.

Es war konsequent, daß die SPD und die Grünen, als sie 1998 die Regierung übernahmen, das umsetzten, was sie zuvor beschlossen und ihren Wählern angekündigt hatten: Den schrittweisen "Ausstieg aus der Atomenergie".



Es war, wie diese Folge von Beiträgen zeigen sollte, ein deutscher Sonderweg. Geprägt durch Besonderheiten der deutschen Geschichte, der deutschen Geographie.

Ein Weg, der drei spezifisch deutsche Ursachen gehabt hatte: Zuerst die in Deutschland ungewöhnlich starke Bewegung "Kampf dem Atomtod", eine Reaktionen auf die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Atombombenabwürfe in Japan. Sodann die Entwicklung, die in Deutschland die weltweite Jugendrevolte Ende der sechziger Jahre genommen hatte, hinein in eine "Anti-AKW-Bewegung" als einem Instrument der Linksextremen, Anhänger zu mobilisieren und ihre Propaganda in die gesamte Linke hineinzutragen. Und schließlich die geographische Lage Deutschlands, aufgrund deren die Folgen des Atomunfalls von Tschernobyl besonders ernst genommen wurden.

Zusammen führte das dazu, daß die Frage der Nuklearenergie in Deutschland nicht unter dem Gesichtspunkt der technischen und ökonomischen Zweckmäßigkeit diskutiert wurde und wird, sondern als weltanschauliche, als moralische, ja als nachgerade religiöse Frage.

Insofern war dieses Thema repräsentativ für die Ideologisierung und Moralisierung der Politik, die Deutschland von den siebziger bis zu den neunziger Jahren geprägt hat und die in der rotgrünen Periode zwischen 1998 und 2005 kulminierte.

Jetzt verschwindet allmählich der Mehltau, der sich in dieser Zeit auf unser Land gelegt hatte. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das Thema Nuklearenergie auch in Deutschland, sogar in Deutschland, wieder vernünftig diskutiert werden kann.




Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 25. Juli 2006

    Ohne Anrede

    Ungefähr 1960 bin ich beim Trampen nach Paris von einem amerikanischen Offizier mitgenommen worden, der auf dem Weg nach Fontainebleau war, damals noch das Nato-Hauptquartier in der Nähe von Paris. Er war zuvor in Vietnam als Ausbilder tätig gewesen und war - schon damals, noch vor Beginn des eigentlichen "Vietnam-Kriegs" - skeptisch hinsichtlich der militärischen Erfolgsaussichten gegen die Kommunisten.

    Ich fand sehr interessant, was er über die Soldaten der Regierung von Saigon erzählte, die er hatte ausbilden sollen ("They don't drink milk!" war eine seiner vernichtendsten Kennzeichnungen). Vor allem aber habe ich in Erinnerung, wie er bejahte und verneinte. Wenn er mir zustimmte, dann sagte er "Yes, Sir!", und wenn er widersprach, dann sagte er "No, Sir!".

    Ich fühlte mich dadurch irgendwie anerkannt, ja geradezu geehrt, mit meinen noch nicht zwanzig Jahren. Und es machte mich zum ersten Mal auf einen seltsamen Mangel der deutschen Umgangssprache aufmerksam: Wir können nicht anreden.



    Im Französischen redet man Fremde mit Monsieur, Madame, Mademoiselle an. Und das tut man bei allen Gelegenheiten. Wenn ich in Frankreich eine Bäckerei betrete, dann grüße ich die Verkäuferin mit "Bonjour, Madame" und nicht einfach mit "Bonjour". Wenn ich einen Polizisten anspreche, um ihn etwas zu fragen, dann sage ich: "Pardon, Monsieur". Einfach nur Bonjour, Au revoir, Oui und Non zu sagen, ist unhöflich. Damit gibt man sich als entweder ungebildet oder als Boche zu erkennen.

    Ähnlich ist es in vielen anderen Sprachen: Wenn man mit jemandem redet, dann redet man ihn auch an. Man redet sozusagen nicht in den Wind, ins Nichts hinein, sondern man "wendet sich" an jemanden. "S'adresser à quelqu'un" heißt das im Französischen; entsprechend "to address someone" im Englischen. Von Spätlateinisch ad-directiare, entstanden aus dirigere, hinwenden.

    Sir und Madam, Mijnfrouw und Mijnheer, Signor und Signora - in fast allen zivilisierten Völkern gibt es diese Anreden, die es uns erleichtern, höflich miteinander umzugehen.



    Nur im Deutschen nicht. Genauer: Nicht mehr. Wie in den anderen Sprachen gab es in Deutschland natürlich diese Anredeformen, die ursprünglich Höhergestellten vorbehalten gewesen waren, und die dann zu Formen des allgemeinen Umgangs miteinander wurden: Mein Herr, mein Fräulein, gnädige Frau.

    Aber dem Deutschen sind sie abhandengekommen. Wann, wie und warum das eigentlich geschah, weiß ich nicht genau.

    In den Zwanziger Jahren waren sie jedenfalls noch üblich, diese Anreden. "Sie existieren, mein Herr, dies kann ich nicht bestreiten" heißt es zum Beispiel in Hermann Hesses "Kurgast", erschienen 1925. Und wenn in dem Musical "Cabaret" ein Song den Titel "Mein Herr" trägt, dann ist das durchaus zeitangemessen.

    Ich vermute, daß diese Höflichkeiten in der Nazi-Zeit aus dem Deutschen verschwanden. Mag sein, daß auch die egalitäre Nachkriegsgesellschaft, in der die Klassen so durcheinandergewirbelt wurden, wie in kaum einem nichtkommunistischen Land Europas, das Ihrige dazu beigetragen hat.

    Jedenfalls waren Anreden wie "mein Herr" und "gnädige Frau" schon in meiner Kindheit in den fünfziger Jahren aus der Umgangssprache verschwunden. Nur noch Kellner benutzten sie, allenfalls der Maßschneider. Oder Verkäufer, die sich beim Kunden einschmeicheln wollten.



    Wie wurde die Lücke gefüllt? Erbärmlich, meist aber gar nicht.

    Das "mein" benutzte man nicht mehr, aber das "Fräulein" blieb zunächst noch erhalten. "Fräulein, darf ich Sie mal was fragen?", das war noch in den sechziger Jahren üblich. Im Hessischen gern ins gemütliche "Frolloische" transformiert. "Ei, Frolloische, was hawwe Se dann?" - so fragte der Hesse, wenn er um das Wohlergehen einer junge Frau besorgt war.

    Und "die Frollein", das war zu meiner Schulzeit die Lehrerin. Mit dem "die", das an die Stelle des grammatikalischen Geschlechts das natürliche Geschlecht setzte. Auch die verheiratete oder verwitwete ältere Lehrerin war "unsere Frollein". Und im Lokal rief man "Frollein!"; ungerührt selbst dann, wenn die Kellnerin vielleicht schon vielfache Großmutter war.

    Was hätte man auch sonst rufen sollen? "Bedienung!"? "Kellnerin!"? Alles unhöflich bis herabsetzend. "Frollein", das war immer noch das Höflichste, was man hatte.



    Und diese letzte Zuflucht der Anrede-Höflichkeit wurde uns Anfang der siebziger Jahre von der Frauenbewegung weggenommen.

    Es gab damals ja die seltsamsten sprachkritischen Bemühungen im Umfeld der "feministischen Linguistik". Im Englischen stieß man sich an "History" und forderte "Herstory". Und im Deutschen schien den Feministinnen das "-lein" beanstandenswert. Es gebe ja auch kein "Herrlein", argumentierten sie. Also weg mit dem "Fräulein". Auch die 16jährige "Auszubildende" (dazu hatte man die Lehrlinge befördert), auch die 18jährige Studentin hatten künftig Anspruch auf die Anrede "Frau".

    Damit hatten wir Deutschen, die wir uns auch in dieser Hinsicht demütig dem Feminismus unterwarfen, für Frauen unbekannten Namens endgültig keine Anrede mehr zur Verfügung; wie schon zuvor bei Männern.

    "Fräulein", das war auch ohne das "mein" oder das "gnädiges" gegangen. Aber man kann zu einer unbekannten Dame nicht einfach nur "Frau!" sagen. Dieses sozusagen nackte "Frau!" ist dem Fischer mit siener Fru vorbehalten und anderem Märchenpersonal. Und man kann ja nicht gut jemanden mit "Herr!" anreden. Es sei denn, man will ihn ärgern - wie Herbert Wehner, dem das "Herr!" noch aus alten Zeiten geläufig gewesen war und der es im Bundestag einsetzte, wenn er einem Konservativen eins auswischen wollte.



    Seither behelfen wir uns, wir Deutschen, mehr schlecht als recht, mit List und Tücke.

    Gut dran ist man noch beim Suchen nach einer Anrede, wenn jemand eine Funktion hat, die notfalls eine Bezeichnung hergibt: "Herr Ober", auch wenn's keineswegs der Oberkellner ist. "Herr Schaffner" im Zug, "Herr Doktor" in der Klinik, "Herr Professor" in der Uni. Bei Frauen verbleibt meist nur die Funktionsbezeichnung. Der Krankenhauspatient sagt: "Schwester, bringen Sie mir doch bitte einen Tee". "Schwester" heißt, faute de mieux, auch die Arzthelferin, selbst wenn ihr ein Keuschheitsgelübde nie in den Sinn gekommen ist. Und die Schubse im Flieger kann man mit "Stewardess" anreden. Anders als "Kellnerin" hat das nichts Herabsetzendes; das stammt vermutlich aus der Zeit, als man als Stewardess das Abitur haben mußte.

