31. Juli 2010

Zitat des Tages: Der Eid, den man bei der Einbürgerung in die USA ablegen muß

I hereby declare, on oath, that I absolutely and entirely renounce and abjure all allegiance and fidelity to any foreign prince, potentate, state, or sovereignty of whom or which I have heretofore been a subject or citizen;

that I will support and defend the Constitution and laws of the United States of America against all enemies, foreign and domestic;

that I will bear true faith and allegiance to the same;

that I will bear arms on behalf of the United States when required by the law;

that I will perform noncombatant service in the Armed Forces of the United States when required by the law;

that I will perform work of national importance under civilian direction when required by the law;

and that I take this obligation freely without any mental reservation or purpose of evasion; so help me God.


(Ich erkläre hiermit und beeide es, daß ich absolut und vollständig jede Loyalität und Treuepflicht gegenüber jedem ausländischen Herrscher, Potentaten, Staat oder einer ausländischen Herrschaft aufkündige und aufgebe, deren Untertan oder Bürger ich bisher gewesen bin;

daß ich für die Verfassung und die Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika aktiv eintreten und sie gegen alle Feinde im In- und Ausland verteidigen werde;

daß ich ihnen wahrhaftige Treue und Loyalität entgegenbringen werde;

daß ich für die Vereinigten Staaten Waffen tragen werde, wenn dies vom Gesetz verlangt wird;

daß ich unbewaffneten Dienst in den Streitkräften der Vereinigten Staaten leisten werde, wenn dies vom Gesetz verlangt wird;

daß ich Dienst von nationaler Wichtigkeit unter ziviler Verwaltung verrichten werde, wenn dies vom Gesetz verlangt wird;

und daß ich diese Verpflichtung frei und ohne jeden Vorbehalt oder eine beabsichtigte Ausflucht eingehe; so wahr mir Gott helfe.)

Wortlaut des Eides, den amerikanische Neubürger bei der Einbürgerung leisten müssen, nachzulesen in einem bedenkenswerten Artikel von George Friedman zur Frage von Einbürgerung und Nationalität.


Kommentar: Wir haben uns in Deutschland angewöhnt, von Menschen, die durch Einbürgerung Deutsche wurden, nicht als Deutschen zu sprechen. Wir sagen, sie "haben einen deutschen Paß", sie "haben die deutsche Staatsbürgerschaft erworben" und dergleichen. Wir nennen selten schlicht das beim Namen, was der Fall ist: Sie sind jetzt Deutsche.

In dem klassischen Einwanderungsland USA ist das anders. Wer das citizenship erwirbt, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, der gilt fortan als Amerikaner. Er ist dann ebenso ein Amerikaner wie sein Nachbar, der seinen Stammbaum vielleicht bis zu den Pilgervätern zurückverfolgen kann. Es gibt keine Amerikaner erster und zweiter Klasse, je nach dem Zeitpunkt der Einwanderung.

Aber es gibt eben auch keinen Unterschied in den Pflichten. Wer Amerikaner wird, der beeidet, daß seine Loyalität künftig den Vereinigten Staaten von Nordamerika gehört, und nur dieser Nation.

George Friedman weist darauf hin, daß dieses Prinzip in den USA inzwischen dadurch aufgeweicht wird, daß doppelte Staatsbürgerschaft aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichts erlaubt ist. Friedman - selbst im Alter von 17 Jahren eingebürgert - sieht das als höchst problematisch an:
The rise of multiple citizenship undoubtedly provides freedom. But as is frequently the case, the freedom raises the question of what an individual is committed to beyond himself. In blurring the lines between nations, it does not seem that it has reduced conflict. Quite the contrary, it raises the question of where the true loyalties of citizens lie, something unhealthy for the citizen and the nation-state.

In the United States, it is difficult to reconcile the oath of citizenship with the Supreme Court’s ruling affirming the right of dual citizenship. That ambiguity over time could give rise to serious problems. This is not just an American problem, although it might be more intense and noticeable here. It is a more general question, namely, what does it mean to be a citizen?

Die Zunahme von Mehrfach-Staatsbürgerschaften schafft zweifellos Freiheit. Aber wie so oft wirft die Freiheit die Frage auf, worauf ein Individuum über die eigene Person hinaus verpflichtet ist. Die Mehrfach-Staatsbürgerschaft verwischt die Grenzen zwischen Nationen, aber es sieht nicht so aus, als würde das Konflikte verringern. Ganz im Gegenteil wirft dies die Frage auf, wo denn die wahren Loyalitäten von Bürgern liegen; etwas, das nicht gesund für den Bürger ist, und auch nicht für die Nation, den Staat.

