31. August 2008

Der 44. Präsident der USA (15): Warum die Nominierung von Sarah Palin eine brillante Entscheidung sein könnte. Oder im Fiasko enden (Teil 2)

Im ersten Teil habe ich mich mit der Qualifikation der Kandidatin Sarah Palin befaßt.

Aber natürlich wird ein Running Mate nicht nur nach Qualifikation für das Amt ausgesucht - im Grunde ja für zwei Ämter, das des Vizepräsidenten und dasjenige des Präsidenten, das ihm zufallen kann. Sondern ein wesentlicher Gesichtspunkt ist auch, daß er dem Kandidaten für die Präsidentschaft Wähler zuführen soll, die dieser allein nicht erreichen kann.

Da nun könnte die Unerfahrenheit von Sarah Palin sogar ein Vorteil sein. Denn mit ihrer Nominierung rückt das Thema der politischen Erfahrung jedenfalls für einige Zeit in den Mittelpunkt des Wahlkampfs. Und das wird am Ende Obama schaden und McCain nützen.

Viele werden zunächst denken: Eine so unerfahrene Frau als Vize, kann das gutgehen? Und sich dann überlegen, daß ja auch Obama nicht erfahrener ist; sogar unerfahrener, was das Regieren angeht. Das könnte manchen zur Entscheidung für McCain bringen.

Wie überhaupt, so sieht es jedenfalls gegenwärtig aus, die Nominierung von Sarah Palin McCains Wahlkampf sehr beflügeln dürfte. Sie spricht just diejenigen Gruppen an, die McCain selbst nicht gut erreicht - die Frauen, die Jungen, die frommen Konservativen. Hillary- Wähler ebenso wie Huckabee- Wähler; und vielleicht sogar den einen oder anderen Obama- Wähler, der vor allem jemanden unter fünfzig haben möchte.

Insofern hat McCain sich an diejenigen Kriterien gehalten, die ihn auch zur Auswahl von Tim Pawlenty hätten veranlassen können; er hat sich für eine radikalere Variante derselben Option entschieden.

Und er hat mit Sarah Palin jetzt auch noch eine glänzende Debattiererin, die Joe Biden in den Duellen der Vize- Kandidaten zumindest rhetorisch gewachsen sein wird. Was das Wissen angeht, wird sie bis dahin allerdings kräftig büffeln müssen.



Und schließlich wird Palin auch viel Medieninteresse an ihrer Person auf sich ziehen; ganz anders als der redselige, seit Jahrzehnten den Wählern geläufige Joe Biden.

Nicht nur, weil sie bisher ziemlich unbekannt war und viele sich folglich fragen werden, wer denn diese Frau ist, deren Stern so schnell aufging. Sondern das, was die Medien über sie publizieren werden, verspricht auch einen hohen Human Interest- Wert zu haben:

Sie war einmal Schönheitskönigin, wenn auch nur Miss Wasilla. Ihr Mann Todd hat Yupik- Eskimos als Vorfahren; sein Hobby sind Rennen mit Motorschlitten. Einer ihrer Söhne ist Soldat und wird demnächst in den Irak gehen. Ihren jüngsten Sohn bekam sie erst im April dieses Jahres; es ist ein Kind mit Down- Syndrom. Daß sie es bekommen hat, darf man bei den heutigen pränatalen Routine- Tests als Beleg dafür ansehen, daß sie sich bewußt dafür entschieden hat, es trotz der Behinderung zu bekommen.

Und wenn sie auch das Jagen, Fischen und vor allem das Schießen liebt - sie ist zugleich, so das Magazin People, dem ich auch die anderen Informationen entnommen habe, eine ausgesprochen modebewußte Frau: "... on the job as governor she wears Kazuo Kawasaki designer glasses and black Franco Sarto boots!", im Amt trägt sie Kazuo- Kawasaki- Designerbrillen und schwarze Franco- Sarto Stiefel.

Was immer das ist; es klingt jedenfalls gut.

Ach ja, (das nur nebenbei für Sie, liebe Leser in Deutschland): deutsche Vorfahren hat sie auch, die Sarah Palin. In ihrem Stammbaum finden sich die Namen Müller und Schmolz. Schmolz ist ein eher seltener Name, dessen Verbreitung man sich hier ansehen kann. Mit recht großer Wahrscheinlichkeit stammen Vorfahren der künftigen US-Vizepräsidentin aus dem Raum Heilbronn- Böblingen - Göppingen.



Der künftigen Vizepräsidentin? So wird sie jedenfalls auf der Convention in St. Paul, Minnesota, wieder und wieder genannt werden. Wird sie es auch werden?

In den Umfragen hat sich in den letzten Wochen der Abstand zwischen Obama und McCain kontinuierlich verringert und war in einigen Umfragen bereits verschwunden; allerdings hatte Obama in der zweiten Hälfte der jetzt zu Ende gegangenen Woche der National Convention den zu erwartenden Aufschwung.

Man darf gespannt sein, wie sich die Nominierung Palins und dann die republikanische National Convention, die morgen beginnt, auswirken werden. Wenn es McCain schaffen sollte, am Ende der kommenden Woche gleichauf mit Obama oder sogar leicht vor ihm zu liegen, dann hat er ausgezeichnete Chancen, es im November zu schaffen.

Chancen, aber keineswegs eine Sicherheit. Denn seine Entscheidung für Palin ist mit einem hohen Risiko behaftet. In dem auf die Analyse von Umfragen spezialisierten Blog FiveThirtyEight gibt es dazu eine interessante entscheidungstheoretische Analyse. Danach ist McCain nach dem Parteitag der Demokraten - genauer: nach Bill Clintons enthusiastischer Unterstütung für Obama - zu der Überzeugung gekommen, daß er hinten liegt, und mußte deshalb ein Risiko eingehen:

Palin wird ihm, wenn alles gut geht, vielleicht (als Denkmodell) drei Prozentpunkte bringen - just die drei, die er für den Sieg braucht. Aber unerfahren wie sie ist, kann ihr leicht ein katastrophaler Fehler unterlaufen, eine Gaffe. Dann könnte McCain auch um zehn Prozentpunkte abrutschen; ein Fiasko.

Nur: Wenn er verliert, ist es egal, wie hoch er verliert. Wenn eine Chance von, sagen wir, fünfzig Prozent besteht, daß Sarah Palin einen solchen Fehler nicht begeht, dann hat McCain sich richtig entschieden.

Und noch eine bedenkenswerte Überlegung in dem Artikel und der anschließenden Diskussion: Sarah Palin spielt nicht nur - wie Obama das jetzt auf dem Parteitag versucht hat - den Menschen wie du und ich, den Kumpel. Sie ist es wirklich.

Ihr Authentizitäts- Faktor sprenge alle Maßstäbe, heißt es in dem Artikel. "But do Americans really want their next- door- neighbor running for Vice President, or rather someone who seems like one?" Aber wollen die Amerikaner wirklich die Nachbarin von nebenan als Bewerberin um die Vizepräsidentschaft - oder nicht doch eher jemanden, der nur so wirkt?



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Marginalie: Bruch der Großen Koalition in Berlin - und was dann?

Was hier Ende 2007 zu lesen war, könnte jetzt Wirklichkeit werden: Ein konstruktives Mißtrauensvotum mit dem Ziel, im Bund die Vereinigte Linke aus SPD, Grünen und Kommunisten, also eine Regierung der Volksfront, an die Macht zu bringen.

Was heute "Spiegel- Online" meldet, gibt Anlaß zu dieser Vermutung:
Die Große Koalition in Berlin steht nach den Worten der Ministerpräsidenten Christian Wulff und Peter Müller auf der Kippe. Lasse sich Andrea Ypsilanti in Hessen mit Links- Stimmen wählen, werde die Union die Zusammenarbeit aufkündigen ... (...). Auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller spricht sich für den Fall einer Zusammenarbeit der SPD mit der Linkspartei in Hessen für eine schnelle Beendigung der großen Koalition aus.
Diese Äußerungen sind deshalb interessant, weil der Zug in Hessen nach menschlichem Ermessen abgefahren ist. Die Kommunisten haben die Volksfront in der Tolerierungs- Variante abgesegnet. Die Grünen werden zustimmen. Daß es in der hessischen SPD in letzter Minute zu einer Palastrevolte gegen Ypsilanti kommt, ist denkbar, aber unwahrscheinlich. Dazu sind die Dinge zu weit gediehen.

Also kann diese Warnung der beiden Ministerpräsidenten kaum darauf zielen, die Volksfront in Hessen noch zu verhindern. Sie wird kommen; jedenfalls als Versuch. Dieser mag scheitern, aber das würde wenig ändern. Ein Seitensprung ist ein Seitensprung, auch wenn es mit dem Vollzug nicht ganz klappt.



Wenn Wulff und Müller sich derart massiv äußern, dann dürften sie folglich davon ausgehen, daß der Fall, vor dem sie warnen, eintreten wird. Also dann auch die Konsequenz, die sie fordern - das Ende der Großen Koalition?

Die Union könnte angesichts guter Umfrageergebnisse, angesichts des desolaten Zustands der SPD und angesichts einer weiteren Belastung der SPD durch eine Volksfront in Hessen (ob nun nur versucht oder auch erreicht) versucht sein, die Koalition zu verlassen mit dem Ziel, daß es zu Neuwahlen kommt.

Aber wird es das? Wahrscheinlicher ist es wohl, daß die Union mit einem solchen Schritt eine (vielleicht beabsichtigte) Steilvorlage für ein konstruktives Mißtrauensvotum liefern würde.

Das hätte für die Parteien der Volksfront die Vorteile, die in dem seinerzeitigen Artikel von Ende 2007 nachzulesen sind: Sie könnte aus der Regierung heraus in den Wahlkampf 2009 ziehen - mit dem Amtsbonus einer Regierung, mit deren Ressourcen. Und sie könnte damit rechnen, daß Wähler sich sagen: Jetzt sind die Linksparteien nun einmal dran; geben wir ihnen also ihre Chance. Nicht schon wieder ein Wechsel.

Jedenfalls könnten die Strategen der Linken auf eine solche Reaktion spekulieren. Möglich ist freilich auch, daß eine solche Entwicklung vielen Wählern der SPD die Augen dafür öffnet, was aus ihrer Partei geworden ist. Dann könnte die Volksfront eine einjährige Episode bleiben.



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Der 44. Präsident der USA (15): Warum die Nominierung von Sarah Palin eine brillante Entscheidung sein könnte. Oder im Fiasko enden (Teil 1)

Wie man sich denken kann, hat die Entscheidung John McCains, die Gouverneurin Sarah Palin zu seiner Partnerin im Kampf um das Weiße Haus zu machen, zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt.

Nicht oft gab es bei CNN so gegensätzliche Kommentare wie die von Paul Begala und von Ed Rollins zu diesem Thema. "Is McCain out of his mind?" fragt Begala - ob McCain übergeschnappt sei. Rollins hingegen nennt die Entscheidung McCains brillant, wenn auch riskant.



Sehen wir uns an, wie Begala, ein ehemaliger Mitarbeiter Bill Clintons, argumentiert:
Palin, a first-term governor of a state with more reindeer than people, will have to put on a few pounds just to be a lightweight. Her personal story is impressive: former fisherman, mother of five. But that hardly qualifies her to be a heartbeat away from the presidency.