    Aber das sind Ausnahmen. Meist behilft man sich mit einer von zwei Notlösungen: Den Interjektionen und den Witzen.



    Interjektionen: Man stößt, statt jemanden anzusprechen, einen Ruf hervor. "Hallo!" wird der Kellner gerufen. "Sie da!" sagt man, wenn man jemanden auf sich aufmerksam machen möchte. Gäste in Restaurants veranstalten mehr oder weniger eindrucksvolle Pantomimen, wenn sie den Kellner rufen wollen, und erzeugen zur Untermalung nicht selten grunzende oder stöhnende Laute. In der jüngeren Generation sind Interjektionen wie "Ey!" zu hören, die aktuelle Variante des alten "Heh da!".

    Oder auch "Alter!", was uns zur zweiten Lösungsmethode bringt - mehr oder weniger witzig gemeinten Bezeichnungen für das Gegenüber. Im Arbeitsleben wird der Unbekannte gern mit "Meister" angeredet. "Junger Mann" und "Junge Frau" sind auch dann noch üblich, wenn dem Gegenüber schon die weißen Haare in den Nacken hängen. Kumpelhaft-Kräftiges ist ebenfalls beliebt, auch wenn das "He, Kumpel" selbst wohl eher aus der Mode gekommen ist. Aber ein herzliches "Ey, du Träne" oder "Du Penner" hört man schon mal.

    Und an einem Zimmer in einer Uni fand ich vor ein paar Jahren eine Notiz, durch die der Bewohner dieses Dienstzimmers einem anderen mitteilte, wo er aktuell zu finden sei. Anrede: "Du Arsch!".

    24. Juli 2006

    Randbemerkung: Gefahren und ihre Wahrnehmung

    An diesem Wochenende, liest man heute in Spiegel-Online, sind mindestens sieben Menschen bei Badeunfällen zu Tode gekommen.

    Bis Ende Juni waren es, laut dem DLRG-Sprecher Martin Janssen, bereits 250 Menschen in Deutschland, die beim Baden ertranken oder sonstwie umkamen. Das sind mehr Tote als in Jahren mit einem kühlen Sommer, aber nicht so sehr viel mehr. Im Durchschnitt sind es in der ersten Jahreshälfte ungefähr 175 Tote.

    In französischen Zeitungen gibt es eine Rubrik "Faits Divers", Vermischtes. Und im Sommer haben darin viele dieser Zeitungen eine Unterkategorie: "Les Noyades" - die Ertrinkungen. Täglich wird über die - sozusagen - neuesten Ertrunkenen berichtet, in einer festen Rubrik.



    Faits Divers - kleine, vermischte Meldungen. Man liest das, schüttelt den Kopf und ist nicht sonderlich erschüttert - es sei denn, der Unfall geschah in der eigenen Umgebung, oder das Opfer ist für den Leser aus einem anderen Grund persönlich interessant.



    Nehmen wir an, die sieben Toten des jetzigen Wochenendes wären nicht an unterschiedlichen Stellen ertrunken, sondern, sagen wir, alle zugleich bei beim Untergang eines Ausflugsdampfers ums Leben gekommen. Dann würde das nicht in einem kleinen Artikel erwähnt werden, sondern Schlagzeilen machen; uns vermutlich tagelang beschäftigen.

    Warum ist das so? Warum hängt unser Interesse, unser Mitgefühl, unser Entsetzen davon ab, ob Menschen an unterschiedlichen Orten sterben, oder gemeinsam am selben Ort?

  • Ein offensichtlicher Grund ist, daß das eine - die getrennten Einzelunfälle - häufig ist; während das andere - das gemeinsame Ertrinken einer Gruppe von Menschen - selten vorkommt. Nachrichtenwert hat das, was vom Gewohnten abweicht. Man Bites dog, nicht Dog Bites Man.

  • Zweitens regt ein solcher größerer Unfall aber - eben aufgrund seiner Größe - auch unsere Vorstellungskraft mehr an als der gewöhnliche Badunfall, bei dem jemand einen Herzschlag bekommt oder sich beim Kopfsprung das Genick bricht. Von einem "schrecklichen", gar einem "tragischen" Unfall sprechen wir meist erst dann, wenn eine größere Zahl von Opfern zu beklagen ist. Es sei denn, der Einzelunfall trägt spektakuläre Züge - weil dem Tod des Opfers vielleicht ein dramatischer Rettungsversuch vorausging, weil es sich um eine prominente Person handelt oder dergleichen.



  • Es ist also offenbar eine Frage der Häufigkeit und eine Frage des spektakulären Charakters, wie sehr uns ein solcher Vorfall interessiert oder wie sehr er uns kalt läßt. So hat es auch die wissenschaftliche Risikoforschung ergeben. Wie man zum Beispiel hier nachlesen kann, überschätzen wir die Gefährlichkeit von Ereignissen, deren Wahrscheinlichkeit gering ist, die aber einen dramatischen ("katastrophalen" Charakter haben). Umgekehrt unterschätzen wir die Gefährlichkeit von solchen Ereignissen und Sachverhalten, die häufig auftreten, die aber nicht spektakulär sind.

    In einem drastischen Beispiel aus dem verlinkten Artikel: Das Risiko, daß ein Kind von einem Fremden auf dem Schulweg sexuell belästigt wird, ist extrem gering - viel geringer, als das Risiko für seine Gesundheit, wenn es nicht auf die Straße gelassen wird und aus Trägheit Fettleibigkeit entwickelt. Aber die Attacke durch einen Fremden ist eine schlimme, plastische Vorstellung, während ein schleichendes Risiko für die Gesundheit kaum wahrgenommen wird.



    Diese Eigenarten der Wahrnehmung von Gefahren haben massive praktische Konsequenzen. Denn die Politiker bemühen sich ja, just jenen Gefahren besonders sorgsam zu begegnen, die von ihren Wählern als besonders groß wahrgenommen werden.

    Kommt es zufällig einige Male nacheinander vor, daß ein Hund Kinder anfällt, dann löst das folgerichtig eine Welle von staatlichen "Hundeverordnungen" aus, samt Einrichtung einer wuchernden Bürokratie, deren es zu ihrer Durchsetzung bedarf. Tötet ein Junge mit einer Waffe, die er seinem Vater entwendet hat, in einem Amoklauf Menschen, dann wird alsbald die Waffenkontrollgesetzgebung verschärft.

    Diese Maßnahmen bleiben, die aus ihnen hervorgehende Bürokratie bleibt, wenn der Anlaß längst vergessen ist. So steuern wir auf immer mehr Fürsorge des Staats für "seine Menschen", auf immer mehr Gesetze, Verordnungen, Regularien zu, die uns vor den Risiken des Lebens schützen sollen.

    Und immer mehr Hirten wachen darüber, daß die wir, die beschützte Herde, keiner Gefahr ausgesetzt werden. Nur müssen wir, anders als diese Schafe, unsere Hirten auch noch alimentieren.

    23. Juli 2006

    Die Deutschen und das Atom (3): Die APO entläßt ihre Kinder

    Im ersten und im zweiten Teil dieser kleinen Serie ging es um den "Ausstieg" aus der Atomenergie als einem seltsamen deutschen Sonderweg; und es ging um die erste Phase seiner Vorgeschichte: Eine heftige, historisch wohlbegründete und sehr emotionale Ablehnung der Atombombe bei einer gleichzeitig ausgesprochen positiven Bewertung der Atomenergie, der man gerade in Deutschland besonders freundlich gegenüberstand, weil sie versprach, uns wieder an die Spitze des technologischen Fortschritts zu führen.



    Das war die allgemeine Stimmung bis Anfang der siebziger Jahre gewesen. Wie konnte sich innerhalb von gut zwei Jahrzehnten die Meinung der Deutschen so radikal ändern, daß der von der rotgrünen Koalition 1998, sofort nach dem Machtwechsel, verkündete und Mitte 2000 durch eine Vereinbarung mit der Industrie besiegelte "Ausstieg aus der Atomenergie" auf breite Zustimmung in der Bevölkerung bauen konnte?

    Es gab dafür zwei Ursachen. Die eine geht zurück auf das Ende der APO (der "Außerparlamentarischen Opposition") der späten sechziger Jahre, die gewissermaßen - sit venia verbo - freie Radikale hinterließ, die nach einer Bindung suchten. Die andere war der Atomunfall in Tschernobyl im April 1986.

    Das eine hatte zur Folge, daß eine politisch sehr aktive Minderheit gegen die Atomenergie agitierte und allmählich Anhänger bis hinein in die gemäßigte Linke gewann, auch bis hinein ins, sagen wir, romantische Bürgertum. Das zweite, der Unfall von Tschernobyl, führte sehr plötzlich und sehr nachhaltig dazu, daß die Position dieser linksextremen und grün-alternativen Minderheit zur Mehrheitsmeinung wurde.



    Anfang der siebziger Jahre sollte in Südbaden ein neues AKW gebaut werden; ursprünglich in Breisach und dann in Wyhl. Es gab die lokalen Proteste, die solche großindustriellen Bauvorhaben in ländlichen Gebieten oft begleiten. Die Winzer fürchteten um den Ruf ihres Weins. Diejenigen Südbadener, die vom Tourismus lebten, fürchteten um den Ruf der Region als einer beschaulichen ländlichen Gegend.