In den Vereinigten Staaten läßt sich der Einbürgerungseid nur schwer mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichts vereinbaren, welche das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft beinhaltet. Diese Unklarheit könnte im Lauf der Zeit zu erheblichen Problemen führen. Dies ist nicht nur ein amerikanisches Problem, obwohl es hier intensiver und sichtbarer ist. Es ist eine allgemeinere Frage, nämlich: Was bedeutet es, ein Bürger zu sein?
In der Tat: Nicht nur ein amerikanisches Problem. Es wird Zeit, daß dieses Problem der Loyalität der Bürger zu ihrem Staat - und gerade der Neubürger zu dem Staat, für den sie sich als dem ihrigen entschieden haben - auch in Deutschland diskutiert wird. Intensiv und in aller Breite.



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30. Juli 2010

Marginalie: Sündenbock Sauerland

In "Zeit-Online" gibt es derzeit zwei Aufmacher. Der eine trägt die Überschrift "Bürgermeister Sauerland ohne Rückhalt"; der andere ist betitelt "Ein Rathaus ruiniert seinen Ruf". Gemeint ist das Duisburger Rathaus.

In der Liste der meistgelesenen Beiträge stehen diese beiden Artikel derzeit an der zweiten und dritten Stelle; hinter einem Beitrag über die Haftentlassung von Jörg Kachelmann.

In einem dritten Artikel zum selben Thema ("Wir haben die Schnauze voll") heißt es in "Zeit-Online":
Fünf Tage nach der Katastrophe von Duisburg haben sich an diesem Morgen über 300 Menschen vor dem Sitz des Oberbürgermeisters versammelt, um ihre Wut loszuwerden. (...) Antworten und Rücktritte – das ist es, weswegen sie alle heute gekommen sind. "Blut klebt an euren Händen", steht auf einem Plakat. Einer trägt gar einen Galgen vor sich her, an dem eine Stoffpuppe mit dem aufgeklebten Gesicht des Oberbürgermeisters baumelt.
Was ist da los?

Bisher ist über die Ursachen des Unglücks von Duisburg nur bekannt, daß eine Reihe von Faktoren zusammenwirkten; wie es bei solchen Ereignissen die Regel ist. Ich habe sie am Mittwoch genannt (Ein bisher übersehener Faktor bei dem Unglück während der Love Parade; ZR vom 28. 7. 2010):
  • Die Unfähigkeit des Veranstalters Schaller, dessen Organisation versagte.

  • Die Genehmigung einer Veranstaltung durch die Stadt Duisburg, die so nicht hätte genehmigt werden dürfen.

  • Das kriminelle Verhalten von Teilnehmern, die eine Sperre der Polizei gewaltsam durchbrachen, wodurch zwei Besucherströme aufeinandertreffen konnten.
  • Von diesen drei Faktoren wird in der bisherigen öffentlichen Diskussion der dritte völlig ausgeklammert. Schaller wird zwar kritisiert, aber seltsam emotionslos. Die Emotionen richten sich ganz überwiegend gegen die Stadt Duisburg, und dort wiederum fast ausschließlich gegen Oberbürgermeister Sauerland.

    Bisher ist nur unvollständig bekannt, welche Rolle Sauerland in dem Genehmigungsverfahren gespielt hat.

    Es ist unwahrscheinlich, daß er die Gefahrenlage auf dem Gelände persönlich analysiert hat; dazu sind die zuständigen Mitarbeiter des betreffenden Amts da. Das war in diesem Fall das Baudezernat des SPD-Politikers Jürgen Dressler, der laut Auskunft der Stadt Duisburg das Sicherheitskonzept abgezeichnet hat, nachdem er zuvor Einwände erhoben gehabt hatte.

    Sauerland wollte die Veranstaltung in Duisburg haben; aber das wollten auch andere, beispielsweise Fritz Pleitgen, der Geschäftsführer von RUHR.2010 ("Hier müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um dieses Fest der Szenekultur mit seiner internationalen Strahlkraft auf die Beine zu stellen"; so Pleitgen im Februar 2010).

