30. Oktober 2015

Sterbende Dörfer

Wenn über den demographischen Wandel in Deutschland gesprochen wird, dann wird das meist an zwei Themen festgemacht. Einerseits wird die Zukunft der Rentenversicherung diskutiert, also ob die Renten für eine größer werdende Zahl von Alten von weniger werdenden erwerbstätigen Jungen bezahlt werden können. Andererseits wird der zum Teil drastische Bevölkerungsrückgang in verschiedenen Regionen angeführt, insbesondere im ländlichen Raum.

Besonders dramatisch ist die Lage in Ostdeutschland abseits weniger Ballungszentren, in Nordhessen, Nordostbayern und einigen Regionen Westfalens und Niedersachsens. Immer häufiger sind die Berichte über Dörfer, in denen nur noch ein Bruchteil der früheren Bevölkerungszahl wohnt und in denen Schulen und Infrastruktureinrichtungen geschlossen werden müssen.

Nur: Mit dem demographischen Wandel hat das eigentlich fast nichts zu tun.

28. Oktober 2015

Schilda lebt. Eine Münsterländer Provinzposse, mit leichtem Stileinschlag

Bei den Wörtern, die es - ob nun wirklich oder nur den mangelnden Sprachgefühl von Non-native speakers geschuldet, in anderen Zungen nicht gibt und die deshalb höchstens als direkter Fremdworteinschuss ein Heimatrecht erwerben könnten, scheint das Deutsche, wenn man den angelegentlichen Ausflügen zumeist sprachpflegerischer Feuiletonisten glauben möchte, besonders gesegnet. (Oftmals handelt es sich hier leider nur um fehlbaren Lokalstolz. Vladimir Nabokov beharrte stets darauf, daß das russische "poshlost'" keine Entsprechung in einer anderen Sprache fände, auch nicht als "kitschig", "peinlich", "vulgär" oder Englisches "bathos". Portugiesen, Italiener und Türken werden jeweils eisern darauf bestehen, daß die melancholische Moll-Gestimmtheit, die eher gelassen und schwebend eine Stimmung spätherbstlichen Abendlichts evoziert, nur ihnen zugänglich sei und "saudade", "nostalgia" und "hüzün" nichts miteinander, und schon gar nicht mit dem englischen "blues" verbindet.) Bei dieser Pirsch im Wald der Worte versammelte der Pilzgänger der Frankfurter Rundschau ein gutes Dutzend Exemplare im Korb, darunter so schöne wie "Geborgenheit," "Dornröschenschlaf" und "Fernweh" (was nahelegt, daß er in den Aufforstungen des Freiherrn v. Eichendorff unterwegs war) und so prosaische wie "Torschlußpanik", "Dunkelziffer", "scheinheilig", "Bausparen", "Brückentag" und "Geschmacksverirrung".   

Woran das jeweils liegt, wird wohl, wie so oft bei den Kobolzereien der Sprache, nicht zu klären sein, aber bei der Vokabel "fremdschämen" darf man vermuten, daß im Deutschen ein verstärkter Bedarf vorliegt. Das Phänomen ist andernorts (siehe по́шлость) zwar geläufig, aber bis zum eigenen Lemma reicht es nicht. Da freut es den Beobachter, wenn einmal neben der Tristesse der erwartbaren Peinlichkeit ein Anklang an den reichlichen Vorrat entsorgter Pratfalls vernehmbar wird. Wie in dieser Provinzposse aus dem münsterländischen Gescher.





27. Oktober 2015

Horst, was nun?

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat der Bundesregierung ein Ultimatum gestellt: bis "Allerheiligen" (also den 1. November) müsse eine Begrenzung der Zuwanderung her, sonst werde die bayerische Landesregierung - ja was eigentlich?

Sie werde sich dann etwas überlegen.

21. Oktober 2015

Uhrenabgleich: Warten auf "McFly!"