    Und sodann war dieses Murren, das sehr bald Formen von "Widerstand" annahm, auch ein Protest der eigensinnigen Alemannen gegen etwas, das ihnen von "denen da oben" aufoktroyiert werden sollte. Sie waren schon immer Dickköpfe gewesen, diese Südbadener, die nur nach großem Widerstand in den Südweststaat zu holen gewesen waren. Sie hatten schon immer etwas ungewöhnlich Bodenständiges, diese Leute im Dreyländereck, die seit Jahrhunderten auf drei Staaten verteilt lebten und die ihre landsmännische Identität umso mehr zu erhalten gewußt hatten.

    Also, sie protestierten. Sie wollten ihre schöne ländliche "von der Natur begünstigte" (nämlich ungewöhnlich warme) Gegend mit ihrem guten Essen, ihren freundlichen Bewohnern und ihrer alten Kultur nicht durch ein Atomkraftwerk verschandeln lassen. Verständlicherweise, berechtigterweise.



    Nun gab es in der gleichen Zeit eine tiefe Krise in der extremen Linken. Die Träume der APO waren damals zerstoben. Man hatte zu seiner großen Überraschung und Enttäuschung feststellen müssen, daß das "Establishment" nicht der "Papiertiger" war, als den man es durchschaut zu haben glaubte.

    "Die Arbeiter", dieses auserwählte Volk der APO-Intellektuellen, dachten nicht daran, sich der selbsternannten "Avantgarde" anzuschließen. Sie machten sich im Gegenteil lustig über die Revoluzzer. Sie glaubten der Bild-Zeitung mehr als den Aufklärern, die ihnen immer mehr auf den Pelz rückten, bis zu heroischen Taten wie dem Studienabbruch und Übertritt in eine Hilfsarbeiter- Tätigkeit, um näher an den Werktätigen zu sein.

    Aber das alles half nichts. Man kam nicht voran. Die "Bewegung" zerfiel. Es entstanden zahllose "Parteien", die meisten mit einem "K" im Parteinamen, wie KB, KBW, KPD/AO, KPD/ML. Daher wurden sie "K-Gruppen" genannt.



    Diese K-Gruppen nun waren damals, als die Südbadener sich zum Protestieren aufmachten, geradezu verzweifelt auf der Suche nach Themen, die es ihnen ermöglichen würden, doch noch erfolgreich "das Proletariat zu agitieren".

    Sie hatten große Hoffnungen auf Streiks gesetzt, mußten aber zu ihrer Enttäuschung immer wieder erleben, daß die Arbeiter zwar mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten wollten, aber nicht den Sozialismus. Und da war dann auf einmal diese Protestbewegung in Südbaden. "Spontaner Widerstand", der Traum jedes Revoluzzers.

    Kurzum, die lokale, alles anders als sozialistische Protestbewegung wurde von der militanten, immer noch von der Revolution träumenden Linken als der Hebel entdeckt, mit dem man die "Massen politisieren" würde können.



    Und sie waren über alle Maßen erfolgreich, die linken Agitatoren. Dazu trug nicht unerheblich der Umstand bei, daß etwa um die gleiche Zeit ein Buch publiziert wurde, das sich verkaufte wie warme Semmeln - Holger Strohms 1973 erschienener Bestseller "Friedlich in die Katastrophe", der schnell die sagenhafte Auflage von 400 000 verkauften Exemplaren erreichte. Was in der zerfallenden APO an Technikfeindlichkeit, an Kapitalismusfeindlichkeit, an Fortschrittsfeindlichkeit entstanden war, fand in diesem Buch gewissermaßen seinen Kristallisationspunkt.

    Es entstand die "Anti-AKW-Bewegung", die sich bald über Südbaden hinaus ausdehnte - Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf waren die weiteren Wirkungsstätten. Ob neuer Atommeiler, ob Wiederaufbereitungsanlage, ob Endlager - wo immer etwas geplant oder im Bau war, das die friedliche Nutzung der Nuklearenergie voranbringen sollte, waren nun die Gegner zur Stelle. Manchmal friedlich, meist aber mit mehr oder weniger großer Bereitschaft zum Gesetzesbruch, den man als "Gewalt gegen Sachen" als "passiven Widerstand", als "zivilen Ungehorsam" und dergleichen kaschierte.

    Das Ergebnis war, daß - zunächst in derjenigen Minderheit der Bevölkerung, die für diese Propaganda der Tat empfänglich war - die Angst, die bis dahin der Atombombe gegolten hatte, auf die Nukleartechnologie als solche übergriff.



    Ein Beispiel für die diese Agitation der Linksextremisten findet man in dieser Verlautbarung von 1977. "Das volksfeindliche Atomprogramm der Schmidt-Regierung muß fallen!" war eine der Parolen. Die mittlerweile genügend angeheizte Angst vor der Atomtechnologie sollte auf die Mühlen der Agitation gegen die "Volksfeinde" der sozialliberalen Koalition geleitet werden.

    Und natürlich blieb die Entdeckung, daß man mit dem Thema Nuklearenergie "die Massen erreichen" konnte, nicht nur den gelegentlich kriminellen Linksextremisten nicht verborgen, sondern sie erreichte bald auch die von ihrem ganzen Politikverständnis her verbrecherischen Linksextremisten wie die "Revolutionären Zellen" und die "Rote Zora".

    "Einige von uns haben sich an den drei Brokdorf-Demos und der Grohnde-Demo beteiligt. Um ehrlich zu sein, lag zu diesem Zeitpunkt unser Interesse an der Anti-AKW-Bewegung hauptsächlich darin, daß sich dort eine breite Militanz entwickelte, daß es dort Putz gab" kann man zB in bemerkenswerter Offenheit hier lesen. Das Zitat stammt aus diesem Werk über die kriminelle Linke; eine "bearbeitete und kommentierte Dokumentation der theoretischen Positionen und praktischen Aktivitäten der Revolutionären Zellen und der Roten Zora." (Einer WebSite, die offen und ohne erkennbare Kritik einer Apologie des politischen Verbrechens Raum gibt; das nur nebenbei).



    Fassen wir zusammen: Sieht man von der "Friedensbewegung" ab, so waren die linksextremen Agitatoren nirgends so erfolgreich wie beim Thema Nuklearenergie. Aber es war doch auch wieder nur ein Erfolg, der auf das linksalternative und bürgerlich-romantische Spektrum beschränkt blieb.

    Daß aus dieser Minderheitenposition eine breite Überzeugung der Deutschen wurde, hat seine Ursache in dem Unfall von Tschernobyl. Damit befaßt sich der vierte und letzte Teil dieser kleinen Serie.



    Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 22. Juli 2006

    Orthographie, postmodern

    Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, nähert sich Deutschland (und mit ihm Österreich und die Schweiz) einem historischen Datum: In gut einer Woche, am 1. August, wird die Neue Deutsche Rechtschreibung verbindlich für Schulen und für Behörden, und sie wird damit sehr wahrscheinlich auch von den meisten Medien übernommen werden. Für die nächsten Tage ist das Erscheinen des zugehörigen neuen Duden annonciert. Genauer: Des Werks Duden, Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, herausgegeben von der Dudenredaktion. Dudenverlag, Mannheim u. a., 2006. 1216 S., Preis 20 Euro. In die Buchhandlungen kommt es Anfang nächster Woche; die Fachleute haben bereits ihr Vorausexemplar erhalten.

    Wie schön, könnte man sagen: Endlich ist das jahrzehntelange Gezerre vorüber. Es ist zwar ein ebenso überflüssiges wie mißratenes "Reformwerk" herausgekommen. Aber sei's drum. Schließen wir die Akte. Breiten wir den Mantel des Schweigens über den Bastard. Lassen wir den Vorhang fallen in diesem Schmierentheater. Vergessen wir die Sesselfurzer und ihre Kritiker - die schmalbrüstigen Befürworter des Reformwerks ebenso wie seine sprachgewaltigen Schmäher.



    Ja, schön wär's. In der gestrigen FAZ aber liest man etwas anderes, aus der Feder des sehr kundigen Theodor Ickler, Professor für Deutsch als Fremdsprache, Träger des Deutschen Sprachpreises für seine Arbeiten zur Orthographietheorie, Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung bis Februar dieses Jahres, als er diesen unter Protest verließ.

    Dieser Rat war ins Leben gerufen worden, um nach den immer lauteren Protesten gegen das reformatorische Werk, nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Schleswig-Holstein, zu retten, was zu retten gewesen war.

    Die schlimmsten Verballhornungen des Deutschen, welche die eifrigen Reformatoren sich ausgedacht hatten, sollten wieder rückgängig gemacht, das Ganze halbwegs schlüssig gemacht werden. Aber es kam nicht mehr heraus als die weise Entscheidung, daß die einen wie die anderen Recht haben. Wie in dem von Freud erzählten jiddischen Witz, in dem der Rebbe, als Richter tätig, dem Kläger Recht gibt und dem Beklagten. Und, von einem Dritten auf die Inkonsistenz hingewiesen, sagte: Du hast auch Recht.