    Ob Sauerland über seine politische Verantwortung als Stadtoberhaupt hinaus eine persönliche Schuld trifft, ob diese gar größer ist als die von Schaller, als diejenige der Verantwortlichen des zuständigen Bauderzernats (ganz zu schweigen von der Schuld der Kriminellen, die gewaltsam die Polizeisperre durchbrochen haben) - das weiß derzeit niemand.

    Aber Adolf Sauerland wird zum Sündenbock gemacht. Sagen wir es genauer: Adolf Sauerland (CDU) wird zum Sündenbock gemacht.



    Der erste Leserkommentar zu dem Artikel in "Zeit-Online", dem ich das Zitat entnommen habe, lautet so:
    So richtig dies auch ist, es ist bedauerlich, dass es erst Toter bedarf, damit Deutsche ihrer Unzufriedenheit gegenüber dem Staat Ausdruck verleihen.

    "Die Demonstration wird auch zur Bühne derjenigen, die einmal ihre generelle Abscheu vor der Politik, vor dem System, loswerden wollen."

    Leider wird dies bald wieder in Vergessenheit geraten und die Lethargie wird wieder die Oberhand gewinnen und es geht weiter wie bisher.
    Da haben wir es, sehr treffend zusammengefaßt. Sauerland wird zum Sündenbock gemacht, nicht weil erwiesen oder auch nur wahrscheinlich wäre, daß er der Hauptschuldige ist. Sondern er wird als der personifizierte Staat gesehen.

    Er wird - ein CDU-Oberbürgermeister im traditionell roten Duisburg - als die Personifikation des "Systems" gesehen, des Kapitalismus, der liberalen Gesellschaft. Und ungeschickt, wie er agiert, ist er die ideale Besetzung für diese Rolle.



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    29. Juli 2010

    Zitat des Tages: "Gegen Jörg Kachelmann besteht kein dringender Tatverdacht mehr"

    Der 3. Strafsenat hat ... ausgeführt, dass jedenfalls im derzeitigen Stadium des Verfahrens kein dringender Tatverdacht mehr bestehe.

    Zur Begründung hat der Senat insbesondere darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf den den Tatvorwurf bestreitenden Angeklagten und die Nebenklägerin als einzige Belastungszeugin die Fallkonstellation der "Aussage gegen Aussage" vorliege.

    Die Nebenklägerin, bei der Bestrafungs- und Falschbelastungsmotive nicht ausgeschlossen werden könnten, habe zudem bei der Anzeigeerstattung und im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens ... zunächst unzutreffende Angaben gemacht.

    Hinsichtlich der Verletzungen der Nebenklägerin könne derzeit aufgrund der bisher durchgeführten Untersuchungen und Begutachtungen neben einer Fremdbeibringung auch eine Selbstbeibringung nicht ausgeschlossen werden.


    Aus der Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Karlsruhe zu seiner Entscheidung, der Haftbeschwerde von Jörg Kachelmann stattzugeben.


    Kommentar: Meine Beurteilung des Falls Kachelmann können Sie in einer Reihe von früheren Artikeln nachlesen.

    Unmittelbar nach Kachelmanns Verhaftung auf dem Frankfurter Flughafen stand in diesem Blog am 22. März:
    Die Anzeige gegen ihn basiert auf einem angeblichen Vorfall, bei dem vermutlich nur er selbst und die Frau, die ihn angezeigt hat, anwesend waren. Die Vergewaltigung soll innerhalb eines Beziehungsstreits erfolgt sein. Es wird also, wie oft in solchen Prozessen, darum gehen, wem das Gericht mehr glaubt, und das ist in aller Regel völlig offen.

    Daß Kachelmann sich vor einem solchen Hintergrund einem Verfahren durch die Flucht entziehen würde, ist ausgesprochen unwahrscheinlich.
    Drei Tage später habe ich auf die unwürdigen Haftumstände des U-Gefangenen Kachelmann hingewiesen; unwürdig für einen Menschen, der als unschuldig zu gelten hat.

    Dann gab es die seltsame Mitteilung des Sprechers des Landgerichts Mannheim, Andreas Grossmann, es werde noch geprüft, ob ein für eine Anklageerhebung hinreichender Tatverdacht vorliege. Ich habe dazu am 30. März darauf aufmerksam gemacht, daß ein Fortbestehen der U-Haft aber einen dringenden Tatverdacht voraussetzt; daß die Mannheimer Justiz also inkonsistenterweise einen dringenden Tatverdacht (die höchste Verdachtsstufe) als gegeben ansieht, zugleich aber das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts (der geringeren Stufe) noch prüft.

    Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat dann diesen hinreichenden Tatverdacht als gegeben angesehen und Anklage erhoben; und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem bereits diejenigen Gutachten vorlagen, über die Anfang Juni der "Spiegel" berichtete und auf die sich jetzt auch das OLG Karlsruhe bezieht; ich habe das damals hier kommentiert.



    Gibt es dem jetzt noch etwas hinzuzufügen? Ja: Es gibt noch Richter in Karlsruhe.

    Wir haben ein funktionierendes Rechtssystem, in dem Irrtümer, falsche Bewertungen, vielleicht auch schon einmal der überzogene Ehrgeiz eines Staatsanwalts auf einer unteren Ebene in aller Regel durch die übergeordneten Instanzen korrigiert werden. Sei es bei einem Revisionsurteil, wie kürzlich im Fall Ramelow, sei es, wie jetzt, bei einer Haftbeschwerde.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Uwe Richard und Kaa.

    28. Juli 2010

    Marginalie: Ein bisher übersehener Faktor bei dem Unglück während der Love Parade

    Unglücksfälle wie derjenige bei der Love Parade in Duisburg sind seltene Ereignisse. Seltene Ereignisse kommen meist - nicht immer - dadurch zustande, daß eine Reihe von verursachenden Faktoren zusammenwirken. Unfallforscher sprechen von multiple causation, mehrfacher Verursachung. In der Umgangssprache nennen wir es das "Zusammentreffen unglücklicher Umstände".

    In Duisburg gab es offenbar eine ganze Kette solcher unglücklicher Umstände. Das macht der Bericht deutlich, den heute Nachmittag - übertragen vom Sender Phoenix - der Inspekteur der nordrhein-westfälische Polizei Dieter Wehe vortrug:

    Das Sicherheitskonzept der Stadt Duisburg wurde der Polizei erst wenige Stunden vor dem Beginn der Veranstaltung zugestellt.

    Die Eingangssperren wurden am Vormittag zu spät (erst nach 12 Uhr statt um 11 Uhr oder, wie für den Fall eines Andrangs zugesagt, um 10 Uhr) geöffnet, weil offenbar noch Planierarbeiten im Gang waren; dadurch stauten sich bereits zu diesem Zeitpunkt - Stunden vor dem Unglück - die Besucher.

    An Eingängen fehlte es an Personal, so daß teilweise Sperren überhaupt nicht besetzt waren. Sogenannten "Pushern" gelang es nicht, die Menschenmassen dort, wo sie sich stauten, wieder in Bewegung zu bringen. Kritisch war das vor allem, als Besuchergruppen in der Nähe des Tunnels (an der "Rampe") stehen blieben, um die "Floats" (die Musikwagen) zu betrachten; so daß es nicht mehr voranging.

    Auf der Pressekonferenz wurden derartige Faktoren, die dem Veranstalter zuzurechnen sind, in den Vordergrund gestellt. Dieser seinerseits - der Betreiber von Fitness-Studios Rainer Schaller - macht die Polizei verantwortlich. Andere sehen die Schuld beim Duisburger Oberbürgermeister.

    Gut möglich, daß es alle diese Faktoren gab und daß aus ihrem Zusammentreffen das Unglück hervorging. So ist es eben in der Regel bei solchen Katastrophen. Multiple causation.



    Eine Gruppe von Ursachen scheint in der bisherigen Diskussion aber noch kaum in den Blick genommen worden zu sein: Das Verhalten von Teilnehmern der Love Parade.

    Schon am Mittag kam es zu Gewalttätigkeiten gegen die Polizei, als die Eingänge nicht, wie vom Veranstalter versprochen, um 11 Uhr geöffnet worden waren. Wehe:
    Da hat es ja auch Angriffe gegeben. Da hat es Flaschenwürfe gegeben auf Polizeibeamte. Es ist ... es sind Zelte der Feuerwehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Also, die Polizei hat da richtig Druck gehabt.
    Das war um die Mittagszeit, als die Veranstalter die Eingänge nicht wie zugesagt geöffnet hatten und sich die Besucher vor diesen stauten. Aber nicht der schlechten Organisation des Veranstalters galt die Gewalttätigkeit der Kriminellen, sondern der Polizei, die mit der Nicht-Öffnung der Zugänge überhaupt nichts zu tun gehabt hatte.