For a man who is 72 years old and has had four bouts with cancer to have chosen someone so completely unqualified to become president is shockingly irresponsible. Suddenly, McCain's age and health become central issues in the campaign, as does his judgment.

Palin, in ihrer ersten Amtszeit als Gouverneurin eines Bundeslands mit mehr Rens als Einwohnern, wird ein paar Pfund zulegen müssen, um wenigstens ein Leichtgewicht zu sein. Ihre persönliche Geschichte ist eindrucksvoll: Ehemalige Fischerin, Mutter von fünf Kindern. Aber das qualifiziert sie kaum dazu, einen Herzschlag vom Amt des Präsidenten entfernt zu sein.

Für einen Mann, der 72 Jahre alt ist und der viermal akuten Krebs hatte, ist es entsetzlich unverantwortlich, jemanden ausgewählt zu haben, der so völlig unqualifiziert für das Amt des Präsidenten ist. Plötzlich werden McCains Alter und seine Gesundheit zentrale Themen des Wahlkampfs - und auch sein Urteilsvermögen.
Rollins hingegen, ein altgedienter Republikaner seit der Zeit Ronald Reagans, weist auf die Vorzüge von Sarah Palin hin:
Conservatives love her, and she shares John McCain's value system. She is also known for taking on the establishment and ethics is her forte. She defeated the longtime senator and Republican governor in a primary and then went on and defeated the former Democratic governor. (...)

I think the potential for her to attract women voters is immense. And I am betting, win or lose or draw, she is a future star of a party in desperate need of young people and women role models.

Die Konservativen mögen sie, und sie teilt John McCains Wertesystem. Sie ist auch dafür bekannt, sich mit dem Establishment anzulegen, und Ethik ist ihre Stärke. Sie schlug den langjährigen Senator und republikanischen Gouverneur in einer Vorwahl und dann auch gleich noch den ehemaligen demokratischen Gouverneur. (...)

Ich glaube, ihr Potential, weibliche Wähler anzuziehen, ist immens. Und ich wette darauf, daß sie einmal Star in einer Partei sein wird, die Junge und Frauen als Rollenmodelle dringend braucht.



Die Argumente beider Seiten sind nicht von der Hand zu weisen, auch wenn Begala, wie er das gern tut, übertreibt; er ist der Typ Kommentator, der für einen guten Witz seine Großmutter verkauft. Bei Diskussionen in CNN immer für eine Pointe gut.

Aber er hat im Kern recht - natürlich wäre es problematisch, wenn Sarah Palin, frisch nach Washington gekommen, Präsidentin werden müßte.

Würde McCain dagegen nach einigen Jahren im Amt ausfallen, dann sähe es anders aus, denn diese offenbar mit einem glänzenden Intellekt und einem starken Charakter begabte Frau scheint - soweit ich das beurteilen kann, nachdem ich mich ein wenig über sie informiert habe - durchaus das Zeug zur Präsidentin zu haben. Wenn sie, sagen wir, zwei Jahre Vizepräsidentin war und dann für McCain einspringen müßte, dann wäre sie sicher besser auf das Amt vorbereitet als jetzt Barack Obama.

Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Wie man die Kandidatur von Sarah Palin beurteilt, ist eine Frage der Risiko- Abwägung. Wenn Obama Präsident wird, dann kommt mit Sicherheit jemand in dieses Amt, dem es dafür an Erfahrung fehlt. Wenn McCain mit Palin als Running Mate Präsident wird, dann kann das passieren.

Ja, aber ist Obama, immerhin eine Legislaturperiode lang Senator, nicht doch qualifizierter als Sarah Palin? Als eine Frau, die seit noch nicht einmal zwei Jahren Gouverneurin im fernen Alaska ist, wo sie ungefähr so viele Einwohner regiert wie bei uns die Oberbürgermeisterin Petra Roth, nämlich weniger als 700.00? Zuvor war sie Bürgermeisterin von Wasilla gewesen; Einwohnerzahl je nach Quelle 5470, 6715 oder 8471 Seelen.

Nun, das kann man so und so sehen. Natürlich hat Obama aus seiner Zeit als Senator Erfahrungen mit den Verhältnissen in Washington, mit den Themen, die im Senat verhandelt werden. Palin hat das nicht. Aber sie steht immerhin seit zwölf Jahren in der politischen Verantwortung. Anders als Obama. Die einzige Organisation oder Körperschaft, für die er jemals Verantwortung getragen hat, war in Chicago das Developing Communities Project; maximale Zahl der Mitarbeiter: 13.

(Fortsetzung folgt)



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30. August 2008

Marginalie: Chávez schnippelt weiter

Vermutlich ist der Weg in den Kommunismus via Salami- Taktik noch nie mit so vielen dünnen Scheibchen gepflastert gewesen wie in Venezuela.

Die Taktik von Chávez ist offensichtlich: Keine seiner Maßnahmen ist für sich genommen so gravierend, daß sie heftigen Widerstand, daß sie eine Gegenrevolution auslösen würde. In ihrer Gesamtheit aber sollen diese Maßnahmen eine kommunistische Diktatur hervorbringen.

Chávez versucht die schleichende Revolution, die am langsamsten schleichende unter allen bisherigen Versuchen, den Kommunismus einzuführen.

Gestern berichtete die International Herald Tribune über das neueste Scheibchen, das Chávez abgeschnippelt hat: Der Kraftstoff- Großhandel wird verstaatlicht. Die Scheibchen zuvor waren die Verstaatlichung der Telekommunikation, der Stahlerzeugung, der Herstellung von Zement gewesen. Die Ölförderung wurde ebenfalls bereits weitgehend verstaatlicht. Das meiste wurde international kaum beachtet; erst recht reichte es nicht aus, um einen Volksaufstand auszulösen.

Die staatliche Gesellschaft Petróleos de Venezuela wird also jetzt künftig das Monopol für den Handel mit Benzin, Diesel, Heizöl haben.

Aber nur im Großhandel. Tankstellen dürfen weiter privat betrieben werden.

Ihre Verstaatlichung ist offenbar erst für ein späteres Scheibchen vorgesehen. Schnippel, schnippel. Immer schön vorsichtig.



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29. August 2008

Zitat des Tages: "Die Nato ist ein Kriegsinstrument gegen Rußland". Sagt Peter Scholl-Latour. Aber nicht deshalb ist das zitierenswert

Die Nato ist, so wie es jetzt aussieht, wieder zu einem Kriegsinstrument gegen die So ... gegen Rußland geworden. Und das muß endlich mal aufhören, nicht wahr.

Peter Scholl-Latour gestern bei Maybrit Illner.

Kommentar: Nicht weil Peter Scholl-Latour das gesagt hat, ist es mein "Zitat des Tages". Sondern aus einem anderen Grund, auf den ich gleich komme. Aber zunächst zu Scholl- Latour:

Peter Scholl-Latour ist ein großer Journalist und eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Mann offenbar mit der Vitalität von Johannes Heesters, zugleich ein unermüdlicher Reporter wie Egon Erwin Kisch. Einer von den Journalisten, die sich vor Ort umsehen, statt ihr Bild von der Welt in der heimischen Redaktion zu formen.

Peter Scholl-Latour ist auch einer der letzten großen lebenden Gaullisten. Als Lothringer zugleich Deutscher und Franzose. Mit einem Doktorgrad in Politischer Wissenschaft des Eliteinstituts Institut d'études politiques de Paris. Und - man kann es kaum glauben - ein Veteran des Indochinakriegs!

Von 1945 bis 1947 kämpfte er als Soldat einer französischen Kommandoeinheit (des Fallschirmjäger- Kommandos von Pierre Ponchardier) in Indochina gegen die Kommunisten, die damals noch nicht Viet Cong hießen, sondern Viet Minh. Und aus dieser Zeit stammt eine prägende Erfahrung seines Lebens:

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte Frankreich, seine alte Kolonie Indochina wieder unter seiner Kontrolle zu bekommen. Die USA ließen es dabei schmählich im Stich; jedenfalls in den ersten Jahren, als Scholl- Latour dort kämpfte.

Die Viet Minh waren Verbündete der USA im Krieg gegen Japan gewesen; die Franzosen hingegen waren in amerikanischen Augen Imperialisten, die ihr Kolonialreich wieder errichten wollten. Also taten die USA nichts, um den gegen die Viet Minh kämpfenden Franzosen zu helfen. Erst einige Jahre später, mit dem Beginn des Kalten Kriegs, änderte sich das.

Diese Erfahrung hat Peter Scholl-Latour offensichtlich nie vergessen. So scharfsinnig oft seine politischen Analysen sind - sobald es um die USA geht, lassen sie die übliche Klarheit und Qualität vermissen.

Im Irak- Krieg beispielsweise hat er den USA schon vor dem Krieg "massive Propaganda" vorgeworfen ("Daß unsere Politiker die massive Propaganda der USA als Tatsache akzeptieren, offenbart den Zustand der Abhängigkeit, in dem sie sich gegenüber den USA befinden"; Interview mit der "Jungen Freiheit" vom Januar 2003) und ihnen dann eine vernichtende Niederlage vorhergesagt ("Der Krieg im Irak ist verloren, das kann man in aller Deutlichkeit sagen"; Scholl- Latour im März 2007 gegenüber der österreichischen Wochenzeitung "Zur Zeit"). Das eine so falsch wie das andere; aber als Äußerung eben verständlich aus der Weltsicht Scholl- Latours.



Daß er also jetzt die Osterweiterung der Nato nicht als den freiwilligen Beitritt von Ländern sieht, die sich von Rußland bedroht fühlen und sich nach Westen orientieren wollen, sondern als das Schmieden eines "Kriegsinstruments" gegen Rußland - geschenkt. Von Scholl- Latour ist keine andere Sichtweise zu erwarten. Es ist halt die persönliche Perspektive eines großen alten Mannes mit seinen ihn prägenden Lebenserfahrungen.

Daß er also die zitierten beiden Sätze geäußert hat - das wäre mir kein "Zitat des Tages" wert gewesen. Wohl aber etwas anderes: Das Publikum im Mainzer Studio quittierte diese Äußerung mit starkem Beifall.

Daß jemand im Jahr 2008 die Nato als ein Kriegsinstrument gegen Rußland bezeichnet und fordert, daß das "endlich mal aufhören" müsse, und daß der Betreffende dafür von einem deutschen Publikum - keine Kommunisten, keine Rechtsextremen, sondern ganz normale Bürger - ebenso spontanen wie kräftigen Beifall bekommt, das ist die Nachricht. Das ist eine Nachricht über den Stand des deutschen öffentlichen Bewußtseins im Jahr 2008.



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Der 44. Präsident der USA (14): Ein junger Christ aus dem Volk an der Seite von McCain?

In den US-Medien ist seit einigen Stunden das Gerücht im Umlauf, daß McCain seinen Vize bestimmt habe.

Und das sei nicht Mitt Romney und auch nicht der ebenfalls sehr bekannte Joe Lieberman, sondern ein gewisser Tim Pawlenty, der Gouverneur von Minnesota.