    Der Rat hat, schreibt Ickler, "in mühevollen Beratungsrunden die genannten Teile der Rechtschreibreform so weit repariert, daß zahlreiche sinnvolle Schreibweisen zumindest wieder zugelassen sind. Allerdings sollen die Reformschreibweisen von 1996 großenteils weiterhin nicht falsch sein. Dadurch ist eine Unmenge von "Varianten" entstanden, die der Duden nun durch dreitausend "Empfehlungen" wieder einzudämmen versucht."

    Mit anderen Worten, man hat sich postmodern aus der Affäre gezogen: Man schlug sich nicht auf die Seite der Reformatoren. Man brachte aber auch nicht den den Mut auf, den ganzen Wahnwitz zu stoppen und wieder zur deutschen Rechtschreibung zurückzukehren, so wie sie (mit den gelegentlichen Veränderungen, wie sie in jeder lebendigen Sprache allmählich stattfinden) gegolten hatte, seit die deutsche Orthographie überhaupt vereinheitlich worden war.



    Was jetzt kommt, klingt wie eine Satyre (ich erlaube mir diese Schreibweise): Der Duden ist jetzt bunt. So bunt wie die Regenbogenfahne der Alternativen aller Couleur, so bunt wie die Bunt-Alternativen Listen, die einst überall aus dem Humus herauswuchsen, den die Achtundsechziger hinterlassen hatten. Der erste postmoderne Duden wird in wenigen Tagen in den Buchhandlungen zu bestaunen sein. Im Vierfarbendruck!

    Ickler schreibt über diesen Vierfarbendruck: "Er wird im Vorwort und in der Werbung als Vorzug herausgestellt, als wenn die Kunden Kinder wären, die sich an Buntem erfreuen und nicht wissen, daß Buntheit in diesem Fall nur das Ende der deutschen Einheitsorthographie signalisiert. Bei Zusammensetzungen mit wohl- zum Beispiel schwelgt der Duden in Schwarz, Rot und Gelb, weil er zwar die neuen Getrenntschreibungen (nicht weniger als 32 Beispiele!) in Rotdruck anführt, aber in Gelb die herkömmlichen Zusammenschreibungen empfiehlt. Nur bei wohlfühlen wird die neue Zusammenschreibung auch gleichzeitig zur Vorzugsschreibung erhoben. Das Ergebnis ist ein verwirrendes Bild, wie man es bisher von Rechtschreibwörterbüchern nicht kannte."



    Die Dudenredaktion, so erfahren wir von Ickler, gibt eigenmächtig "Empfehlungen" - nicht etwa das, worauf sich der Rat für deutsche Rechtschreibung verständigt hatte, sondern mal das von diesem Empfohlene, mal die Schreibung der Revision von 2004, mal das, was die Reformatoren urprünglich mal ausgeheckt hatten.

    Wer Absurditäten einen gewissen Reiz abgewinnen kann, der mag im einzelnen (oder von mir aus im Einzelnen) nachlesen, was Ickler an Beispielen für die Halbheiten und Widersprüche anführt, die dabei herausgekommen sind.

    Sein sarkastischer Kommentar zu dem besonders trüben Kapitel der Sondervorschriften lautet: "Man sollte die Lehrer davor warnen, bei Korrekturen den neuen Duden mit solchen wunderlichen Sondervorschriften zugrunde zu legen; sie könnten disziplinarische Schwierigkeiten bekommen."

    Zumindest könnten sie, scheint mir, in Schwierigkeiten mit ihrem intellektuellen Gewissen kommen.

    Icklers Fazit: "Man muß den Duden von 1991 zur Hand nehmen, um sich bewußt zu werden, wie sehr die Reform das Aussehen und den ganzen Charakter der Rechtschreibwörterbücher verändert hat. Sie stellen nicht mehr Tatsachen dar, sondern manipulieren die Sprache und versuchen den Wörterbuchbenutzer in eine bestimmte, politisch gewollte Richtung zu drängen."



    Treten wir einen Schritt zurück. Betrachten wir nicht das Für und Wider einzelner orthographischer Regeln und Vorschriften, sondern fragen wir uns, was Orthographie - also das Schreiben gemäß einer Ordnung - eigentlich soll.

    Das offensichtliche Ziel einer einheitlichen Orthographie ist nichts anderes als eben die Einheitlichkeit selbst. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fehlte diese Einheitlichkeit im Deutschen, während sie in anderen Sprache längst herbeigeführt worden war. In Frankreich zum Beispiel wacht seit 1635 die Académie Française über die Reinheit der Sprache überhaupt und über die Orthographie des Französischen im Besonderen. Die Vorstellung, daß diese Akademie alle möglichen Schreibweisen zuläßt und eine davon als ihre sozusagen unverbindliche, persönliche "Empfehlung" hervorhebt, würde einem Franzosen wie ein schlechter Scherz erscheinen.

    Warum eine einheitliche Orthographie? Vorrangig natürlich, weil das der Verständlichkeit dient. Weil man dadurch weiß, was gemeint ist. Aber natürlich auch, weil die gemeinsame Rechtschreibung, die von allen mindestens durchschnittlich Gebildeten der betreffenden Sprachgemeinschaft beherrscht wird, Ausdruck ihrer kulturellen Zusammengehörigkeit ist. So, wie Kultur in allen Bereichen wesentlich darin besteht, Regeln zu schaffen und Normen zu setzen. (Daß Künstler sich mit Erfolg darin versuchen, diese Normen bewußt und spielerisch zu brechen, wie James Joyce und Arno Schmidt das mit den Regeln der Orthographie getan haben, ist eine andere Sache und widerspricht dem nicht).



    Diese Einheitlichkeit der Rechtschreibung war mit der Einführung einer verbindlichen Rechtschreibung durch die Zweite Orthographische Konferenz 1901 erreicht. Seither gab und gibt es keinen Grund zu einer "Reform".

    Der Gedanke, es gebe eine "bessere" und eine "weniger gute" Rechtschreibung, ist als solcher absurd. Die Rechtschreibung muß Regeln folgen, weil man sie sonst nicht erlernen kann. Welche das sind, ergibt sich aus der Geschichte der betreffenden Sprache. Manche Sprachen sind "orthographisch flach", dh. die Rechtschreibung folgt eng der Phonetik. Andere sind "orthographisch tief", dh die Regeln der Orthographie weichen sehr stark von der phonologischen Struktur der gesprochenen Sprache ab, wie im Englischen und im Französischen.

    Weder im Englischen noch im Französischen hat man deshalb jemals ernsthaft eine "Reform" versucht; auch wenn das Käuze wie George Bernard Shaw verlangt haben. Warum im Deutschen?



    Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht, was in den Köpfen derjenigen vorgegangen ist, die in den sechziger und siebziger Jahren dieses Projekt einer "Rechtschreibreform" betrieben und schließlich politisch durchgesetzt haben.

    Mag sein, daß es ein technokratisches Bestreben nach eine sozusagen verordneten - statt gewachsenen - Rechtschreibung war. Das Zurechtstutzen des Organischen, das Beherrschen und Kontrollieren als Motiv. Weg mit dem Historischen, dem Zufälligen, dem Widersprüchlichen - und her mit einer Orthographie, so logisch und in sich konsistent wie eine Programmiersprache. Die Hybris der Technokraten.

    Mag sein - und ich vermute, das war das stärkere Motiv -, daß man die Sprache so "reformieren" wollte, wie man in jener Zeit die ganze Gesellschaft "reformieren" wollte. Mit dem Ziel, daß es keine "Bildungsprivilegien" mehr geben sollte. Eine Rechtschreibung, so einfach, daß auch der Dümmste sie erlernen kann - das mag vielen vorgeschwebt haben.

    Weg mit dem "bürgerlichen Bildungsballast", das war ja damals eine verbreitete Parole. Die Schüler sollten möglichst wenig Zeit auf das Erlernen der Orthographie verwenden müssen, damit man sie umso eindringlicher "befähigen" konnte, "ihre Interessen zu erkennen" und dergleichen.



    Alle diese Verstiegenheiten, diese Weltverbesserungs- phantasien sind glücklicherweise Geschichte. Diejenigen, die sie propagiert haben, gehen dem Ruhestand entgegen oder erfreuen sich seiner schon.

    Nur diese vermaledeite Rechtschreibreform hat eine Eigendynamik entwickelt, die es offenbar aussichtslos macht, des Wahnsinns noch Herr zu werden.

    Ein bunter Duden, mit einer Schreibweise für diesen und einer für jenen - das kommt mir vor wie ein Stück Apo-Verrücktheit im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Fritz Teufel und Rainer Langhans sollten für die nächste Auflage das Vorwort schreiben.

    20. Juli 2006

    Stellung nehmen

    Konflikte reizen zur Stellungnahme. Je heftiger, je ernsthafter, je emotionaler ein Konflikt ist, umso mehr scheinen wir dazu zu neigen, das ganze Gewicht unserer Sympathie in eine der Waagschalen zu legen.

    Das ist so beim Sport. Die meisten, auch ich, haben sich auch bei denjenigen WM-Spielen, an denen die Deutschen nicht beteiligt waren, eine Seite ausgesucht, mit der sie "mitfieberten". Sonst wäre das Spiel ja nur halb so spannend gewesen. Im Endspiel war ich zB für Frankreich; entschieden und entschlossen.