    Das war Stunden vor dem Unglück gewesen. Als sich dann nach 15 Uhr die Besucher am Tunnel stauten, sagten - so Wehe - die Veranstalter zu, die Eingänge zu dem Gelände zu schließen, damit keine weiteren Besucher auf dieses kommen könnten. Das geschah aber nicht. Die Sperren blieben offen.

    Die Folge war, daß den Veranstaltern die Lage entglitt. Sie schickten einen Hilferuf an die Polizei. Diese war für die Sicherheit auf dem Gelände zwar ausdrücklich nicht zuständig, setzte nun aber doch (im Rahmen der "allgemeinen Gefahrenabwehr", wie es auf der Pressekonferenz hieß) Polizisten zum Tunnel und zur Rampe in Marsch.

    Die Polizisten versuchten, eine Absperrung ("Polizeikette") aufzubauen, mußten diese aber wieder aufgeben. Wehe:
    Wenn man die Polizeikette dort wegnimmt, weil sie nicht zu halten ist ... es hatte auch dort vereinzelt Angriff auf Beamte zu gegeben, klar, die wollte man ja auch, ... ich meine, nach diesen langen Stunden jetzt endlich auf das Gelände zu kommen, das kann man ja auch verstehen. Die Kräfte dort mußten diese Sperren aufgeben, und dann sind diese beiden Besucherströme zusammengekommen.
    Es waren also Besucher der Love Parade, die durch Angriffe auf Polizisten und dadurch, daß sie offenbar die Absperrung der Polizei zu durchbrechen versuchten, einen wesentlichen Anteil an dem Unglück hatten.

    Nein, diese Kriminellen, die Polizisten attackierten und die eine Polizeisperre durchbrachen, sind nicht "die Schuldigen" an dem Geschehen. Niemand ist "der Schuldige". Aber wenn man zusammenträgt, was alles an falschem oder - wie hier - eindeutig kriminellem Verhalten zu der Katastrophe beigetragen hat, dann sollte die Schuld dieser Teilnehmer der Love Parade nicht ausgeklammert werden.



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    Zitat des Tages: "Ausweitung der ökonomischen Bildung in den Schulen!"

    Einen breiten inhaltlichen Zugang vorausgesetzt, sind es vor allem gesellschaftspolitische Gründe, die für eine Ausweitung der ökonomischen Bildung – zumal in Schulen – sprechen:

    Erstens ist ökonomische Bildung integraler Bestandteil von Allgemeinbildung. (...) Ökonomische Bildung ist zweitens für die politische Willensbildung unabdingbar. (...) Drittens bereitet ökonomische Bildung Schüler auf die Lebenswirklichkeit vor.


    Der Akademische Rat am Lehrstuhl für Wirtschaftsdidaktik der Universität Duisburg-Essen und Fellow der Stiftung Neue Verantwortung Tim Engartner in der aktuellen "Zeit" (Nr. 30/2010 vom 22. 7. 2010) über die Forderung nach mehr Schulunterricht in Ökonomie.


    Kommentar: Engartner hat sich zu diesem Thema schon öfter geäußert, zum Beispiel im vergangenen März in der "Frankfurter Rundschau".

    Er sagt da dasselbe wie jetzt, aber es ist ja auch nicht falsch: Wer das deutsche Schulsystem durchlaufen hat, ob bis zum Hauptschulabschluß oder bis zum Abitur, der weiß in der Regel beklagenswert wenig von Ökonomie. In der FR hat Engartner eine Untersuchung zitiert, nach der die Hälfte der 14- bis 24jährigen in Deutschland nicht wissen, was Inflation ist.

    Bürger, die wenig von Wirtschaft verstehen, fallen leicht Agitatoren zum Opfer, die das Wirtschaften als eine Unternehmung darstellen, die "den Reichen" dazu dient, ihre "Gier" zu befriedigen. Bessere in der Schule erworbene Kenntnisse können da nur hilfreich sein.

    Nur - wer soll sie vermitteln, diese Kenntnisse? Nur wenige Lehrer haben Wirtschaftswissenschaften studiert, jedenfalls die Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen.

    So erfreulich es wäre, wenn die Schulen mehr Sachwissen über die Wirtschaft vermitteln würden, so groß ist andererseits die Gefahr, daß ein solches Schulfach in die Hände von Lehrern fiele, denen dazu nicht nur die akademische Ausbildung fehlt, sondern die das Fach möglicherweise mit ihrer eigenen Ideologie aufladen würden.

    Lehrer also, die nicht Ökonomie lehren würden, sondern politische Ökonomie. Die das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft nicht erklären, sondern diese denunzieren würden. Man würde dann den Bock zum Gärtner machen.