Seine WebSite finde man hier, und hier ist der Artikel über ihn in der Wikipedia.

Warum gerade er? Drei Gründe könnten - falls die Gerüchte denn stimmen - für McCains Wahl ausschlaggebend gewesen sein:
  • Pawlenty ist ein evangelikaler Christ. Er wurde als Katholik getauft, ist aber zum evangelikalen Protestantismus übergetreten. Seine Kirche, die Wooddale Church, ist Mitglied der Minnesota Baptist Conference. Er wird McCain den Großteil der evangelikalen Wähler sichern, die ihm bisher überwiegend skeptisch gegenüberstehen.

  • Wie Obamas Vize Biden stammt auch Pawlenty aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater war Kraftfahrer, seine Mutter Hausfrau.

    Das Obama-Team versucht McCain als einen reichen Schnösel hinzustellen, der nicht einmal weiß, wieviele Häuser er eigentlich besitzt und der keine Ahnung von den Problemen der kleinen Leute hat.

    Pawlenty spricht die wichtige Wählergruppe der Blue Collar Workers an - wichtig vor allem, weil diese zwar traditionell demokratisch wählen, sich aber mit Obama bisher nicht anfreunden konnten. Hier könnte also McCain mit einem Vize Pawlenty in demokratische Wählerschichten einbrechen.

  • Und drittens ist Pawlenty ein junger, dynamischer Politiker und sehr erfolgreicher Gouverneur. Er hat - so wird es im Internetauftritt der National Governors Association beschrieben - vor allem den Haushalt Minnesotas ausgeglichen, ohne dafür Steuern zu erhöhen, und er hat sich massiv und mit Erfolg in der Schulpolitik engagiert.
  • Also ein junger Politiker neben dem erfahrenen McCain, ein Gouverneur neben dem Senator, ein Evangelikaler neben dem für US-Verhältnisse nur mäßig konservativen McCain, und ein Mann aus dem Volk neben dem Millionär McCain.

    Wie Obama hat McCain - wenn denn seine Entscheidung richtig kolportiert wird - damit einen Mann ausgewählt, der ihm Wählerschichten erschließen kann, mit denen er selbst Probleme hat.

    Wie man John McCain kennt, wird das aber nicht der einzige Gesichtspunkt sein, der seine Entscheidung bestimmte. Wichtig für McCain dürfte sein, daß er einen loyalen und vertrauenswürdigen Running Mate hat - und einen mit dem Format, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, sollte das Schicksal es denn so bestimmen.



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    28. August 2008

    Der 44. Präsident der USA (13): Surprise, surprise! Bill Clintons verwunderliche Rede. Was mag dahinterstecken?

    Bill Clinton hat vergangene Nacht die Rede gehalten, die seine Frau am Tag zuvor nicht gehalten hatte.

    Hillary hatte es peinlich vermieden, Barack Obama persönlich zu loben; ihm gar das Format eines Präsidenten zu bescheinigen.

    Sie hat ihn unterstützt, gewiß. Aber aus fast jedem Satz ihrer Rede sprach, daß sie ihn nur um der Sache willen unterstützte, nicht als Person. Daß sie ihn deshalb unterstützte, weil sein Programm in weiten Teilen mit ihrem eigenen übereinstimmt.

    Und ganz an erster Stelle deshalb, weil es an der Zeit sei, die Republikaner von der Macht zu vertreiben. Mit wem auch immer, das war der Subtext ihrer Rede. Nun halt in Gottes Namen mit Obama.

    Im Vorwahlkampf hatte Bill Clinton meist einen Tick härter gegen Obama gespielt als die Kandidatin selbst; vor allem, was die versteckten Fouls anging. Deshalb hatten manche in den USA erwartet (hatte auch ich damit gerechnet), daß auf die lauwarme, die halbherzige Unterstützung durch Hillary Clinton nun eine noch einmal heruntergekühlte, eine sozusagen viertelherzige durch ihren Mann folgen würde.

    Es kam ganz anders.

    Als Hillary auf die Bühne kam, um zu verkünden, daß sie die auf sie verpflichteten Delegierten davon entbinde, für sie zu stimmen, da schien die Welt noch in Ordnung. Denn kaum hatte sie diesen Pflicht- Satz gesagt, da fügte sie auch schon hinzu, daß es jetzt jedem Delegierten überlassen sei, nach seinem eigenen Herzen abzustimmen. (In der Tat wurden dann mehrere hundert Stimmen für diese aussichtslose Kandidatin abgegeben).

    Sie hätte auch sagen können, daß sie nun jedem empfehle, für Obama zu stimmen. Just das tat sie nicht. Also die Fortsetzung der Taktik vom Vortag: Unterstützung, weil es nun einmal sein muß. Aber kein Jota über das Notwendige hinaus.



    Dann kam die Wende. Und zwar bei der Entscheidung über die Akklamation.

    Die Abstimmung auf solchen US-Parteitagen funktioniert so ähnlich, wie das früher beim Grand Prix Eurovision de la Chanson der Fall war: Der Sprecher jeder Delegation gibt laut bekannt, wie sich deren Stimmen verteilen.

    Das tut er aber nicht sofort, sondern nach der Väter Sitte beschreibt und lobt er erst einmal enthusiastisch und mitunter wortreich seinen "großartigen Staat" und dessen Repräsentanten. Was naturgemäß die Sache sehr in die Länge zieht und damit die Zuschauer von den TV-Geräten vertreibt oder zum Umschalten veranlaßt.

    Die Geschäftsordnung erlaubt es nun, ein solches Verfahren durch Beschluß abzubrechen und die Wahl per Akklamation zu entscheiden. Es war durchgesickert, daß das geplant sei. Irgendwann mitten im Verfahren würde jemand den Antrag auf Akklamation stellen.

    Und wer tat das? Hillary Clinton! Sie tat es, als ungefähr in der Mitte der Abstimmung ihr Staat New York aufgerufen wurde. Und sie tat es mit einer enthusiastischen Empfehlung für Obama. Das klang schon ganz anders als ihre Rede am Vortag.

    Und dann also, nachdem man Obama gekürt hatte, kam Bill. Seine Rede kann man im Wortlaut zum Beispiel bei Fox News nachlesen. Er sagte:
    Everything I learned in my eight years as president, and in the work I have done since in America and across the globe, has convinced me that Barack Obama is the man for this job.

    Now, he has a remarkable ability to inspire people, to raise our hopes and rally us to high purpose. He has the intelligence and curiosity every successful president needs. (...)

    He has shown — he has shown a clear grasp of foreign policy and national security challenges and a firm commitment to rebuild our badly strained military. His family heritage and his life experiences have given him a unique capacity to lead our increasingly diverse nation in an ever more interdependent world. (...)

    And so, my fellow Democrats, I say to you: Barack Obama is ready to lead America and to restore American leadership in the world. Barack Obama is ready to honor the oath, to preserve, protect and defend the Constitution of the United States. Barack Obama is ready to be president of the United States.

    Alles, was ich in meinen acht Jahren als Präsident gelernt habe und in der Arbeit, die ich seither in Amerika und überall in der Welt getan habe, gibt mir die Überzeugung, daß Barack Obama der Mann für den Job ist.

    Sehen Sie, er hat eine bemerkenswerte Fähigkeit, Menschen zu inspirieren, uns Hoffnung zu geben und uns für hohe Ziele zu vereinen. Er hat die Intelligenz und die Neugier, die jeder erfolgreiche Präsident braucht. (...)

    Er hat - er hat gezeigt, daß er die Außenpolitik und nationale Sicherheit klar beherrscht, und er bekennt sich entschieden dazu, unser schwer belastetes Militär zu erneuern. Das Erbe seiner Familie und die Erfahrungen seines Lebens geben ihm eine einmalige Fähigkeit, unsere immer vielfältiger werdende Nation in einer Welt zu führen, in der die gegenseitige Abhängigkeit immer größer wird.

    Und darum, meine Parteifreunde, sagen ich Ihnen: Barack Obama hat die Voraussetzungen dafür, Amerika zu führen und Amerika wieder zur führenden Weltmacht zu machen. Barack Obama hat die Voraussetzungen dafür, gemäß seinem Amtseid die Verfassung der Vereinigten Staaten zu wahren, zu schützen und zu verteidigen. Barack Obama hat die Voraussetzungen dafür, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.
    Also genau das, was Hillary Clinton in ihrer Rede nicht über die Lippen gekommen war.



    Was steckt hinter dieser wundersamen Wende des Ehepaars Clinton? Bill Clinton gilt als der geschickteste, manche sagen: der gerissenste lebende Politiker der USA. Man darf also als Hintergrund einen wohlüberlegten Schachzug vermuten.

    Im heutigen American Thinker hat Marc Shepard dazu eine Theorie vorgetragen.

    Er vermutet, daß es zwischen den Reden von Hillary Clinton und Bill Clinton Verhandlungen mit Obama gegeben hat.

    Noch wenige Stunden vor Hillarys Rede, schreibt Shepard, hätte sich Bill Clinton skeptisch über Politiker geäußert, die viel versprechen, aber wenig halten; eine offensichtliche Anspielung auf Obama. Noch gestern sei durchgesickert, daß er nicht zur großen Rede Obamas am heutigen Donnerstag kommen werde.

    Hillarys Rede, diese negativen Nachrichten - das könnte dazu gedacht gewesen sein, den Obama- Leuten zu zeigen, daß sie nicht ohne Gegenleistung auf die volle Unterstützung der Clintons würden rechnen können.

    Was also, spekuliert Shepard, mag Clinton an Zusagen herausgeholt haben? Das wisse natürlich niemand.

    Aber "I suspect Hillary need no longer fret over her campaign debt and, should Obama prevail, the eventual nomination of Supreme Court Justice Hillary Clinton would likely be hers for the asking", Hillary brauche sich vermutlich nicht mehr über ihre Schulden aus dem Wahlkampf zu ärgern, und Oberste Bundesrichterin könnte sie, falls Obama gewinnt, werden, kaum daß sie den Wunsch äußern würde.



    Nun ja, Spekulationen. Eine Überraschung war die Wende jedenfalls, die das Ehepaar Clinton da vorgeführt hat. Überraschend wie in einem der Shakespeare'schen Königsdramen.



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    Zitat des Tages: "Wir könnten das Gas abdrehen"

    Der Westen hat nichts, aber auch gar nichts, womit er uns antworten könnte, sollte er es aber - Gott behüte - versuchen, werden ihn selbst einige Sanktionen treffen. Wir könnten beispielsweise ihm das Gas abdrehen.

    Valeri Galtschenko, Abgeordneter der Duma und Mitglied des Präsidiums von Putins Partei "Geeintes Russland" laut der russischen Nachrichtenagentur Novosti.

    Kommentar: Es ist vielleicht kein Zufall, daß gestern die Internet- Zeitung "Russland.ru" einen Artikel über die Abhängigkeit Deutschlands von den Erdgaslieferungen aus Rußland hatte. Dort ist zu lesen:
    Erdgas aus Russland spielt für Deutschlands Energieversorgung eine herausragende Rolle.

    Mehr als 60 Prozent des gesamten Energiebedarfs muss Deutschland inzwischen mit Importen decken, bei Erdgas waren es nach Berechnungen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) im vergangenen Jahr sogar 85 Prozent.