    Das ist ebenso im täglichen Leben. Wenn in einer Gruppe - sagen wir, einer Schulklasse, einem Verein oder auch einem Internetforum - Streit ausbricht, dann sammeln sich alsbald Sympathisanten um die Streitenden. Um ihnen zuzusehen, in der Rolle des Publikums, das auch. Aber vor allem, um ihnen beizustehen. Am liebsten in Form von Fraktionen, die anfeuern und ausbuhen, deren Mitglieder sich allerdings ungern selbst den Fährnissen aussetzen, die mit solchen Konflikten einhergehen.



    Dieses Verhalten scheint tief verwurzelt zu sein. Vielleicht gehört es zu unserem archaischen Erbe aus der Zeit, als man nur überleben konnte, wenn man sich der einen oder der anderen Horde, dem einen oder anderen Clan anschloß. Man mußte "Farbe bekennen", also die Kriegsfarben der betreffenden Gruppe übernehmen, die einen als zugehörig kennzeichnete. Schutz bot nur die Gemeinschaft; selbst der Starke war nicht am mächtigsten allein.

    "In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod" heißt es in einem Gedicht des Barockdichters Friedrich von Logau, den Alexander Kluge im Titel eines Films von 1976 variierte. Das paßte zum damaligen Zeitgeist. Die siebziger Jahre - das war eine Zeit des Parteinehmens. "Bürger, laßt das Gaffen sein, kommt heraus und reiht euch ein" skandierte man bei Demonstrationen.



    Das tat man, solange man friedlich durch die Straßen zog. Zunehmend wurde freilich versucht, den Bürgern das Parteinehmen mit härteren, mit gewissermaßen steinharten Mitteln einzubleuen. Und die Strategie der RAF schließlich war im Kern ein Versuch, unsere, der Bürger, Parteinahme mit dem Mittel des Ermordens von Menschen zu erzwingen: Die "Charaktermasken" des Kapitalismus sollten mittels "individuellen Terrors" so in Bedrängnis gebracht, so in Furcht versetzt werden, daß sie mit immer mehr Repression reagieren würden. Schließlich, so dachte man es sich, mit offenem Faschismus.

    Und dann stünde die RAF bereit, um ihnen in einem blutigen Bürgerkrieg Widerpart zu leisten, unter dem Beifall und mittels der Unterstützung der "unterdrückten Massen". Der Massen, die man sozusagen in die politische Entscheidung hineingebombt hatte, in die Parteinahme. Das war die Idee. Das war die Strategie, die diese Leute ausgeheckt hatten, die die Menschen verachteten und für sich das Recht in Anspruch nahmen, über deren Leben und Gesundheit verfügen zu können.



    Intellektuelle neigen eigentlich nicht zur Parteinahme. Wissenschaftler sind darin geübt, auch die andere Seite einer Sache zu untersuchen, Theorien skeptisch zu prüfen, ihre Meinung im Licht neuer Ergebnisse zu ändern. Künstler produzieren, wenn sie gute Künstler sind, etwas, das aspektenreich, oft in sich widerspruchsvoll ist. Nur schlechte Künstler "setzen" einfach eine "Idee" um. Nur schlechte Lehrer fragen ihre Schüler: Was wollte uns der Autor damit sagen?

    Weil das so ist, müssen "engagierte Kunst" und "parteiliche Wissenschaft" von denjenigen, die sie wollen, ausdrücklich propagiert, oft mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Zu gewissen Zeiten, in gewissen Systemen hat man das versucht. Mit wenig Erfolg. Die großen Kunstwerke sind fast nie die engagierten, die parteilichen. Diese sind in der Regel zu eindimensional, um bedeutend sein zu können. Jedenfalls über ihre Zeit hinaus.

    Bei den Werken Brechts kann man das daran sehen, daß sie heutzutage kaum noch einen kreativen Regisseur reizen. Shakespeare, auch Schiller, selbst Aristophanes kann man auf immer neue Weise interpretieren. Brecht nicht. Denn er begann ja mit der Interpretation und baute sozusagen ein Stück darum herum. Glänzend "auf seine Art". Aber eine andere Art läßt es eben nicht zu. Es ist parteilich, nicht nur im politischen, sondern auch im ästhetischen Sinn.




    Dieser Beitrag wurde motiviert durch die aktuelle Situation im Nahen Osten.

    Im Bruderzwist zwischen Arabern und Juden ist ein neuer Krieg ausgebrochen (sofern sich eine Grenze zwischen Noch-nicht-Krieg und Schon-Krieg überhaupt noch sinnvoll ziehen läßt; siehe hier). Und es scheint so zu sein wie beim Fußball: Die meisten in Deutschland, obwohl doch mit ihren eigenen Interessen gar nicht tangiert, beziehen Stellung, ergreifen Partei.


    Die versierten Kommentatoren in den Medien lassen in der Regel nur durchblicken, auf welcher Seite sie stehen (die meisten nicht auf der Seite Israels). In den Kneipen, den Familien, auch in den Foren des Internet wird Klartext geredet: Man ist ganz überwiegend gegen Israel. Eine Minderheit ist prononciert für Israel. Tertium non datur, so scheint es.



    Ich bin nicht gegen Israel, überhaupt nicht. Mir erscheint dieses antiimperialistische Gequatsche, dieses antisemitische Ressentiment, das sich als Empörung über die "Überreaktion" Israels tarnt, erbärmlich. Da findet wieder mal der Schulterschluß zwischen den ganz rechten und den ganz linken Stammtischen statt. Man ist vereint im Antiamerikanismus. Also ist man auch vereint im "Antizionismus". Also ist man auch vereint in der Stellungnahme zur jetzigen Situation: Die bösen Israelis killen massenhaft unschuldige Zivilisten, obwohl ihnen doch nur ein paar Soldaten abhanden gekommen waren.

    Dieses Schlichtdenken wird genährt durch (und es nährt selbst wiederum) eine extremistische Presse, die hemmungslos parteilich ist; in der die Parteilichkeit zur Nachrichtenfälschung wird.



    Aber ich kann auch nicht für diejenigen Partei ergreifen, die sich Israel an die Seite stellen.

    Ich bin zwar emotional auf der Seite der Juden. Ich bewundere dieses Volk, das in Jahrtausenden eine Intelligenz, auch eine Weisheit hervorgebracht hat, die ihresgleichen suchen. Kurz, meine spontane Sympathie liegt bei Israel.

    Aber für eine Parteinahme reicht das nicht. Es ist ja nicht zu leugnen, daß Israel lange Zeit eine expansionistische Politik betrieben hat, die auf die Einverleibung von "Judäa und Samaria", also der Westbank, gerichtet gewesen war. Es ist nicht zu leugnen, daß am Beginn dieses Staats die Tätigkeit von terroristischen Vereinigungen wie der "Gruppe Stern" und der Irgun stand; daß Führer dieser Terroristen, wie Itzak Schamir und Menahem Begin, statt für ihre Taten vor Gericht gestellt zu werden, zu geachteten Staatsmännern wurden. Nicht anders als der Mau-Mau-Terrorist Kenyatta, nicht anders als der Terrorist Ho-Tschi Minh.



    Mir scheint, daß die Situation in Palästina ganz und gar verfahren ist. Die Chance einer Kooperation, die die Ressourcen Israels mit denen seiner Nachbarstaaten verbunden hätte, ist vertan. Sie ist hauptsächlich - siehe hier - deshalb vertan worden, weil die Araber in ihrer großen Mehrheit unfähig waren und sind, ihre eigene Unterentwicklung einzusehen und die Chance, die ein Frieden und eine Kooperation mit Israel ihnen für ihre dringend notwendige Modernisierung bieten würden.

    Nun wird es vermutlich so weitergehen, wie es in solchen verfahrenen Situationen immer weitergeht. Die "Erbfeindschaft" wird von Generation zu Generation weitergegeben. Frieden wird es, fürchte ich, erst geben, wenn soviel Blut geflossen ist, daß man es einfach nicht mehr ertragen kann.

    So war es zwischen den "Erbfeinden" Deutschland und Frankreich nach dem Zeiten Weltkrieg, dem der Erste Weltkrieg, der Krieg von 1870/71, die Napoléonischen Kriege vorausgegangen waren.


    Rund einhundertfünfzig Jahre hat es in diesem Fall gedauert, bis man sich der "Erbfeindschaft" entledigte. Warum sollte es zwischen den Israelis und den Arabern schneller gehen?

    19. Juli 2006

    Die Deutschen und das Atom (2): Kampf dem Atomtod

    Die seltsame Ablehnung der Atomenergie in Deutschland, die ich im ersten Teil skizziert habe, läßt sich in einem gewissen Umfang aus spezifisch deutschen Erfahrungen, Entwicklungen, Ängsten erklären:
  • Der Niederlage 1945 und der daraus resultierenden antimilitaristischen Bewegung;
  • dem Scheitern der Achtundsechziger Revolution, deren Protagonisten danach teils Umweltschützer und teils militante Kommunisten wurden; im "Anti-AKW-Kampf" sollten diese Bewegungen zusammengeführt werden;
  • und drittens der Erfahrung des Tschernobyl-Unfalls.
  • Schauen wir uns das etwas genauer an; in diesem zweiten Teil die Niederlage 1945 und die antimilitaristische Bewegung.



    Nur ein gnädiges Geschick - nämlich die Niederlage der Wehrmacht vor dem dem Zeitpunkt im Sommer 1945, als die beiden US-Atombomben einsatzbereit waren - hat uns Deutsche davor bewahrt, statt der Japaner die ersten Opfer des Abwurfs der Atombomben zu werden. Wir waren ja vorgesehen gewesen als die Ziele derjeniger Bomben, deren Bau durch die Furcht vor einer Atomrüstung der Nazis motiviert gewesen war.