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    27. Juli 2010

    Kleines Klima-Kaleidoskop (15): Mojib Latifs seltsame Modell-Logik. Hans-Werner Sinns unerbittliche ökonomische Logik. Zwei bei Illner

    Fritzchen bekommt bei einer Rechenaufgabe 10 heraus, obwohl die richtige Lösung 8 ist. Klein-Erna bekommt bei derselben Aufgabe 6 heraus. Der Lehrer gibt Fritzchen eine fünf und lobt Klein-Erna, weil die richtige Lösungszahl höher ist als das, was sie ausgerechnet hat.

    Nicht wahr, den betreffenden Lehrer könnte man als ein wenig meschugge bezeichnen? Denn wenn man falsch rechnet, dann ist es egal, ob man oberhalb oder unterhalb der richtigen Lösung liegt. Falsch ist nun einmal falsch.

    So ist es auch sonst im Leben; so ist es auch in der Wissenschaft.

    Wenn der Jäger den Hasen nicht trifft, dann spielt es selten eine Rolle, ob die Kugel links oder rechts an ihm vorbeifliegt. Er hat nun einmal schlecht gezielt. Und wenn ein meteorologisches Institut für übermorgen eine Temperatur von 25 Grad vorhersagt, dann liegt es daneben, wenn es nur 20 Grad werden; und ebenso liegt es daneben, wenn die Temperatur 30 Grad erreicht. Das Modell, mit dem es gearbeitet hat, war offenbar im einen Fall so schlecht wie im anderen.

    Überall ist es so. Nur offenbar nicht in dem interdisziplinären Unternehmen, das "Klimaforschung" genannt wird.



    Die Sendung "Maybrit Illner" befaßte sich am vergangenen Donnerstag einmal mehr mit dem "Klimawandel". "Gluthitze hier - Ölpest dort" war der etwas dadaistische Titel.

    Berichte über diese Sendung können Sie beispielsweise in "Welt-Online", in "Spiegel-Online" und bei news.de lesen. Berichte allerdings, die so langweilig sind, wie es auch die Sendung war.

    Bis auf zwei kurze Highlights.

    Das eine, negative steuerte der Professor Mojib Latif bei, und im Rückblick des ZDF auf die Sendung liest sich das so:
    Klima- und Meeresforscher Mojib Latif warnte eindringlich davor, noch länger über Klimaschutz nur zu reden und nicht zu handeln. Bereitz [sic] die Öl-Krise in den 1970er Jahren hätte eigentlich zum Undenken [sic!] führen müssen. Selbst die pessimistischsten Modelrechnungen [sic] zur Klimakatastrophe würden inzwischen negativ von der Realität überholt.
    Er sagte das mit sichtlicher Selbstzufriedenheit und sprach von "unseren Modellen". Er komme gerade aus der Arktis, sagte der Forscher, und hätte sich dort davon überzeugt, wie schnell die Erwärmung voranschreite. Schneller, als "unsere Modelle" es vorhergesagt gehabt hätten.

    Mit anderen Worten: Wenn Latif mit dieser Aussage Recht hat, dann sind die Modelle, die er und andere vertreten, falsch. Sie werden "von der Realität überholt"; so, wie die Lösung, die Klein-Erna für die Rechenaufgabe anbietet, leider von der Realität der richtigen Lösung übertroffen wird.

    Fragen sich "Klimaforscher" wie Latif folglich, was denn an ihren Modellen falsch ist? Jedenfalls der Öffentlichkeit wird nichts davon bekannt. Eher ist ein gewisser Stolz darauf zu spüren, daß nun - so heißt es - alles noch schlimmer komme, als die Modelle es prognostiziert hätten.

    Aber warum kommt es - vorgeblich - schlimmer?

    Latif war in der Arktis. Dort wird es in der Tat wärmer. Aber es spricht vieles dafür, daß diese Erwärmung nicht einfach Ausdruck einer "globalen Erwärmung" ist, sondern daß sie ihre spezifische Ursache in einer Änderung von Meeresströmungen hat, durch die wärmeres und salzhaltigeres Wasser in Richtung Arktis transportiert wird. Entsprechende Beobachtungen und Berechnungen liegen schon seit mehr als zehn Jahren vor; sie haben sich inzwischen weiter erhärtet; siehe Es ist vorerst vorbei mit der globalen Erwärmung; ZR vom 17. 11. 2009.