    Wichtigstes Bezugsland war dabei Russland mit 37 Prozent weit vor Norwegen mit 26 Prozent und den Niederlanden mit 18 Prozent. Deutsche Erdgasfelder deckten nur 15 Prozent des Verbrauchs. (...)

    Im europäischen Vergleich ist Deutschland überdurchschnittlich von Einfuhren abhängig. Im Durchschnitt erzeugten die Mitgliedstaaten 2006 rund 46 Prozent ihres Energiebedarfs selber, in Deutschland waren es nach Berechnungen des EU-Statistikamts Eurostat nur knapp 39 Prozent.
    Falls die jetzige Georgien-Krise etwas Gutes hat, dann ist es vielleicht der Beginn einer Diskussion in Deutschland über unsere Energieversorgung. Und zwar einer politischen Diskussion.

    In den vergangenen Jahren wurde viel, sehr viel über Energie diskutiert. Aber eine politische Diskussion war das nicht, sondern eine ganz überwiegend ideologische.

    Wir haben in Deutschland so diskutiert, als lebten wir in einem Energie- Paradies, in dem wir nur vor der Entscheidung dafür stehen, die bekömmlichsten Früchte von den Bäumen zu pflücken und die anderen abzulehnen.

    Daß es vielleicht einmal knapp werden könnte mit den eigenen Früchten und denen, die wir jederzeit von anderen bekommen können, das kam in dieser Diskussion als Thema kaum vor.

    Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn die Russen uns demnächst einmal den Gashahn zudrehen würden. Das könnte vermutlich eine realistische Diskussion über die langfristige Sicherung unserer Energieversorgung anstoßen.

    Allerdings wird Putin es genau deshalb sein lassen, das Zudrehen des Gashahns. Vorerst jedenfalls, solange wir noch die Option eines Ausstiegs aus der Abhängigkeit von Rußland haben.



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    27. August 2008

    Der 44. Präsident der USA (12): Hillary Clintons vergiftete Gabe an Barack Obama. Ein Glanzstück politischer Rhetorik

    "I am honored to be here tonight. A proud mother. A proud Democrat. A proud American. And a proud supporter of Barack Obama."

    So begann Hillary Clinton ihre Rede gestern auf dem Parteitag der Demokratischen Partei, der Democratic National Convention.

    Kommentar: Der geniale Anfang einer glänzenden Rede.

    Mutter - Demokratin - Amerikanerin. Ach ja, und dann noch Unterstützerin von Obama.

    Eine "stolze" Unterstützerin freilich. Was wunderbar doppeldeutig ist: Sie ist stolz darauf, diesen Obama unterstützen zu dürfen, so kann man es verstehen. Oder aber auch: Sie unterstützt ihn, nun gut. Aber ihren Stolz läßt sie sich nicht nehmen.

    Es hätte ihr Parteitag werden sollen, der stolzeste Augenblick ihres Lebens, ihre Nominierung zur Kandidatin für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.

    Wären die Vorwahlen nach dem Modus abgehalten worden, der McCain zum Sieger bei den Republikanern machte, dann wäre sie jetzt die Kandidatin. Aber unter den komplizierten, auf Ausgleich und Gerechtigkeit setzenden Regeln ihrer Partei wurde sie nun nur zweite Siegerin.

    Ihre Rede mußte eine Gratwanderung sein.

    Obama nicht zu unterstützen - das wäre unsolidarisch gewesen, das Ende ihrer Karriere in dieser Partei. Also mußte sie enthusiastisch zu seiner Wahl aufrufen, ihre Hilfe dazu versprechen.

    Aber sich ihm zu beugen, sozusagen zu ihm überzulaufen - das hätte ihre Anhänger enttäuscht, das hätte ihren Stolz gekränkt. Den Stolz, den sie an den Beginn der Rede gestellt hatte.



    Warum unterstützt sie also Obama? Darum:
    I haven’t spent the past 35 years in the trenches (...) to see another Republican in the White House squander the promise of our country and the hopes of our people. And you haven’t worked so hard over the last 18 months, or endured the last eight years, to suffer through more failed leadership.

    Ich habe nicht 35 Jahre geackert (...), um jetzt zuzusehen, wie wieder ein Republikaner im Weißen Haus das Versprechen unseres Landes un die Hoffnungen unseres Volks vergeudet. Und ihr habt weder über die vergangenen 18 Monate so hart gearbeitet, noch die vergangenen acht Jahre ertragen, um jetzt durch weitere verfehlte Führung zu leiden.
    Wir brauchen den Wechsel im Weißen Haus, soll das heißen, und da denn nun Obama unser Kandidat sein wird, müssen wir ihn auch unterstützen.

    Von ausgesuchter Doppeldeutigkeit auch diese Sätze: "Barack Obama is my candidate. And he must be our president". Obama sei ihr Kandidat - ungefähr so, wie die Queen ihren Prime Minister hat, so kann man das verstehen. Und er "muß" unser Präsident sein: Es muß halt sein, weil nicht sie selbst, die es viel besser könnte, nominiert werden wird.

    Natürlich muß sie ihn anpreisen, den Kandidaten, der es nun mal sein wird. Aber sie verkneift sich jedes persönliche Lob. Das, was üblicherweise in einer solchen Rede gesagt werden würde - welch ein brillanter Führer der Kandidat sei, welch ein untadeliger Patriot, welch ein großer Amerikaner usw. - fehlt in dieser Rede, es ist "conspicuously absent", wie man im Englischen sagt - es fällt auf, weil es abwesend ist.

    Ihr Lob gilt nicht dem Mann, sondern dem Programm, das er als Präsident realisieren wird - jedenfalls, sofern es mit ihrem eigenen identisch ist. Und auch da bringt sie noch eine subtile Spitze gegen Obama unter:
    Barack Obama will make sure that middle- class families get the tax relief they deserve. And I cannot wait to watch Barack Obama sign into law a health care plan into law that covers every single American.

    Barack Obama wird dafür sorgen, daß Familien aus der Mittelklasse die Steuererleichterungen bekommen, die sie verdienen. Und ich kann es kaum erwarten, mitzuerleben, wie Barack Obama einen Plan zur Krankenversicherung unterschreibt und damit zum Gesetz macht, der jeden einzelnen Amerikaner einschließt.
    Als sie das sagte, ging ein triumphierendes, leicht maliziöses Lächeln über ihr Gesicht; und ein Teil des Publikums applaudierte. Man hörte Lacher.

    Denn just um diese Frage hatte es im Vorwahlkampf einen heftigen Streit gegeben. Clinton will das, was sie jetzt sagte - eine Versicherung, der jeder beitreten muß, der bisher nicht versichert ist. Obama hingegen möchte zwar auch eine Volksversicherung, aber niemanden zum Beitritt zwingen.

    Clinton sagte also in dieser Passage: Sie freue sich darauf, daß Obama das als Präsident unterschreiben werden müssen (nämlich weil vom Kongreß so beschlossen), was sie im Vorwahlkampf wollte. Und er nicht.

    Nicht wahr, so preist man einen Kandidaten!

    Die ganze Rede ist eine brillante Übung in Doppeldeutigkeit. Eine Rede, die an der Oberfläche die bedingungslose Unterstützung Obamas deklariert, und deren Subtext sagt: Es muß halt sein, aber die richtige Kandidatin wäre ich selbst gewesen.



    Obama wußte schon, warum er es offenbar nicht einmal erwog, Hillary Clinton zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft zu machen. Da hätte er eine Natter an seinem Busen genährt.

    Ich könnte mir denken, daß diese Rede einmal in die Politische Wissenschaft eingehen wird. In den Lehrbüchern direkt unter der Rede des Marc Anton behandelt; "... doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann".



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    26. August 2008

    Zettels Meckerecke: Parteifreunde begrüßen die Rückkehr von Franz Müntefering. Jeder, wie er kann

    Franz Müntefering ist der einzige Mann von politischem Gewicht, den die SPD noch hat: Der einzige, der populär sowohl in der Partei als auch bei den Wählern ist, der langjährige Erfahrung in Partei- und Regierungsämtern hat, der sich immer seiner Partei gegenüber loyal gezeigt hat. "Urgestein", wie man das so nennt, seit jemand einmal Herbert Wehner mit dieser Bezeichnung belegt hat.

    Also herrschte Freude, vielleicht Hoffnung in der Spitze der SPD, als er nach dem Tod seiner Frau sich jetzt als aktiver Politiker zurückgemeldet hat?

    Kann man so nicht sagen.

    "Laut Parteichef Kurt Beck ist zu Münteferings künftigen Aufgaben 'alles gesagt', lesen wir in der heutigen "Süddeutschen Zeitung"; "Jede 'beratende Tätigkeit' für die SPD sei danach willkommen".

    Und als müsse er mit jedem dritten Satz zeigen, daß er mit der deutschen Sprache seine Probleme hat, fügte Beck - so die "Welt" - hinzu: "Es ist ehrenwert, wenn man mit 68 gebeten wird, seine Erfahrung einzubringen". Ehrend meinte er wahrscheinlich.

    Was Beck unbeholfen sagt, das artikuliert der Genosse Wolfgang Thierse mit der ihm eigenen Mischung aus Eloquenz und Bigotterie. Ebenfalls in der "Welt" zitiert:
    Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) warnte seine Partei davor, Müntefering "mit einer geradezu gigantischen Erlösererwartung zu überfordern". Es sei gut, wenn die SPD zeige, dass sie einen Kanzlerkandidaten und gutes anderes Führungspersonal habe, sagte Thierse den "Stuttgarter Nachrichten". Das sei besser, als einen einzigen Erlöser zu präsentieren, von dem dann alles abhänge und alles erwartet werde.
    Wenn ich das lese, dann wird mir Klaus Wowereits Rotzigkeit schon fast sympathisch. Noch einmal die "Süddeutsche Zeitung": "Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) wies im ZDF allerdings darauf hin, dass in der Parteispitze derzeit keine Position frei sei".



    Jeder sagt es auf seine Art. Der eine unbeholfen, der andere ölig, der dritte mit Berliner Ruppigkeit. Meinen tun sie alle dasselbe: Jetzt sind wir dran. Müntefering soll gefälligst auf dem Altenteil bleiben, wo er hingehört.



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    Zitate des Tages: "Die Seelen nehmen Form an, und die Leiber". Jähne, Hacks, Ypsilanti

    Denn zu verkaufen, besser, zu vermitteln hatte der erste Kosmonaut der DDR einiges. Zum Beispiel das Bild eines Berufsoffiziers der NVA, eines Elitepiloten und respektierten Mitgliedes der SED. (...) Und er war vielen Symbol für jenes Reich der Möglichkeiten, das Peter Hacks später so besang: "Wer reifen wollte, war befugt zu hoffen. Die Seelen nahmen Form an, und die Leiber. Dem Ärmsten stand die höchste Stelle offen. Was Männer durften, durften auch die Weiber." Danke Sigmund Jähn.

    Die kommunistische "Junge Welt" heute in einem Artikel über den DDR- Kosmonauten Sigmund Jähn, der vor dreißig Jahren mit "Sojus 31" zu einem Raumflug startete.