    Neben den Japanern sind wir das einzige Volk, das der Entsetzlichkeit eines Atomkriegs sozusagen ins Auge gesehen hat. Auch wenn uns das erst, wie dem Reiter über den Bodensee, bewußt wurde, als die Gefahr vorübergegangen war.

    Das begründete eine nationale Grundstimmung, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde; einer der wenigen Punkte, in denen sich Generationen von Deutschen einig waren und sind.



    Kaum irgendwo ist die Atombombe so sehr der Gegenstand nicht nur politischer, sondern auch intellektueller, ja philosophischer Erwägungen und Auseinandersetzungen gewesen wie in Deutschland. Eminente Denker wie Karls Jaspers ("Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit"; 1957) und Günther Anders haben sich mit ihr befaßt. Für Anders war sie geradezu ein Lebensthema, auf das er immer wieder zurückkam. Er behandelte es schon 1956 in "Die Antiquiertheit des Menschen", seinem philosophischen Hauptwerk. Einige Jahre später erschien sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly, "Off Limits für das Gewissen". Und Anfang der Achtziger Jahre hat er das Thema wieder aufgenommen; in "Die atomare Bedrohung" und dann noch einmal in "Hiroshima ist überall".

    Diese intensive Beschäftigung der Deutschen mit der Gefahr eines Atomkriegs war der Hintergrund dafür, daß Ende der fünfziger Jahre eine Bewegung "Kampf dem Atomtod" entstand (ein Komitee mit diesem Namen wurde 1958 von der SPD mit Unterstützung der Gewerkschaften gegründet), die lange Zeit in Deutschland so stark war wie sonst nur in wenigen anderen Ländern; eigentlich fast nur in England.

    Ihre Stärke erhielt diese Bewegung auch durch die massive Unterstützung der Gewerkschaften, von Teilen der Kirchen und auch linksextremen Kräften, die sie in einen allgemein "antimilitaristischen" und oft auch antiwestlichen und antikapitalistischen Kontext stellten. Man war gegen die Atombombe als Extremform des Militärischen, und man war gegen das Militärische als Ergebnis und Symbol dessen, was man als die grundlegende Fehlentwicklung Deutschlands seit Bismarck, wenn nicht seit Friedrich II ansah.

    Die ablehnende Haltung gegenüber der Atombombe reichte aber weit über das linke Milieu hinaus. Großen Einfluß hatte beispielsweise der Appell der "Göttinger Achtzehn" von 1957 - die Erklärung einer Gruppe von teilweise weltberühmten Atomwissenschaftlern wie Max Born, Werner Heisenberg, Otto Hahn und Max von Laue, die sich gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr richtete.

    Kurz, Atomwaffen waren - und sind - in Deutschland eine Frage der Weltanschauung, ja der Anthropologie, nicht der militärischen Zweckmäßigkeit. Der Versuch von Adenauer und Strauß, der Bundeswehr Zugang zu Atomwaffen zu verschaffen, scheiterte folgerichtig.



    Die friedliche Nutzung der Atomenergie war zunächst von dieser spezifisch deutschen Entwicklung überhaupt nicht tangiert. Im Gegenteil - sie wurde gerade in Deutschland ausgesprochen positiv, geradezu euphorisch gesehen. Die Entwicklung von AKWs erschien als einer der Wege, auf denen Deutschland technologisch wieder seinen früheren Rang würde erreichen können.

    Ab 1955 war den Deutschen die friedliche Nutzung der Atomenergie erlaubt. AKWs wurden geplant und gebaut, und schon 1964 lief die "Otto Hahn" vom Stapel - ein nukleargetriebenes Frachtschiff, das Deutschland an die Spitze des technologischen Fortschritts bringen sollte. Ich habe ein paar Jahre später einen "Kulturfilm" gesehen, in dem die Planung, der Bau und der Einsatz dieses Schiffs in leuchtenden Farben gemalt wurden.

    Man zog also eine scharfe Grenze zwischen der Atombombe, die man verabscheute, und der friedlichen Nutzung der Nuklearenergie, die als ein Segen für die Menschheit galt.


    Die Wende kam erst viel später, in den achtziger Jahren. Ihre Vorgeschichte begann in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, als die anfänglich so fröhlich-antiautoritäre Achtundsechziger Bewegung mit ihren revolutionären Träumen gescheitert war und sich zerlegte: In diejenigen, die den "langen Marsch durch die Institutionen" antraten und diejenigen, die danach suchten, irgendwie doch noch soziale Konflikte zu schüren, aus denen sie den revolutionären Funken zu schlagen hofften. Bei dieser Suche stießen sie auf das Thema "AKWs".

    Ein Thema, das zunächst von lokaler Bedeutung gewesen war, wie im badischen Breisach. Aber sehr schnell wurde es zu einem nationalen Thema. Dazu mehr im dritten Teil.



    Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 18. Juli 2006

    Zettels Meckerecke

    Zitateritis

    In einem vorgesehenen kleinen Beitrag zu diesem Blog, der jetzt nicht erscheinen wird - einer "Randbemerkung" - , wollte ich mit einem fürchterlichen aktuellen Fall (Ein alter Mann hat in Berlin seine Frau tödlich überfahren, als er einparken wollte) einen Satz von Schopenhauer illustrieren.

    Ich habe das Zitat ungefähr im Kopf: "Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, möchte ich dieser Gott nicht sein; ihr Elend würde mir das Herz zerreißen".

    So in etwa - aber so nicht zitierfähig; denn ich möchte schon genau zitieren.

    Ich bin mir auch nicht mehr sicher, wo ich diesen Satz bei Schopenhauer gelesen habe. Ich glaube, in einem der Texte in den "Parerga und Paralipomena", aber vielleicht war es auch in seinem "Hauptwerk" gewesen.



    Aber wozu haben wir das Web? Zitate - davon wimmelt es doch im Web. Zahllose Sites enthalten nichts als Zitate; kaum ein Forum, in dem wir nicht mit Zitaten aus diesen Quellen eingedeckt werden.

    Also habe ich gegoogelt. Wie erwartet, steht das Zitat xfach im Web. Wie zu erwarten, in zahlreichen Versionen. Mal heißt es "Elend", mal "Jammer"; mal "die Welt", mal "diese Welt".

    Genau in diesen Punkten war ich mir meines Gedächtnisses nicht sicher gewesen; und deshalb wollte ich das Zitat ja verifizieren.

    Also halt im Original nachsehen, dachte ich mir. Mindestens ein Teil der Zitate im Web werden ja eine Quellenangabe enthalten.

    Nein.

    Keine einzige der Sites, auf denen das Zitat stand, gab die Fundstelle an.

    Ich habe es dann auf englischen und französischen Sites versucht. Auch da wird der Satz eifrig zitiert: "If a god has made this world ..."; "Si un dieu a fait ce monde ...". Aber auch da Fehlanzeige: Niemand nennt die Quelle - nicht nur nicht die exakte Fundstelle, sondern noch nicht einmal das Werk. Jedenfalls nicht diejenigen Websites, die ich aufgesucht habe. (Daß es irgendwo doch zu finden ist, wenn man lange sucht, ist möglich, ja wahrscheinlich; aber lange suchen will man ja gerade nicht. Wikiquote jedenfalls war auch ergebnislos.)



    Also werde ich morgen nach der Philosophie-CD aus der "Digitalen Bibliothek" suchen müssen, die irgendwo in der Nähe meines Rechners herumliegt; oder auch nicht.




    Was ist das für eine Unsitte, zu zitieren, ohne die Fundstelle anzugeben?

    Welchen Wert hat denn ein Zitat, dessen Kontext man nicht kennt? Exakt den Wert null. Man weiß ja überhaupt nicht, was der Autor meinte. Vielleicht hat er den betreffenden Satz nur geschrieben, um ihn anschließend zu widerlegen. Vielleicht hat er ihn - als Dramatiker - einer Figur in den Mund gelegt, ohne ihn im Geringsten selbst zu teilen. Vielleicht ergibt sich aus sonst einem Grund, daß der Satz, im Zusammenhang gelesen, einen ganz anderen Sinn hat, als wenn man ihn isoliert liest.



    Das ist alles trivial. Jeder Erstsemester lernt, daß man beim Zitieren die Quelle anzugeben hat; und zwar so genau, daß der Leser die Fundstelle mit der geringsten möglichen Mühe aufsuchen kann. Erstsemester in vielen Studienfächern lernen auch genau, wie man richtig zitiert.

    Ja, geht das denn alles verloren, wenn man sich im Web tummelt? Oder schreiben im Web nur Leute, die nie eine Universität von innen gesehen haben?

    Ich weiß es nicht. Es ist mir wirklich ein Rätsel.

    Oder, um es mit Schiller zu sagen: "Erkläret mir, Graf Örindur, diesen Zwiespalt der Natur." So ungefähr habe ich das Schiller-Zitat in Erinnerung. Aber wo steht es?

    Ich werde den Teufel tun und versuchen, das im Web herauszufinden.