Sollten sich auch hier, im Zentrum der Mitteleuropäischen Zeitzone, Zeitgenossen bereithalten, um Marty McFly bei seinem Auftauchen am unteren Ende seiner temporalen Exkursionen im pannenanfälligen DeLorean zu begrüßen, so wie es auch bei den Stationen "1885", "1955" und "1985" der Fall ist - oder sagt man war? sein wird? gewesen sein wird? - das Temporalsystem der natürlichen menschlichen Sprachen ist zur Wiedergabe der Auswirkungen fahrlässig erzeugter Chronoklasmen nur eingeschränkt tauglich - sollte also jemand planen, sich dem Begrüßungskommittee  von Biff und seinen Spießgesellen beizugesellen - deren herzhaftes und hier blogposttitelgebendes "Hey, McFly!" allerdings nur am temporalen Ground Zero 1985 A.D. dem von Michael J. Fox so kongenial gespielten Picaro gilt - sollte also...










15. Oktober 2015

Dummes, kurz kommentiert: Berliner Politiker spielen "Flüchtlingsboot"

Vor fast genau 100 Jahren, am 5. Oktober 1915, veröffentlichte Karl Kraus in seiner Zeitschrift "Die Fackel", in der er an den Zuständen in Wien, um Wien und um Wien herum seit jeher kein gutes Haar ließ, im Rahmen einer Reihung von Zeitungszitaten eine kurze Mitteilung aus einem nicht genannten Blatt über eine neue Attraktion im Wiener Prater, mit der die k.u.k. Heeresleitung dem geneigten Publikum die Realität des Frontalltags auf den Schlachtfeldern des Weltkriegs näher bringen wollte:

"Spiele"

"Der Schützengraben wurde bis jetzt von mehr als 15.000 besucht. Nebst den großartigen Anlagen der Schützengräben fanden auch die Übungen mit den Scheinwerfern bedeutendes Interesse. Mirgen, Sonntag, werden auch die großen Scheinwerfer in Aktion treten. Das Militärkonzert beginnt bereits um 4 Uhr nachmittags. Eintritt pro Person 50 H., für Militär vom Feldwebel abwärts und Kinder 20 H. Kürzeste Abfahrt durch die Ausstellungsstraße (3. Haltestelle vom Praterstern).

"...das von Hauptmann Adolf Ott zusammengestellte Programm umfaßte neben Chorgesängen mit Schauturnen verwundeter und rekonvaleszenter Soldaten die Vorführung eines Angriffs auf die 'Festung Wulkipoff', die von diversen Feinden verteidigt wurde. Die Kleider für die 'Feinde' hatte die Brünner Theaterdirektion zur Verfügung gestellt. Natürlich wird die Festung erobert und die Feinde in ihren abenteuerlichen Kostümen dem Publikum vorgeführt. Dann wurde die Mannschaft, rund 4000 Mann, mit Bier und Gulasch bewirtet und zum Schluß ein Feuerwerk, dessen Haupteffekt die bengalische Beleuchtung des Kaiserbildes und die flammenden Initialen bildeten."
(Die Fackel, Nr. 406-412, 5. Oktober 1915, S.34)

12. Oktober 2015

Empfehlung zum US-Wahlkampf

Es gibt leider extrem wenige politische Blogs in Deutschland, in denen nicht die Teilnehmer nur die Bestätigung des eigenen politischen Weltbilds propagieren. Saubere Analyse und offene Diskussion sind die große Ausnahme - das entspricht dem schlechten Vorbild der deutschen Medien.

Zu den lobenswerten Ausnahmen gehört Deliberation Daily. Die Autoren haben persönlich einen SPD-nahen Standpunkt, machen aber nicht in Parteipolitik, sondern bringen Fakten und Argumente.

Und aktuell bringen sie eine hervorragende Serie zu den US-Präsidentenwahlen. Besser als alles, was man in deutschen Medien lesen kann und daher von meiner Seite eine klare Empfehlung.

Vorher lohnt sich natürlich, die Grundlagen des politischen Systems in den USA nachzulesen.
R.A.

© R.A.. Für Kommentare bitte hier klicken.