    Schließlich gab es jedoch vor allem ein Wort, in Peking selbst von den eifrigsten "Demokraten" gemieden: Das Wort "Freiheit", "individuelle Freiheit", auch unter Linken gelegentlich in Mode. Man ist geneigt, die undankbare Rolle des kleinen Jungen aus dem herrlichen Märchen von Hans Christian Andersen "Des Kaisers neue Kleider" leicht abgewandelt zu übernehmen: "Die Freiheit, von der ihr so unermüdlich verkündet, gibt es doch gar nicht!" (...)

    Nehmen wir das faszinierende Bild der schlanken Ruderboote auf dem Wasser ... Es wäre zutiefst peinlich, angesichts dieses Panoramas von persönlichen Freiheiten zu schwadronieren, denn allein die Legierung ist das Erfolgsrezept.


    Walter Ruge in derselben Ausgabe der "Jungen Welt".



    ... auch die Bundesspitze der Linken scheint sich mittlerweile für eine Koalition zu erwärmen. Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch sagte der Frankfurter Rundschau (Montagausgabe), sollte die hessische SPD-Chefin Andrea Ypsilanti Koalitionsverhandlungen anstreben, "werde ich mich dafür einsetzen, daß wir da nicht nein sagen".

    Die "Junge Welt" in derselben Ausgabe.



    Kommentar: Drei Artikel, zufällig in derselben Ausgabe derselben Zeitung. Wie der Zufall es will, ergänzen sie einander aufs Schönste:
  • Der nostalgische Rückblick auf die DDR mit dem (unfreiwillig entlarvenden) Zitat von Peter Hacks (einem Verehrer von Ulbricht und Stalin);

  • die zynische Ablehnung der Freiheit des Individuums mit Verweis auf den Sport durch den Altkommunisten Walter Ruge (Titel des Artikels: "Olympia retrospektiv: Gedanken zum Verhältnis von Freiheit und Sport");

  • und die nüchterne Meldung darüber, daß die Kommunisten in Wiesbaden am liebsten auf die Salamischeibe der Tolerierung verzichten und gleich die Koalition als das kräftigere Stück Wurst abschneiden würden.
  • Sie können immer ungehemmter die DDR verherrlichen und sich über die Freiheit lustig machen, weil sie immer sicherer darauf rechnen können, bald in der Bundesrepublik an der Macht beteiligt zu sein.



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    25. August 2008

    Kriegsschuld und Kriegsziele in Georgien: Alternative Erklärungsmuster

    Die Frage der Schuld am Krieg in Georgien ist weiter ungeklärt.

    Die russische Version, wonach Georgien in der Nacht zum 8. August überfallartig in Südossetien einmarschierte und die russische 58. Armee das militärische Wunder fertigbrachte, als Reaktion darauf bereits am Nachmittag des 8. August mit Bodentruppen vor Tschwinwali zu stehen, scheint immer noch weithin akzeptiert zu werden.

    An diesem offenbar schwer zu erschütternden Glauben hat bisher noch nicht einmal der Umstand gerüttelt, daß beim Beginn des Kriegs die georgische Armee folgendermaßen verteilt war:

    Die Erste Brigade stand im Irak. Die Vierte Brigade befand sich im Training, um im Austausch gegen die Erste Brigade in den Irak verlegt zu werden. Die Zweite Brigade und die Dritte Brigade lagen in Westgeorgien, näher an Abchasien als an Südossetien.

    Also nicht unbedingt der klassische Aufmarsch für einen Angriff auf Südossetien, bei dem angesichts des vorausgehenden russischen Manövers "Kaukasus 2008" in Nordossetien mit der Notwendigkeit gerechnet werden mußte, eine russische militärische Reaktion abzuwehren.

    Wie auch immer - diese Version wird fast allgemein geglaubt. Die Version der Georgier scheinen dagegen viele Journalisten gar nicht zu kennen. Diese nämlich:

    In der Nacht zum 8. August dringen russische Truppen durch den Roki- Tunnel nach Georgien ein. Präsident Saakaschwili telefoniert daraufhin u.a. mit Condoleezza Rice und dem Nato- Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, um sich bei ihnen Rat zu holen.

    Danach setzt er (gegen den Rat von zumindest Rice) georgische Truppen in Marsch, die den Russen den Weg abschneiden sollen und zu diesem Zweck (Sprengung einer strategisch wichtigen Brücke nördlich von Tschinwali) nach Tschinwali vorrücken. Beim Kampf um Tschwinwali beschießen beide Seiten die Stadt; die Zerstörungen gehen überwiegend auf das Konto der Russen.

    Mir erscheint diese Version erheblich schlüssiger als die russische, zumal sie durch zahlreiche weitere Indizien gestützt wird.

    Aber nun gut, bewiesen ist keine der beiden Versionen. Lassen wir einmal offen, wer diesen Krieg begonnen hat, und fragen wir uns nach den Kriegszielen. Die der Georgier liegen auf der Hand: Sie wollen wieder Herr im eigenen Land sein. Welches sind aber die Kriegsziele der Russen?

    Dazu sind am Wochenende zwei interessante Analysen zu lesen gewesen.



    Am Freitag erschien in der Washington Post die Kolumne von Charles Krauthammer "NATO meows", die NATO macht miau. Darin nennt er drei Kriegsziele der Russen:
    Russia's aims are clear: (1) sever South Ossetia and Abkhazia from Georgia for incorporation into Russia; (2) bring down Georgia's pro-Western government; and (3) intimidate Eastern European countries into reentering the Russian sphere of influence.

    Die Ziele Rußlands sind klar: (1) Südossetien und Abchasien von Georgien abtrennen, um sie Rußland einzuverleiben; (2) die prowestliche Regierung Georgiens stürzen; und (3) Länder Osteuropas durch Einschüchterung zurück in die russische Einflußsphäre holen.
    Das erste Ziel, meint Krauthammer, sei erreicht. Georgien werde seine Provinzen nicht wiederbekommen; sie würden schon bald von Rußland geschluckt werden. Das dritte Ziel sei vorläufig nicht erreicht, weil die Osteuropäer sich mit Georgien solidarisierten und sich enger an die USA anschlössen. Bleibe Ziel Nummer zwei, und um dieses werde es in den nächsten Wochen gehen.

    Rußland sei dabei, Georgien zu strangulieren. Gelinge das, dann würden, meint Krauthammer, auch die Länder Osteuropas sich überlegen, ob es für sie nicht besser sei, sich mit den Russen zu arrangieren. Dann hätten diese alle drei Ziele erreicht.

    Deshalb, argumentiert Krauthammer, ist es so wichtig, daß die Nato gegenüber Rußland endlich die Krallen zeigt. Aber nein, sie mache nur miau.



    Krauthammers Überlegungen vom Freitag werden ergänzt durch einen Artikel, der am Sonntag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erschienen ist. Der Autor, Gerd H. Köpper, ist emeritierter Professor für Journalistik und beleuchtet das Thema mit Blick auf die Medien.

    Diese, so meint er, seien zwar auf der Hut, nicht auf Kriegslügen hereinzufallen. Auf Kriegslügen der herkömmlichen Art allerdings, in Bezug auf das Vermitteln von "Abläufen, von Ereignissen, von verlautbarten Entscheidungen und sichtbaren Veränderungen bei den Kriegsparteien".

    In Georgien aber operierten die Russen auch auf anderen Ebenen:
    Es kommen zwei wirkungsvolle Ebenen hinzu: Strategien der Delegitimierung und Optionen eines Wirtschaftskrieges. (...)

    Das strategische Kernziel ist, die georgische Regierung zu deligitimieren. Westliche Beobachter stoßen auf deutliche Unmutsäußerungen in der Bevölkerung: Die fehlende Grundversorgung, die durch die Zerstörung der Verkehrssysteme durch russische Militäreinheiten, durch Blockaden der wichtigsten Transversalen im Lande und durch die Stilllegung des zentralen Umschlaghafens Poti erreicht wurde, ist der Grund dafür.
    Köpper interpretiert (siehe dazu auch meinen ersten Beitrag zum Georgien- Krieg vom 9. August) den Georgien- Krieg als einen postkolonialen Krieg. Wie in den postkolonialen Kriegen zum Beispiel in Afrika gehe es jetzt Rußland darum, eine bestehende Regierung zu delegitimieren, bis sie stürzt und durch eine genehme ersetzt werden kann.

    Die Medien aber würden das überwiegend nicht erkennen:
    Das Geschehen im Kaukasus ist ein postkolonialer Machtkampf. Damit stellen sich für die neutralen Berichterstatter neue Anforderungen. (...) Zu dieser neuen Art der Berichterstattung würde gehören, den Zusammenhang kenntlich zu machen zwischen einer gezielten Verunsicherung der Bevölkerung in den von Russland militärisch besetzten Landesteilen allein durch Straßenblockaden und Hindernisse im Alltagsleben -, und dem Stillstand der Fabriken und Handelszentren. Dieser systematische Zusammenhang ist Teil eines Wirtschaftskrieges, der ein augenfälliges Ziel verfolgt. Von diesem Krieg war wenig zu erfahren.


    Wieder einmal geht es um den Master Narrative, das allgemeine Schema zur Einordnung und zur Interpretation der Ereignisse.

    Das Schema, das die Russen lanciert haben und das jedenfalls in Deutschland bereitwillige Abnehmer findet, besagt, daß ein unberechenbarer Präsident Saakaschwili sich in ein militärisches Abenteuer gestürzt hat und dafür von den Russen bestraft wurde, die ihre Bürger geschützt und Schlimmeres verhütet haben und die jetzt als Friedensmacht weiter in Georgien für Ordnung sorgen.

    Das Master Narrative, das Autoren wie Krauthammer und Köpper vertreten und dem ich inzwischen (nachdem ich mir anfangs keine Entscheidung zugetraut hatte) ebenfalls zuneige, nimmt hingegen an:

    Nach zehn Jahren der Aufrüstung fühlt sich Putin jetzt stark genug, an die Wiederherstellung des russischen Imperiums zu gehen. Georgien bot sich als Testgelände dafür an, wie die Nato reagieren würde, weil Rußland dort in einer militärisch günstigen Position ist.

    Die Entscheidung fiel nach der Konferenz von Bukarest, auf der die Nato Georgien den Status "Membership Action Plan" verweigerte und die Entscheidung auf Dezember vertagte. Vor diesem Termin und vor allem vor den Wahlen im November, die möglicherweise McCain zum nächsten Präsidenten der USA machen würden, mußte Putin handeln, wenn er denn Georgien unter seine Kontrolle bringen wollte. Die Zeit der Olympischen Spiele bot sich an.



    Nachtrag: In "Zettels kleinem Zimmer" hat jetzt Robin die wichtigsten Quellen zum Ablauf der Ereignisse zusammengestellt. Zum Selbststudium sehr zu empfehlen.



    Mit Dank an Thomas Pauli. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    24. August 2008

    Peking 2008 (3): Zweimal neun Olympiaden. Zweimal ästhetischer Totalitarismus

    Neun Olympiaden lagen zwischen den beiden Olympischen Sommerspielen in Deutschland - Berlin 1936 und München 1972. Wieder neun Olympiaden, 36 Jahre also, liegen zwischen diesen und den Olympischen Spielen in Peking, die in diesen Minuten zu Ende gehen.