    Die Deutschen und das Atom (1): Der Sonderweg

    Die Entwicklung im Nahen Osten hat die anderen Themen, die auf dem G8-Gipfel behandelt wurden, in den Hintergrund gedrängt. Ein Thema war darunter, das für Deutschland besonders interessant ist. Das Schlußdokument enthält nämlich eine Passage, die auf deutschen Wunsch und mit Bezug auf Deutschland aufgenommen wurde.

    In der gestrigen Welt lesen wir:
    Alle G-8-Staaten außer Deutschland haben sich zur Nutzung von Atomenergie bekannt. Die Weiterent­wicklung der Kernkraft könne zur globalen Energiesicherheit, zur Verminderung der Luft­ver­schmutzung und zur Bewältigung des Klimawandels beitragen, hieß es in einer auf dem G-8-Gipfel in St. Petersburg verabschiedeten Erklärung.

    Diese Passage trug Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Rücksicht auf den Koalitionsfrieden nicht mit. (...) In die Gipfelerklärung zum Thema Kernkraft wurde als Zugeständnis an Merkel die Formulierung aufgenommen: "Wir erkennen an, daß die G-8-Mitglieder unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, um Energiesicherheit und die Klimaschutzziele zu erreichen."


    Da haben wir ihn wieder, den Deutschen Sonderweg. Wieder, oder vielmehr immer noch. Denn der "Ausstieg aus der Kernenergie" ist ja eine Altlast aus der Zeit von Rotgrün.

    Aus der Zeit einer Regierung, die Säkulares zu leisten sich vorgenommen hatte, nämlich den "ökologischen Umbau der Industriegesellschaft".

    Darin spielte der "Ausstieg aus der Atomenergie" eine zentrale Rolle. In ihm bündelte sich sozusagen alles das, was diese Achtundsechziger Generation, die erst an der Schwelle zum Rentenalter an die Macht gekommen war, an ideologischem Gepäck im Lauf ihres Lebens aufgenommen hatte:

  • Das Mißtrauen, ja oft die Feindseligkeit gegen jede Hochtechnologie;


  • die Feindseligkeit, ja oft der offene Kampf gegen die internationale Großindustrie (zur Achtundsechziger Zeit "die Multis" genannt);


  • eine apokalyptische Weltsicht, die voller Untergangsphantasien war. Voll von als positiv erlebten Phantasien über den Untergang des Kapitalismus, aber auch von Angstphantasien über die "Selbstauslöschung der Menschheit";


  • und natürlich die zentrale Beschäftigung mit dem Thema "Umwelt"; wobei seltsamerweise die Nuklearenergie als umweltfeindlich gesehen wurde.



  • Die Ablehnung der Nuklearenergie durch eine Mehrheit der Bevölkerung, wie sie jedenfalls 1998 existierte, als der "Ausstieg" beschlossen wurde, erklärt sich aber wohl nicht allein aus diesen Aspekten und Elementen der Weltsicht der Achtundsechziger. Denn diese waren ja nicht eigentlich eine "Generation", sondern vielmehr das, was die Soziologen eine "Kohorte" nennen - eine Gruppe von Generationsgenossen. Eine Teilmenge der Generation der zwischen ungefähr 1940 und 1950 Geborenen; und eine doch eher kleine Teilmenge.

    Wie also kam es, sieht man von der Achtundsechziger Ideologie ab, zu dieser außerordentlich breiten Ablehnung der Nuklearenergie durch die Deutschen? (Ganz anders als zB in Frankreich, wo vor ein paar Monaten die kommunistische "Humanité" eine Diskussion zu diesem Thema brachte, in der der Umweltsprecher der Kommunisten sich für eine Beibehaltung der AKWs aussprach, bei gleichzeitiger Entwicklung alternativer Energien). Woher diese weitgehende kollektive deutsche Überzeugung, daß die Atomkraft etwas Negatives und der "Ausstieg" etwas Wünschenswertes sei?

    Das ist eine seltsame Geschichte, und je mehr man sie zu verstehen versucht, umso seltsamer erscheint sie. Es ist eine Geschichte, die - wenn ich es recht sehe - bis zu den beiden deutschen Schicksalsjahren 1945 und 1968 zurückreicht.

    Einige Aspekte dieser Geschichte wird ein zweiter Beitrag zu diesem Thema beleuchten.



    Links zu allen Folgen dieser Serie:

  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 16. Juli 2006

    's ist Krieg


    Als im Januar 1991 der erste Golfkrieg begann, war in unserer Universität und ihrem Umfeld die Bestürzung groß. Die Studenten, die "im Frieden" aufgewachsen waren, erlebten zum ersten Mal "Krieg". Es gab Schweige- märsche, es gab in der Uni viele Aktionen, Podiumsdiskussionen, "umfunktionierte" Vorlesungen und Seminare.

    Am stärksten in Erinnerung ist mir eine Veranstaltung, die eine Mischung aus Happening, Kundgebung und Trauergottesdienst war. Man hatte an einem zentralen Platz der Stadt viele schwarze Kreuze aufgestellt. Es traten Redner und Rezitatoren auf, und jemand sprach einen Text, in dem es hieß (dumpf und leise-intensiv gesprochen): "'s ist Krieg". Ein sehr schöner, sehr schrecklicher Text von Matthias Claudius, mit dem bekannten "und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!"

    Die Bestürzung, die - wie man damals noch unbefangen sagte - "Betroffenheit" war echt. Aber sie zeugte doch zugleich von einem geringen Geschichtsverständnis, von einer jedenfalls sehr subjektiven Sicht des Weltgeschehens. Denn die Zeit vor dem Januar 1991 war keine Friedenszeit gewesen, und der Golfkrieg war kein Krieg im klassischen Sinn.

    Er war nur die erste kriegerische Auseinandersetzung, die in allen Einzelheiten "gecovert" wurde, medial begleitet. Und es hatte in seinem "Vorfeld" eine wochenlange, ebenfalls bereits in den Medien reflektierte, Eskalation der Kriegsvorbereitungen gegeben, die im Angriff der internationalen Streitmacht auf den Irak kulminierte. Eine bedrängende, bedrückende Dramaturgie.




    Streng genommen gibt es seit 1945 kaum noch Kriege. Der Nürnberger Prozeß hat den Angriffskrieg geächtet; und es liegt nun mal im Wesen eines Krieges, daß man einander angreift, daß mindestens eine der beteiligten Kriegsparteien der Angreifer ist.

    Also wird heutzutage nicht mehr "der Krieg erklärt".

    Genaue Historiographen notieren zwar, daß es immer noch Staaten gibt, die sich formal im Kriegszustand befinden - Portugal und die Niederlande zum Beispiel, weil sie nach einem Krieg im Jahr 1567 es unterlassen haben, Frieden zu schließen. Nord- und Südkorea, weil sie den Korea-Krieg nur mit einem Waffenstillstand unterbrochen haben. Oder - eine aktuelle Kuriosität - der Tschad, der dem Sudan gegenüber im Dezember 2005 einen état de bélligerance, einen Kriegszustand also, verkündet hat.

    Aber im wesentlichen finden heute, formalrechtlich gesehen, keine erklärten Kriege mehr statt. Das ist das Ergebnis des Nürnberger Prozesses, und es ist das Ergebnis eines langen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Bemühens, den Krieg "abzuschaffen".



    In diesen Tagen wird darüber diskutiert, ob im Nahen Osten ein Krieg auszubrechen droht, oder ob dieser gar schon im Gange sei.

    "Wie groß ist die Gefahr, dass sich der Konflikt zum Krieg ausweitet?" fragt heute beispielsweise der Tagesspiegel. In Israel wird der Krieg weithin als schon im Gang befindlich wahrgenommen. YNetNews zum Beispiel nennt ihn im Nachrichtenteil den "Zweifrontenkrieg"; und im Kommentarteil spricht Yigal Sarena, eine scharfe Kritikerin dieses Kriegs, vom Julikrieg 2006, während in einem anderen Kommentar von YNetNews Sever Plocker schreibt: "The need to win this war is absolute. There can be no debate about it."



    Die Frage, ob Israel sich "noch" in einem Konflikt befindet oder "schon" im Krieg, ist augenscheinlich sinnlos.

    Sie ist ebenso sinnleer wie die Frage, ob die USA seit 9/11 im Krieg mit dem islamistischen Terrorismus stehen. In den USA sehen das viele Menschen so. Hier in Europa erscheint es vielen als grotesk übertrieben.

    Sie ist ebenso sinnlos wie die Frage, ob im Irak ein Bürgerkrieg tobe. Seltsamerweise sehen das viele in Europa so, die zugleich vehement bestreiten, daß die USA sich im Krieg gegen Terroristen befinden.



    Sinnvoll wären derartige Fragen nur dann, wenn es noch eine klare Grenze zwischen Krieg und Frieden gäbe. Diese wurde im klassischen Völkerrecht durch die Kriegserklärung und den Friedensschluß gezogen. Mit der Minute der Kriegserklärung begann der Krieg, und mit dem Augenblick des Friedensschlusses endete er.

    Nun hat man also den Krieg "geächtet". Daß Kriege dadurch - daß also Kriege im vergangenen halben Jahrhundert - seltener geworden wären, kann man nicht sagen. Die Nobelpreisorganisation hat eine Weltkarte der Kriege des 20. Jahrhunderts zusammengestellt.