6. Oktober 2015

Haltungsliteratur

Mankell war, was offenbar zur Grundausstattung guter Krimiautoren gehört, ein linker Moralist und ein engagierter Mensch. (Gerhard Spörl, SPON)
Dies soll bewusst kein Nachruf auf Henning Mankell werden. Ich habe nie ein Buch von ihm gelesen, da ich die Skandinavienkrimiwelle zwar nicht absichtlich an mir vorüberziehen habe lassen, aber mir auch keine Mühe gegeben habe, mich reitender Weise an ihr zu versuchen. Doch nach allem, was ich darüber weiß, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich dabei irgendwelches Lesevergnügen empfunden hätte. Ich schaue ja auch keinen Tatort, und zwar aus eben jenen Gründen, die Spörl hier für Mankell anführt.

3. Oktober 2015

Eine Lanze für Flüchtlinge. Und auch dagegen.


Dieser Post ist nicht zuletzt durch den Erlebnisbericht unseres Zimmermitgliedes Daska inspiriert, der hier seinen Weg in ein eigenes Posting gefunden hat. Ich glaube diesen Bericht. So ziemlich ohne Wenn und Aber. Und ich glaube ebenso, dass sich Vergleichbares in den vergangenen Monaten zehntausende Male so oder so ähnlich in Zügen, Bussen, auf Schiffen und auf der Strasse zugetragen hat. Menschen haben die fasznierende wie wunderbare Eigenschaft näher zusammenzurücken, umso stärker sie selber einer Bedrohung ausgesetzt sind oder gerade ausgesetzt waren. Auch die deutsche Geschichte ist voll mit Beispielen, wo wildfremde Menschen ihre Menschlichkeit gerade in Angesicht von grossen Katastrophen und Bedrohungen entdecken und ausleben.

2. Oktober 2015

Alte Rivalen

Eine erstaunliche Schlagzeile: "Russische Luftangriffe verärgern die Türkei". Erstaunlich nicht nur inhaltlich: Sowohl Rußland wie die Türkei kämpfen offiziell gegen den IS, aber real bombardieren sie dessen Gegner. Rußland die syrische Opposition, die Türkei die Kurden. Bei so viel Gleichklang müßten die Türken sich ja freuen, nicht verärgert sein.
Aber erstaunlich auch wegen der Details des Protests. Der wurde nämlich von den Alliierten erhoben, also den USA, Frankreich, Großbritannien und dann noch diversen arabischen Staaten und eben der Türkei. Und übrigens auch Deutschland - aber das ist nur unwichtige Folklore.

Wie kommt also der Spiegel dazu, nur über die Türkei zu reden, wenn normalerweise die USA als Hauptakteur gelten? Das liegt wohl nur daran, daß die Erklärung von der türkischen Regierung veröffentlicht wurde. Es ist eher unwahrscheinlich daß der Spiegel-Reporter begriffen hat, was er da eigentlich abschreibt.

Denn eigentlich geht es um etwas ganz Anderes: Den Konflikt der beiden traditionellen Gegner Rußland und Türkei um ihre Einflußsphären im Nahen Osten.

1. Oktober 2015

Die Nationaltracht

Die wirklich völkerverbindende Wirkung eines Erasmus-Aufenthalts entfaltet sich erst, nachdem die Beteiligten ihr Auslandssemester hinter sich haben. Denn dann kommen die gegenseitigen Besuche der aus allen möglichen europäischen Ländern stammenden Studenten. Und die wollen sich natürlich sowohl amüsieren wie auch das jeweilige andere Land kennenlernen.

Das heißt konkret: Die Belgier, Schweden, Engländer usw., die meine Tochter bei ihrem Frankreich-Semester kennengelernt hat, sagen sich zu einem Oktoberfestbesuch an. Ersatzweise, weil in München kein Platz mehr ist, werden die Cannstadter Wasen angepeilt.
Und um sich ordentlich aufs Volksfest vorzubereiten, kauft sie sich nun erst einmal ein Dirndl.