    1972 wollte man, was die Gestaltung der Spiele, was vor allem die Eröffnungs- und die Schlußfeier angeht, das Gegenteil des Bildes von 1936 vermitteln. Es sollten lockere, es sollten heitere Spiele sein. Locker waren sie; die Heiterkeit wurde durch das Attentat auf die israelische Mannschaft beendet.

    Als ich damals die Schlußfeier gesehen habe, bei der die Mannschaften nicht "einmarschierten", sondern in fröhlicher Unordnung, fast ein wenig anarchisch, ins Stadion strömten, da dachte ich, es sei vorbei mit dem Totalitarismus bei Olympischen Spielen.

    Nicht vorbei mit dem Totalitarismus überhaupt; der existierte ja damals noch in seiner kommunistischen Variante. Aber ich konnte mir damals nicht vorstellen, daß man die Spiele jemals wieder in ein totalitär regiertes Land vergeben würde.



    Man hat es getan, bereits 1980 mit Moskau und jetzt mit Peking. Und Peking 2008 - das war das perfekte Abbild der Spiele von Berlin 1936. Ich habe das im zweiten Beitrag dieser Serie, die kürzer wurde als geplant, zu beschreiben versucht.

    Das "perfekte" Abbild in dem Sinn, daß dieses "Aufmarschieren", diese Behandlung des Individuums als ein Stückchen der Rohmasse, aus welcher der Regisseur seine visuellen Effekte formt, in Peking 2008 ungleich perfekter gehandhabt wurde als in Berlin 1936.

    Die faschistische Ästhetik, die man den Filmen von Leni Riefenstahl vorgeworfen hat, war eine Orgie von libertärem Individualismus im Vergleich mit der Verherrlichung des Kollektivs, mit der völligen Unterordnung des Individuums unter die Choreografie, die sowohl in der Eröffnungs- als auch jetzt in der Schlußfeier vorgeführt wurde.

    In der Schlußfeier freilich nur zunächst. Nachdem am Anfang wieder die Körper der Soldaten (oder wer immer da seinen Körper zur Verfügung stellen mußte), dazu benutzt wurden, um allerlei optischen Schnickschnack vorzuführen, wechselte die Regie unversehens in die Sparte "Individualismus".

    Jedenfalls zum Teil. Den Fahnenträgern mutete man das Marschieren im Gleichschritt nicht zu; vielleicht hätten sich manche ja auch geweigert. Aber neben ihnen liefen Soldaten im Gleichschritt, deren gedrillte Bewegungen man nur durch ein verordnetes Dauerlächeln etwas zu humanisieren versucht hatte.

    Gegen Ende dann herrschte "bunte Fröhlichkeit". Die Kamera wechselte von der Totalen überwiegend zu Großaufnahmen. Einzelne sollten gezeigt werden.

    Szenen, die, würde man sie für sich genommen sehen, sympathisch sein könnten. Aber innerhalb dieses ganzen Größenwahns eines visualisierten Totalitarismus wirkt auch das - auf mich jedenfalls - wieder nur wie ein Teil der totalitären Inszenierung. Auch ein buntes Muster kann ja den Charakter der homogenen Textur haben.



    Und es war auch sozusagen optisch nicht das letzte Wort. Denn während ich dies schreibe, geht die Inszenierung ihrem Ende entgegen. Einem Ende wieder mit Pomp und Gloria. Wieder die Totale als Kameraeinstellung, die sozusagen adäquate Einstellung für den Totalitarismus.

    Es sei denn, der Führer spricht. Hier also der jeweilige kommunistische Funktionär. Dann sieht man ihn natürlich in Großaufnahme, mit den ihm begeistert applaudierenden Massen als Zwischenschnitt.

    Alles wie gehabt; alles wie 1936. Nur größer, schöner, bunter. Nur noch viel erdrückender.



    Einen Schlußabschnitt oder Nachspann zu diesem Artikel findet man diesmal im "Kleinen Zimmer". Wohin, wie immer, zum Kommentieren und Diskutieren eingeladen ist.



    Links zu allen Folgen dieser Serie sind hier zu finden.

    Zitat des Tages: "Warum sollte Moskau warten?" - In Georgien zieht Rußland seine Truppen "zurück, aber nicht ab"

    Gleichwohl geht man in Moskau davon aus, dass der Republikaner John McCain das Rennen macht. Dessen dezidiert antirussischer Kurs bringe eine weitere Verschärfung. Warum also sollte man bis nach den Wahlen in den USA warten?

    Dies alles sollte Anlass sein, die Dinge endlich so zu sehen, wie sie wirklich sind: Russland ist nach dem Ende der Sowjetunion und den chaotischen neunziger Jahren wiederauferstanden, als ein Land, das wirtschaftlich potent und militärisch handlungsfähig seine legitimen Interessen in den Grenzen des Völkerrechts entschieden wahrnimmt.


    Aus einer Analyse des Georgien- Kriegs in der gestrigen Ausgabe des Informationsdienstes "Rußland Aktuell".

    Der Autor des lesenswerten Beitrags ist Wolfgang Seiffert, Autor von "Wladimir Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?". Seiffert war in der DDR Professor für Internationales Wirtschafts- und Völkerrecht und Berater von Erich Honecker. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik arbeitete er bis 1994 als Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrte danach am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

    Kommentar: Der Autor weiß also, wovon er redet. Und er redet Tacheles. Auch darüber, daß es gar keinen Sechs- Punkte- Plan der EU gegeben habe, sondern daß dieser Plan von Medwedew formuliert worden sei. Mit der Gummi- Klausel, daß russische Truppen in Georgien "Sicherheitsmaßnahmen durchführen" dürfen.

    Dazu paßt ein Artikel vom Freitag ebenfalls in "Rußland Aktuell" mit dem treffenden Titel "Georgien: Russland zieht Truppen zurück – nicht ab". Auszug:
    Heute werden, so Russlands Militärführung, alle nach Georgien eingerückte Einheiten in "Sicherheitszonen" verlagert. Russische Soldaten werden aber weiterhin Georgiens Ost- West- Achse kontrollieren. (...)

    Entsprechend des Sechs- Punkte- Plans, der dem Waffenstillstand im Kaukasuskrieg zugrunde liegt, dürfen 'die russischen Friedenstruppen zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen durchführen, bis ein internationaler Mechanismus vereinbart ist'. (...)

    Im Prinzip ändert sich also nicht so viel durch den Rückzug: Russische Soldaten stehen weiterhin an strategisch wichtiger Stelle in Kern- Georgien (...)
    Damit bestätigt sich das, was der Rußland- Kenner Vladimir Socor schon Anfang der Woche geschrieben hat; siehe hier und den Artikel vom Califax ebenfalls vom vergangenen Mittwoch.

    Und wer es genau wissen will, wie die angeblich von der EU formulierten sechs Punkte tatsächlich zustandegekommen sind, der findet es von Vladimir Socor hier im Detail beschrieben:
    The Medvedev- Sarkozy document reveals glaring procedural flaws. Presented by Sarkozy to Saakashvili for signing, and bearing Sarkozy’s hand-written inserts, the French- language document was evidently typed by the Russians and handed to Sarkozy during his Moscow visit.

    The tell- tale signs are obvious. The document's preamble names Medvedev first and Sarkozy second, and misspells "Sarcozy." The body of the document contains several errors of French grammar and style. The Russians added, in French, the fatal points 5 and 6, which did not figure in French Minister of Foreign Affairs Bernard Kouchner’s four-point draft.

    Das Medwedew- Sarkozy- Dokument läßt eklatante Verfahrensmängel erkennen. Das in französischer Sprache abgefaßte Dokument, das von Sarkozy an Saakaschwili zur Unterschrift übergeben wurde und das Sarkozys handschriftliche Einfügungen trug, wurde offenkundig von den Russen getippt und während seines Besuchs in Moskau an Sarkozy ausgehändigt.

    Die verräterischen Anzeichen sind unübersehbar. Die Präambel des Dokuments nennt Medwedew an erster und Sarkozy an zweiter Stelle und schreibt diesen falsch "Sarcozy". Der Hauptteil des Dokument enthält mehrere Verstöße gegen die französische Grammatik und Stilistik. Die Russen hatten auf Französisch die verhängnisvollen Punkte 5 und 6 hinzugefügt, die in dem 4-Punkte- Entwurf des französischen Außenministers Kouchner nicht enthalten gewesen waren.
    Man muß Wladimir Putin schon Anerkennung zollen. Besser hätte ein Molotow oder ein Gromyko diese Operation auch nicht planen und durchführen können.



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    23. August 2008

    Kurioses, kurz kommentiert: "Und dann kam das Aus!"

    Die Meldungen klangen verheißungsvoll, das Abkommen um den US-Truppenabzug aus dem Irak schien kurz vor dem Abschluss - dann kam das Aus: zu viele unterschiedliche Interessen.

    Aus dem Vorspann eines Artikels von Ulrike Putz, der seit gestern Abend, 23:26 Uhr, in "Spiegel- Online" zu lesen ist.

    Kommentar: "Spiegel- Online" ist das vermutlich einzige Medium der Welt, das das Aus für diese Verhandlungen meldet.

    Über ihr vorläufiges Ergebnis habe ich gestern hier berichtet.

    Und da Sie, lieber Leser, möglicherweise immer noch dazu neigen, "Spiegel Online" im Zweifel eher zu trauen als "Zettels Raum", hier eine Passage aus dem aktuelle Bericht der BBC, datiert Freitag, 22. August 18.37 britische Zeit. Die BBC zitiert den irakischen Unterhändler Hammud:
    " ... The negotiators' job is done. Now it is up to the leaders."

    A White House spokesman has however said details of the draft agreement were still being discussed. Gordon Johndroe said US President George W Bush had spoken with Iraqi Prime Minister Nouri Maliki about the deal. They "had a good conversation", Mr Johndroe said, adding that "there are a lot of details that have to be worked out".

    "... Die Unterhändler haben ihren Job getan. Jetzt sind die Führer am Zug".

    Ein Sprecher des Weißen Hauses sagte jedoch, daß Details des Entwurfs einer Vereinbarung noch erörtert würden. Gordon Johndroe sagte, daß Präsident George W. Bush mit dem irakischen Premierminister Nuri Malik gesprochen habe. Sie "hatten eine gute Besprechung", sagte Johndroe und fügte hinzu, daß "zahlreiche Details noch ausgearbeitet werden müssen."
    Mit anderen Worten, das Aus für die Verhandlungen. Wenn wir "Spiegel- Online" glauben.



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    Der 44. Präsident der USA (11): Wer wird Obamas Vize-Kandidat? And the winner iiiiiiss ....

    ... nicht Hillary, das war schon lang klar. Das Obama- Team hat sich nicht mal die Mühe gemacht, sie auf mögliche Schwachstellen zu durchleuchten.

    Nicht der Senator aus Indiana Evan Bayh. Er hätte für Obama attraktiv sein können, weil Indiana einer der umkämpften Staaten (Swing States) ist, deren Wahlmänner- Stimmen Obama dringend braucht.