    Gewiß, Mojib Latif ist nicht die Klimaforschung. Aber er ist repräsentativ für die Art, wie diese sich gegenüber dem allgemeinen Publikum darstellt.

    Man benimmt sich nicht wie ordentliche Wissenschaftler, sondern wie prophetische Warner. Wenn sich die eigenen Modelle als falsch erweisen, dann nennt man das nicht falsch, sondern man sieht sich erst recht bestätigt. Es ist ja noch schlimmer gekommen, als man prognostiziert hatte.

    So argumentieren Unheilspropheten. So argumentiert kein guter Wissenschaftler.



    Es gab in dieser ansonsten unersprießlichen Sendung aber noch ein zweites Highlight, und das war ein positives: Die Beiträge von Hans-Werner Sinn.

    Sinn machte auf einen simplen ökonomischen Umstand aufmerksam, dessen Logik aber von den anderen Diskussionsteilnehmern offenbar nicht erkannt wurde:

    Je mehr wir in Europa den Verbrauch fossiler Energien reduzieren, umso mehr sinkt die Nachfrage, umso billiger werden also Kohle und Erdöl. Je billiger sie werden, umso mehr werden sie von Ländern wie China und Indien zur Stillung ihres Energiehungers eingesetzt. Es ist ein Nullsummenspiel.

    In der Tat. Statt "Energiebilanzen" diversester menschlicher Aktivitäten zu ermitteln, vom Einschalten einer Glühbirne bis zum Verzehr eines Apfels, sollte man das Problem wohl eher von der anderen Seite sehen: Es liegen begrenzte Mengen an Erdöl und an Kohle im Boden. Werden sie herausgeholt und verfeuert, dann entsteht C02. Wer das tut und wann das geschieht, ist für die Menge an C02 belanglos.

    Es spricht vieles dafür, daß die noch vorhandenen Erdölreserven bis zur Neige ausgebeutet werden, solange sich das rechnet. Es spricht vieles dafür, daß das auch für die Kohlevorräte gelten wird; schon wegen des genannten immensen Energiebedarfs von Ländern wie China und Indien, auch von anderen großen Schwellenländern wie Brasilien und Indonesien.

    Wenn das so ist, dann wird es den damit verbundenen C02-Ausstoß geben; und die ganze schöne europäische Umweltpolitik verschiebt ihn nur in einem gewissen Umfang in andere Weltregionen. Wir "sparen Energie ein", wir "steigen auf alternative Energien um". Das Ergebnis ist, daß die Kohle woanders verfeuert, daß das Erdöl woanders verbraucht wird.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Drei Bilder, die sich durch das Schütteln eines Kaleidoskops ergeben. Fotografiert und in die Public Domain gestellt von rnbc.

    Zitat des Tages: "Sie machen weiter". Ein ehemaliger CIA-Chef über die Atompolitik des Iran und die Möglichkeit eines Militärschlags

    Iran doesn't seem to be paying much attention to the sanctions. We engage. They continue to move forward. We vote for sanctions. They continue to move forward. We try to deter, to dissuade. They continue to move forward.

    (Der Iran scheint den Sanktionen nicht viel Beachtung zu schenken. Wir schalten uns ein. Sie machen weiter. Wir stimmen für Sanktionen. Sie machen weiter. Wir versuchen sie abzuschrecken, sie abzubringen. Sie machen weiter).

    Michael Hayden, CIA-Chef von 2006 bis 2009, über die Wirkung von Sanktionen auf die Atompolitik des Iran, gestern zitiert vom Wall Street Journal.


    Kommentar: Während seiner Amtszeit hätte ein Militärschlag gegen den Iran "ganz unten auf der Liste" gestanden, sagte Hayden. Aber jetzt beginne er sich zu fragen - als seine ganz persönliche Meinung, das betonte er -, ob ein militärisches Vorgehen gegen den Iran vielleicht doch nicht das Schlimmste wäre, was passieren könnte.

    Warum sind - Hayden dürfte das richtig sehen - alle Drohungen von Sanktionen gegen den Iran so gut wie unwirksam geblieben? Weil die Herrschenden in Teheran jeden Grund haben, Präsident Obama für einen zahnlosen Tiger zu halten. Für einen zahnlosen Tiger, der eher ins Rollenfach des Bettvorlegers wechseln würde, als jemals zu springen.