    Aber was - sicher nicht nur durch die Ächtung des Kriegs, aber sicher auch nicht unabhängig von ihr - geschehen ist, das ist eine Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden. Sie waren, als Krieg noch erlaubt und durch das Völkerrecht reguliert war, scharf gezogen; eben durch Kriegserklärung und Friedensschluß. Heute gibt es ein Kontinuum. In gewisser Weise herrscht in vielen Weltregionen Krieg. In gewisser Weise herrscht nirgends richtig Krieg.



    Zur Zeit des Ost-West-Konflikts sprach man davon, daß "aus dem Kalten Krieg ein heißer werden könnte". Der "heiße Krieg" - das bedeutete damals den Atomkrieg, mit der Aussicht auf eine weitgehende Vernichtung aller beteiligter Staaten; vielleicht weiter Teile der Menschheit. Weil dieser Krieg so unfaßbar schrecklich war, war die Grenze zu ihm außerordentlich scharf gezogen.

    Diese Gefahr besteht im Augenblick nicht mehr (oder noch nicht wieder). Kriege sind damit wieder führbar geworden. Sie sind aber geächtet. Und folglich gibt es nun, statt der scharf gezogenen Grenze, ein Kontinuum der Gewalttätigkeit. Alles unterhalb der Schwelle zur "Kriegserklärung". Mal terroristische Anschläge, mal "gewaltsame ethnische Konflikte", mal ein "nationaler Befreiungskampf" oder "Widerstand gegen Besatzer". Mal "Grenzzwischenfälle" oder "Raketenbeschuß", mal "gezielte Tötungen" oder "Säuberungsaktionen".



    "'s ist Krieg!", das paßt heute eigentlich nicht mehr. Kriege "brechen" nicht mehr "aus". Sie sind nicht mehr wie eine Infektionskrankheit, die man nach einer Ansteckung plötzlich "bekommt", sondern eher wie ein Kreislaufleiden, das man im Lauf seines Lebens "entwickelt" und das mal heftiger, mal weniger schlimm in Erscheinung tritt.

    14. Juli 2006

    Aufklärung und Postmoderne

    In ihrem Kommentar zu "In welchem Zeitalter leben wir?" hat Inger sehr zu Recht darauf hingewiesen, daß ich bei dem Versuch, dort einige Bezeichnungen für das gegenwärtige Zeitalter aufzuzählen, den vermutlich geläufigsten Namen vergessen hatte: Postmoderne.

    Ja, ich habe ihn vergessen, übersehen, ignoriert, diesen Begriff der Postmoderne. Unabsichtlich, aber vermutlich nicht unmotiviert. Warum also?



    Nun, zunächst einmal wohl deshalb, weil er einer dieser Begriffe ist, mit denen die Dekadenz sich selbst bezeichnet, oder mit denen sie von anderen belegt wird. Also mir zutiefst unsympathisch.

    Spätantike, Manierismus, Rokoko, Ancien Régime, Fin de Siècle, Spätkapitalismus - das sind solche Epochen- bezeichnungen, mit denen der Niedergang, der Zerfall, allenfalls ein letztes Strohfeuer, ein letztes Auskosten des Geists einer Epoche gemeint ist.

    So auch Postmoderne. Ein Nachklapp der Moderne. Ihr defizienter Modus. Die Spätzeit, in der diese, derweil sich alle ihre Prinzipien verflüchtigen, noch einmal mit ihren Mitteln, ihren Stilen spielt. Das Satyrspiel nach der Tragödie. Der Dandy als Karikatur des Gentleman.



    "Postmodern", das ist aber nicht nur eine Diagnose, sondern es ist auch so etwas wie ein Wellness-Programm. Wenn nichts mehr geht, dann geht alles. Wie schön!

    Auf, Leute, laßt uns postmodern sein! Weg von der Strenge, der Verbindlichkeit, der Rationalität der Moderne! Jedem Tierchen sein Pläsierchen! Und jedem Dummkopf seine Wahrheit! Alles gleich wahr, alles gleich falsch. Wen schert's.

    Aufklärung? Pah! Nur eine Konstruktion unter beliebig vielen. Dekonstruieren wir sie, so wie sich alles dekonstruieren läßt. Dekonstruieren - also relativieren. Als beliebig, wenn nicht als Ideologie entlarven, als einen Überbau, so schwankend wie die Basis, der er aufsitzt. Mit ihr dem Untergang geweiht. Ex und hopp!

    Hopp! Und öfter mal was Neues! Also was Altes. Denn es ist ja alles schon mal dagewesen. Die Mythen, die Rituale, das Zauberische und Raunende - alles das, was die eindimensionale, verkopfte, irgendwie auch männliche Aufklärung verdammt hatte: Heraus damit aus dem Orkus, in den es dieser Aufkläricht geworfen hat!



    Back to the roots! Freilich in postmoderner Sicht ohne die Verbindlichkeit, die dieses Wiederentdeckte zu seiner Zeit - also zu der Zeit, als es wirklich gegolten hatte - an sich gehabt hatte.

    Was unbedingt gewesen war, schwer und lastend, die Menschen in ihrer Existenz fordernd, das verwandeln die Postmodernen in Spiel und Ästhetik - die Religion wird zur Esoterik, der Mythos zur Fantasy, das Ritual zum Happening, die Philosophie zur Guru-Lehre.

    Sie verwandeln es, und sie vernichten es damit natürlich. Denn wenn alles geht, dann geht in Wahrheit nichts mehr. Wenn alles gilt, dann kann man dieses alles nur noch spielerisch, uneigentlich, sich in der Selbstreferentialität selbst aufhebend, gelten lassen.



    Ein Gläubiger der Postmoderne - also ein gläubiger Ungläubiger - wird das vermutlich alles einräumen und, in einer sehr postmodernen Volte, es gerade als Bestätigung postmodernen Denkens für sich reklamieren: Ja, genau dies, diese Uneigentlichkeit, dieses Herumspielen, dieses Ästhetisieren, diese Beliebigkeit - das ist eben, streng konstruktivistisch, die Weltsicht, die unserer aus den Fugen - den Fugen der Moderne - geratene Welt als einzige entspricht. Die Art, wie unsere untergehende Gesellschaft sich die Welt konstruiert, indem sie Weltsichten dekonstruiert.

    So denken sie, die Postmodernen. So selbstreferentiell, so allerliebst-unverbindlich. Daß sie denken, wie sie denken, bestätigt in ihren Augen schon, daß es berechtigt ist, so zu denken. Wie jede halbwegs gelungene Ideologie - wie die Lehre Hegels, wie die von Marx - umfaßt das postmoderne Denken als seinen Gegenstand nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Es erklärt uns nicht nur, warum die Welt so ist, wie es sie beschreibt, sondern auch, warum es selbst - dieses Denken - gar nicht anders sein kann als so, wie es ist.




    Ja, ist sie denn nicht so, diese heutige Welt? Überhaupt nicht ist sie so. Es ist eine Welt, in der es ein Maß an Verbindlichkeit gibt wie noch nie in der Geschichte der menschlichen Kultur.

    Keine Spätzeit, sondern viel eher eine Frühzeit: Der Eintritt der Menschheit in eine neue Epoche. Eine Epoche, in der die abendländische Kultur, und mit ihr die moderne Wissenschaft und Technologie, mit ihr die Demokratie und der Rechtsstaat sich weltweit ausbreiten und zugleich modifizieren - sich in dem Maß modifizieren, in dem das alles von anderen Kulturen absorbiert, also ihren eigenen Traditionen assimiliert wird.

    Die Moderne ist nicht vorbei, sondern sie ist erst im Begriff, sich zu entfalten.

    Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt arbeiten erstmals an denselben Problemen. Sie verwenden dieselben Methoden und diskutieren dieselben Theorien, meist sogar in einer gemeinsamen Sprache - dem Englischen, der Lingua Franca unserer Zeit.

    Die gesellschaftlichen Normen, die Verhaltensweisen der Menschen, die Umstände ihres Alltagslebens gleichen sich mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit an. Sie sehen TV-Programme, die einander in der Ästhetik, in den Präsentationstechniken, zunehmend auch in den Inhalten immer mehr gleichen. (Man sehe sich das englischsprachige Programm des chinesischen CCTV9 an und vergleiche es mit CNN oder dem internationalen Programm der BBC). Und auch die politischen Systeme, die Rechtssysteme werden einander immer ähnlicher. Ein Rechtsphilosoph hat mir kürzlich erzählt, wie die chinesischen Juristen sich systematisch mit der Rechtsphilosophie der Aufklärung vertraut machen, um auf dieser Grundlage ein modernes Rechtssystem zu entwerfen.



    Ja, der Aufklärung. Denn alle diese Konvergenzen sind ja Konvergenzen hin zu einer Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Aufklärung basiert - auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als deren unmittelbarem Ausdruck; auf dem ungeheuren Aufschwung, den die Wissenschaft und die Technik seit dem 18. Jahrhundert genommen haben, als ihrer mittelbaren Folge.

    Die Moderne ist nicht zu Ende. Sie hat gerade erst richtig begonnen. Warum also dieses postmoderne Geschwätz? Es ist, glaube ich, eine Begleitmusik, wie sie solche säkularen Umwälzungen oft begleitet: Die Reaktion derjenigen, die mit diesen Umwälzungen nicht zurechtkommen.

    Der Übergang zur Neuzeit war vom Hexenwahn, von Exzessen der Inquisition, von Dunkelmännerei à la Cagliostro begleitet. Der Übergang in die globale Moderne wird heute von den Theorien der Postmodernen begleitet.