    Außerdem hat Bayh den Irakkrieg unterstützt. Je besser sich die Dinge im Irak entwickeln, umso weniger kann Obama mit seiner strikten Ablehnung des Kriegs punkten. Mit Bayh an seiner Seite hätte er jetzt voll auf eine realistische Irak- Politik umschwenken können.

    Hätte können. Denn Bayh hat inzwischen, so sickerte durch, mitgeteilt bekommen, daß er nicht der Gewinner ist.

    Wie auch Tim Kaine, der fromme Katholik und sozial Engagierte, der gar schon als Missionar in Honduras gewesen ist. Er wäre, Spanisch sprechend, für die Hispanics unter den Wählern attraktiv gewesen, und wegen seines sozialen Engagements für die Unterschicht- Wähler. Aber die wählen in ihrer großen Mehrheit ja ohnehin Obama



    Wer bleibt also im Rennen?

    Zum einen eine Frau: Kathleen Sebelius, die Gouverneurin von Kansas.

    Sie hat Obama schon im Vorwahlkampf unterstützt. Sie wurde einmal von Time Magazine zu einem der besten fünf Gouverneure aller US-Staaten gewählt; u.a. weil sie die Schulden verringert, Ausgaben gekürzt und zugleich die Bildung verbessert hätte. (Das liberalkonservative Cato Institute sah das anders; es gab ihr die schlechteste Note, weil unter ihr die Ausgaben schnell gestiegen seien).

    Sebelius war selbst schon einmal als Kandidatin für die Präsidentschaft und dann als Vize- Kandidatin von John Kerry im Gespräch. Sie gilt als ausgleichend und effizient. Politisch steht sie nach amerikanischen Maßstäben links - sie ist gegen ein Verbot der Abtreibung, gegen die Todesstrafe und sie gilt als Umwelt- Aktivistin.

    Wie Kaine brächte auch sie also dem Kandidaten Wählerstimmen nur dort, wo er sie schon hat - bei Frauen, Linken, Jungen. Das macht es eher unwahrscheinlich, daß sie die Glückliche ist.

    Wie auch ein gewisser Chet Edwards, ein bisher national nicht hervorgetretener Abgeordneter aus Texas, der gestern unversehens als Geheimtip durch die Medien geisterte und der in CNN mit breitem Grinsen bestätigte, daß er im Rennen sei. Schon deswegen ist er es vermutlich nicht mehr.

    Sein Vorzug, meinte Candy Crowley gestern Abend in CNN, hätte für Obama im Grunde nur sein können, daß er sich für die Interessen der US- Kriegsveteranen stark gemacht hat. Also eine Wählergruppe, die bisher in ihrer großen Mehrheit McCain zuneigte. Aber das allein wäre doch ein wenig dürftig, um ihn zum Running Mate zu machen. Er wird es wohl ebenfalls nicht werden.



    Gestern Abend unserer Zeit, also am amerikanischen Nachmittag, hat Obamas Team wieder einmal die Medien zum Narren gehalten. Wer sich dafür interessiert, der kann hier und hier nachlesen, wie Obamas Team stundenlang die Erwartung der Medien hochhielt, gleich käme die Entscheidung. Und dann nichts lieferte.

    Das Kalkül liegt auf der Hand: Die TV-Ketten hatten Sendezeit für Obamas Vize bereitgestellt und füllten sie, da dazu nichts kam, notgedrungen mit anderen Berichten über Obama (CNN gar über einen Halbbruder Baracks, der in einem Slum in Kenia wohnt), über die Demokratische Partei, über mögliche Vize- Kandidaten. Kostenlose Publicity also für Obama.

    Und als man damit etliche Stunden überbrückt hatte, teilte das Team von Obama mit, die heiße Nachricht werde erst am Samstag früh, amerikanische Zeit, kommen. Also gegen morgen Mittag unserer Zeit.

    Sie wird, diese Nachricht, nicht etwa von Obama in einem seiner meisterlichen Auftritte mitgeteilt werden, sondern - per SMS!

    Warum? Candy Crowley, bestens bewandert in amerikanischer Innenpolitik, hat es erklärt: Weil jeder, der diese SMS haben will, sich logischerweise mit seiner Handy- Nummer anmelden mußte.

    So daß das Obama- Team jetzt viele, viele Handy- Nummern von Menschen hat, die sich mindestens für Politik interessieren; von denen viele aber vermutlich sogar mit Obama sympathisieren. Die man also mit Werbung versorgen, zur Mitarbeit im Wahlkampf einladen, von denen man Spenden erbitten kann.



    Ja, und wessen Name wird auf dieser SMS stehen, wenn sie heute Mittag, unserer Zeit, in die Lande geht? Vermutlich der von Joseph Robinette ("Joe") Biden.

    Biden ist ein langgedienter (sechs Legislaturperioden) Senator aus Delaware, gegenwärtig Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Senats. Ein Mann also, der das Gegenteil von Obama ist - erfahren, in Washington bestens vernetzt. Als ich im Dezember überlegt habe, wen ich als US-Bürger wählen würde, war er unter den demokratischen Bewerbern mein Kandidat.

    Er ist einer, der sich klar und einfach äußert, der gut beim Arbeiter- Flügel der Demokraten ankommt. Also bei denen, die im Vorwahlkampf für Clinton gewesen waren, den Blue Collar Workers.

    Und vor allem ist Biden ein Experte für Außenpolitik. Das könnte wichtig werden in den kommenden Monaten, wenn es möglicherweise zu einer Konfrontation der USA mit Putin kommt; vielleicht auch zu einem israelischen Militärschlag gegen den Iran.

    Und das mitten in einem Wahlkampf, in dem McCain dann als der seit Jahrzehnten erfahrene Außenpolitiker dastehen würde, und Obama als das Greenhorn, das sich höchstens für einen Show- Auftritt vor den dankbaren Börlinern eignet.

    Biden ist also dort stark, wo Obama schwach ist. Das dürfte den Ausschlag gegeben haben.

    Allerdings wird Obama mit Biden als Running Mate nicht mehr sehr überzeugend die Botschaft vermitteln können, er trete "gegen Washington" und für einen radikalen Wandel der amerikanischen Politik ein.

    Denn just dieses Washington, diese traditionelle Politik verkörpert ja dann sein eigener Mitstreiter.



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    22. August 2008

    Marginalie: Ziehen die US-Truppen aus dem Irak ab?

    Vermutlich wird es in den nächsten Stunden Schlagzeilen geben à la "USA stimmen Zeitplan für Truppenabzug aus dem Irak zu".

    Das ist nicht der Fall. Eben hat CNN den stellvertretenden Außenminister des Irak, al-Hadsch Hamud, dazu interviewt, und die Korrespondentin Arwa Damon hat aus Bagdad weitere Informationen geliefert. Danach stellt sich die Sache so dar:

    Um den Vertrag durchs irakische Parlament zu bringen, müssen radikale Fraktionen ruhiggestellt werden ("to appease" war das Wort, das Arwa Damon benutzte). Diesem Zweck dient es, daß bestimmte Termine in den Vertrag eingebaut werden. Diese werden jedoch durch Vorsichtsmaßnahmen ("caveats") relativiert.

    Bis Juni 2009 sollen die Truppen der USA nach dem Abkommen nicht etwa aus dem Irak abziehen, sondern sich aus den großen Städten in ihre Camps zurückziehen. Auf Anforderung der Iraker können sie aber jederzeit wieder in den Städten eingesetzt werden.

    In ihren Camps im Irak verbleiben sie zunächst bis zum Ende der Laufzeit des Abkommens (offenbar 2011). Daß sie dann abziehen, wird nicht festgelegt, aber auch nicht explizit ausgeschlossen.

    Die irakischen Befürworter eines Abzugs werden somit sagen können: Da das Abkommen bis 2011 terminiert ist, müssen die Amis dann abziehen. Und die Befürworter können sich dazu denken: Wie es dann weitergeht, kann das Abkommen gar nicht festlegen, weil es eben nur bis 2011 gilt. Ein typischer Formelkompromiß also.

    Es soll ein gemeinsames Komitee ("Joint Committee") eingerichtet werden, das die Einzelheiten regelt. Über dieses Komitee können die Iraker beispielsweise US-Truppen zum Einsatz in den Städten anfordern, wenn ihnen das erforderlich erscheint. Während der gesamten Laufzeit des Abkommens.



    Soweit diese ersten Informationen. Wie es genau sein wird, wird man erst wissen, wenn das Abkommen durch die Parlamente gegangen ist.

    Man darf gespannt sein, wie "Spiegel- Online" und ähnliche Medien berichten.



    Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    Zitat des Tages: "Eckig und kantig"? - Abgezockt! Wie die "Rote Hilfe" in Wiesbaden den Roten hilft

    Wir sind eckig und kantig bei solchen Fragestellungen, das muss auch die SPD zur Kenntnis nehmen.

    Dr. Ulrich Wilken, "freiberuflicher Arbeitswissenschaftler", Hessischer Landesvorsitzender von "Die Linke" und in deren Landtagsfraktion "rechtspolitischer Sprecher", laut gestriger FAZ.

    Kommentar: Um welche "Fragestellungen" geht es? Im Wiesbadener Landtag, so erfährt man aus der FAZ, finden gegenwärtig die Beratungen zu einem Gesetzentwurf der FDP statt. Dessen Inhalt ist eine Änderung des Hessischen Polizeigesetzes. Und zu diesem Änderungsentwurf hat die Fraktion von "Die Linke" ein Gutachten beigesteuert.

    Sie bat freilich nicht Wissenschaftler oder Praktiker der Polizei, den Gesetzesentwurf zu begutachten. Sondern sie beauftragte die "Rote Hilfe" mit dem Gutachen.

    Wer ist diese "Rote Hilfe"? Eine Organisation, die vor einem dreiviertel Jahr ins Scheinwerferlicht geriet, als sich herausstellte, daß die Vorsitzende der Jusos, Franziska Drohsel, dort Mitglied war. Damals habe ich mich ein wenig mit ihr befaßt und aus ihrer Selbstdarstellung zitiert:
    Die Rote Hilfe ist eine Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt. (...) Zu politischen Gefangenen halten wir persönlichen Kontakt und treten dafür ein, daß die Haftbedingungen verbessert, insbesondere Isolationshaft aufgehoben wird; wir fordern ihre Freilassung. (...) Ist es der wichtigste Zweck der staatlichen Verfolgung, (...) durch exemplarische Strafen Abschreckung zu bewirken, so stellt die Rote Hilfe dem das Prinzip der Solidarität entgegen und ermutigt damit zum Weiterkämpfen.
    Wen ermuntert sie zum Weiterkämpfen, diese "Rote Hilfe"? Alle "politisch Verfolgte[n] aus dem linken Spektrum"? Nein.

    Auf die Frage, wen sie denn im Gefängnis unterstütze, sagte das Mitglied des Bundesvorstands der "Roten Hilfe" Michael Csaszkoczy: "Wichtig ist, daß die Leute nicht mit Polizei oder Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten und etwa durch ihre Aussagen andere belasten".

    Wie man sieht - diese "Rote Hilfe" verfügt über die Kompetenz, bei der Neufassung des Hessischen Polizeigesetzes mitzuwirken. Oder sagen wir, sie bringt ihre ganz eigene Kompetenz ein.



    "Eckig und kantig" ist die Fraktion von "Die Linke" im Wiesbadener Landtag laut deren Sprecher Wilken, wenn sie zu Gutachtern über das Polizeigesetz just die Helfer von solchen Gesetzesbrechern bestellt, die eine Zusammenarbeit mit der Polizei ablehnen.

    Eckig und kantig würde ich das eigentlich nicht nennen. Ich würde sagen, es ist im Gegenteil ganz schön abgezockt.



    Mit Dank an Pelle. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    21. August 2008

    Der 44. Präsident der USA (10): Obama eiert. Wackelt Obama?

    Es wird spannend im Wahlkampf. Zum einen, weil die Conventions näher rücken, die Wahl- Parteitage. Derjenige der Demokraten beginnt am Montag in Denver. In der ersten Septemberwoche treffen sich dann die Republikaner in Minneapolis- Saint Paul.

    Manchmal gibt es Conventions, auf denen wirklich noch um den Kandidaten für das Amt des Präsidenten gerungen wird. In diesem Jahr ist das, wie oft in letzter Zeit, bereits durch die Primaries entschieden. Trotzdem lohnt es, sich die Übertragung der Conventions (in Europa zum Beispiel bei CNN) anzusehen.

    Zum einen, weil das große Inszenierungen sind. Mit vielen Emotionen, mit sehr viel Remmidemmi, mit Pathos und Peinlichkeiten. Schon Alexis de Tocqueville hat das in seinem Buch über die Demokratie in Amerika ("De la démocratie en Amérique"; zwei Bände 1835 und 1840) halb bewundernd, halb belustigt beschrieben.

    Zweitens sind die Conventions auch große Wahlkampf- Veranstaltungen. Man erfährt, wenn man sie verfolgt, viel über den Zustand der beiden Parteien. Wie der Kandidat, wie sein Vize auftreten, wie das Ganze gelungen oder weniger gelungen ist - das kann den anschließenden Wahlkampf wenn auch sicherlich nicht entscheiden, so doch ihm einen Schub oder einen Dämpfer geben, je nachdem.



    Und das könnte in diesem Jahr wichtig sein, weil die beiden Kandidaten jetzt, unmittelbar vor den beiden Conventions, Kopf an Kopf liegen.

    Das war nicht unbedingt so zu erwarten gewesen.

    Denn seit nach McCain auch Obama als Kandidat feststand, hatte es in den Umfragen so ausgesehen, als liege er zwar nicht weit, aber doch stabil vor McCain. Typische Umfragewerte waren ungefähr 46 oder 47 Prozent für Obama, 43 oder 44 Prozent für McCain.

    Das ist nicht viel an Differenz; aber wenn es Woche für Woche so gemessen wird, wenn die meisten Institute ähnliche Werte ermitteln, dann ist es doch aussagekräftig. Die aggregierten Werte aller großer Institute (Poll of Polls) kann man sich zum Beispiel bei Pollster ansehen.

    Man erkennt in dieser Abbildung, wie sich im Frühsommer die Schere zu öffnen begann und wie es dann diesen nicht großen, aber stabilen Abstand zugunsten von Obama gab.

    Man sieht aber auch, wie in den letzten beiden Wochen sich der Trend umgekehrt hat. Bei Obama setzt sich eine schon etwas früher zu beobachtende Abwärtsbewegung fort; McCain zeigt jetzt eine Veränderung nach oben. Im Gallup Poll Daily Tracking, einer täglichen Befragung, ist der Vorsprung Obamas auf ein, zwei Punkte geschrumpft. Eines der großen Institute, Zogby für Reuters, sieht in seiner letzten, gestern publizierten Befragung McCain sogar mit 46 zu 41 Prozent vorn.

    Das ist bisher ein isoliertes Datum; die anderen Institute geben immer noch Obama einen minimalen Vorsprung oder sehen beide gleichauf. Aber so ist das eben, wenn die wahren Werte zusammenrücken - der Stichprobenfehler bringt es mit sich, daß dann Differenzen mal in die eine, mal in die andere Richtung gemessen werden.



    Was sind die Ursachen? Es gibt natürlich in den US-Medien viele Vermutungen. Es gibt aber auch Umfragen, die Rückschlüsse erlauben.

    Eine der ersten Umfragen, die eine Trendwende andeutete, stammte von Rasmussen und wurde damals, am 6. August, als die Differenz zugunsten von Obama noch stabil zu sein schien, viel kritisiert. Man warf Rasmussen sogar Parteilichkeit zugunsten von McCain vor.

    Denn Rasmussen fand, daß McCain auf den meisten Politikfeldern als kompetenter beurteilt wurde als Obama. Und fast durchweg waren seine Werte gestiegen.

    Als kompetenter wurde McCain von der Mehrheit der Befragten zum Beispiel bei den Themen Irak, Einwanderung, Staatsausgaben, Steuern, Soziale Sicherheit, Nationale Sicherheit und Energie gesehen; also bei fast allen den Themen, die den Wählern besonders wichtig sind. Obama punktete bei eher weichen Themen wie Schulwesen, Umwelt und Regierungsethik.

    Bei der Wahlentscheidung wurde das damals offensichtlich noch durch Obamas Charisma, seine Heilsversprechen, seine Attraktivität bei den Frauen, den Jungen, den Nichtweißen überlagert. Aber dieser Appeal scheint zu bröckeln. Und interessanterweise begann das just mit jenem Ereignis, das aus deutscher Sicht besonders triumphal für ihn zu sein schien: Seine Reise in den Orient und nach Europa; insonderheit sein Auftritt à la Kennedy in Berlin.

    Als Obama wieder zu Hause war, begann das McCain- Team diese Reise mieszumachen, indem man Obama als einen Showstar à la Britney Spears und Paris Hilton darstellte.

    Das saß. Man legte den Finger in Obamas Wunde: Er kann zwar blendend die Massen mitreißen, ja sie in Verzückung versetzen. Aber viele fragen sich: Ist das eigentlich das, was der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika können sollte? Qualifiziert ihn das dazu, Krisen durchzustehen und die mächtigste Streitmacht der Welt als Oberbefehlshaber zu führen?



    Diese Zweifel nun wurden in den letzten Tagen vermutlich durch den Krieg in Georgien verstärkt. Er spielt zwar in den USA längst nicht dieselbe große Rolle wie bei uns, die wir dem Ort des Geschehens erheblich näher sind. Aber die Möglichkeit eines neuen Kalten Kriegs dürfte doch viele Amerikaner zu der Überlegung veranlaßt haben, ob McCain oder Barack Obama wohl der erfolgreichere Gegenspieler Wladimir Putins wäre.

    Und dann war da noch das Saddleback Forum. Jene Veranstaltung, auf deren Auswirkungen auf den Wahlkampf Carla Marinucci gestern im San Francisco Chronicle ausführlich einging.

    Jene Veranstaltung also, die von einem evangelikalen Pfarrer, Rick Warren, vergangenen Samstag in San Diego organisiert worden war und auf der die beiden Kandidaten frommen Zuhörern Rede und Antwort standen.

    Carla Marinucci zitiert George Lakoff, einen höchst angesehenen Psycholinguisten, der den Demokraten nahesteht: McCain habe überzeugend gewirkt, weil er klare Auskünfte gegeben hätte. Obama hingegen sei "overconfident ... and certainly not prepared" gewesen, den Hörern ihre Fragen zur Zufriedenheit zu beantworten - zu selbstsicher und schlecht vorbereitet.

    Auf die Frage, warum er Präsident werden wolle, sagte McCain zum Beispiel schlicht, weil er seinem Land dienen wolle. Obama hub zu einer langen und verwickelten Antwort an, in der es um Empathie ging und das Bauen von Brücken.

    Und als das Thema Abtreibung zur Sprache kam, ein für die Evangelikalen besonders wichtiges Thema, leistete sich Obama eine unglaubliche Flapsigkeit. Auf die Frage, ab wann der Fötus den Schutz der Menschenrechte genieße, sagte er: "That's above my pay grade" - frei übersetzt: Das soll einer beantworten, der mehr verdient als ich. Oder auch: So schlau bin ich nicht, das zu beantworten.

    Bei anderen Fragen ging Obama in die Tiefe und Breite, wo McCain seine Ansicht kurz und klar sagte. Ein Stratege der Republikaner, Patrick Dorinson, kommentierte das: "Obama felt he was sitting with Dr. Phil, and he was trying not to offend anybody"; Obama meinte, er säße bei Dr. Phil, und er wollte niemandem zu nahe treten.

    Man kann es auch kürzer sagen: Er eierte herum.



    Kurz, die Amerikaner hatten einen schönen Flirt mit Obama, diesem attraktiven, charismatischen Mann mit seinen Starqualitäten. Aber allmählich haben sie sich an ihm sattgesehen und sattgehört. ("Overexposure" nennen das die Soziologen - man hat irgendwann genug von dem, mit dem man ständig konfrontiert wird).

    Jetzt reiben sie sich die Augen, die Amerikaner und fragen: Ist dieser nette, sympathische junge Mann, dieser Obama, der die Welt heilen und den Anstieg der Meere bremsen will, wirklich der Richtige, um dafür zu sorgen, daß die Steuern nicht steigen, daß wir Jobs bekommen oder bewahren, daß uns Leute wie Putin nicht den Schneid abkaufen?

    Natürlich ist das plakativ gesagt. Natürlich wird es auch im November viele, sehr viele geben, die Obama für den besseren Präsidenten halten. Aber entschieden wird die Wahl durch die wenigen, die nicht festgelegt sind. Von diesen scheinen sich immer mehr von Obama abzuwenden und die Qualitäten von John McCain zu entdecken.



    Ach so, heute oder in den kommenden Tagen wird Obama seinen Running Mate vorstellen; seinen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten.

    Lange Zeit war wohl offen, ob es einer werden würde, der die Botschaft des Wandels, des Change, noch unterstreicht, oder ob Obama jemanden nehmen würde, der anders als er selbst Erfahrung und Kompetenz verköpert. Es dürfte wohl das Letzere werden, also vielleicht der Senator Biden oder ein anderer alter Fahrensmann.

    Jedenfalls ist Obama als Reaktion auf die momentane Situation offenbar dabei, einmal mehr eine Volte zu schlagen. Wie gestern Katharine Q. Seelye in der New York Times schrieb:
    Instead of focusing on the promise of sweeping change that propelled him to the nomination, Mr. Obama this week has been echoing Bill Clinton’s 1992 promise to "fight for you every single day." The tightened message is part of a continuing effort since the primaries to bring his oratory down to a more human scale.

    Statt das Versprechen eines allumfassenden Wandels in den Mittelpunkt zu stellen, das ihn zur Nominierung trug, gibt es bei Obama in dieser Woche Anklänge an Bill Clintons Versprechen von 1992, "jeden einzelnen Tag für euch zu kämpfen". Diese gestraffte Botschaft gehört zu dem seit den Vorwahlen anhaltenden Versuch, seinen Redestil auf eine menschlichere Größenordnung herunterzuschrauben.
    Schön gesagt. Der Heiland steigt herab zu den Mühseligen und Beladenen.



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