    Seit seinem Amtsantritt ist die Iran-Politik von Präsident Obama eine bedrückende Politik des Nachgebens, der Halbherzigkeit, des Beschwichtigens. Regelmäßige Leser dieses Blogs konnten das Schritt für Schritt verfolgen.

    Im April 2009 hatte der Iran gegenüber Obama eine "Einladung zur Appeasement-Politik" (so damals die Washington Post) ausgesprochen; siehe "Der Iran lädt Obama ein, sich zu demütigen"; ZR vom 22. 4. 2009. Das war die Folge der "Politik der ausgestreckten Hand" gewesen, mit der Obama im Januar 2009 seine Außenpolitik eröffnet hatte.

    Im Juni 2009 wurde ein Brief Obamas an den Ayatollah Chamenei bekannt, in dem er dem Iran eine "Kooperation auf bilateraler und regionaler Ebene" vorschlug; siehe Richard Herzinger zur Lage im Iran; ZR vom 25. 6. 2009.

    Das war die Fortsetzung der Politik des Kandidaten Obama, der bereits 2007 dem Iran ein "Versprechen, keinen Regimewechsel anzustreben" in Aussicht gestellt hatte; siehe Der Kandidat Obama im Jahr 2007 über seine Iranpolitik als Präsident; ZR vom 22. 6. 2009.

    Im Sommer 2009 hatte es bekanntlich im Iran wochenlang den Versuch gegeben, das Regime zu stürzen. Obama verhielt sich mucksmäuschenstill, solange die Revolution eine Chance hatte. Erst als sie gescheitert war, fand er zu starken Worten; siehe Barack der Redner redet wieder; ZR vom 24. 6. 2009.

    Und dann, im Juli 2009, hat Obama dem Iran ein Ultimatum gestellt, in Sachen Atompolitik zu kooperieren - bis zum September 2009, das war die "deadline", der äußerste Termin also.

    Der Iran hat nicht kooperiert, natürlich nicht; und nichts ist geschehen. Er hat auf Obamas Drohungen "gespuckt", wie Charles Krauthammer im Dezember 2009 schrieb; siehe Ein Jahr Iranpolitik des Präsidenten Obama; ZR vom 29. 12. 2009.

    In diesem Artikel vom Dezember 2009 zitiere ich ausführlich Charles Krauthammer, der als Ergebnis der Obama'schen Appeasement-Politik vorhersagte, daß es im Jahr 2010 unweigerlich zu einer Zuspitzung der Lage kommen werde.

    Die Herrschenden in Teheran haben gelernt, daß Obama viel redet, aber nicht handelt; jedenfalls glauben sie das.

    Das Gefährliche ist, daß dann, wenn Diktatoren das glauben, leicht eine Situation entstehen kann, in der nur noch Gewalt gegen sie hilft. Die Appeasement-Politik, die mit dem Namen München verbunden ist, liefert dafür das klassische Beispiel.

    Wenn ein Mann wie Michael Hayden das sagt, was am Anfang dieses Artikels steht, dann kann man davon ausgehen, daß er seine Worte sorgfältig gewählt hat.

    Die Lage wird sich zuspitzen; als Folge der Politik eines unfähigen Präsidenten. Am Ende kann das Ergebnis des ganzen Nachgebens und Handausstreckens sein, daß der Nachgeber und Handausstrecker nicht mehr anders kann, als Gewalt anzuwenden oder seine Zustimmung zur Gewaltanwendung zu geben.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an The Slatest.

    25. Juli 2010

    Marginalie: Aygül Özkan muß in ihrem Ministerium Ordnung schaffen. Oder sie muß gehen

    Als die Juristin Aygül Özkan die erste türkischstämmige deutsche Ministerin wurde, habe ich das ausdrücklich begrüßt; als ein Beispiel für gelungene Assimilation, als Vorbild für andere Deutsche türkischer Herkunft.

    Die Ministerin Özkan hatte dann allerdings einen denkbar schlechten Start. Kaum im Amt, erregte sie Aufsehen mit einer Aussage zu Kruzifixen in deutschen Klassenzimmern.

    Aus meiner Sicht war dies das Ungeschick einer in Mediendingen noch unerfahrenen Ministerin; ihr Pressereferent hatte ja auch noch einzugreifen versucht, als ihr Interview schon stattgefunden hatte. Denn was die Ministerin Özkan gesagt hatte, das lag durchaus auf der Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Nur ließ ihre Äußerung jede realistische Einschätzung der zu erwartenden Reaktionen vermissen.

    Eine Ungeschicklichkeit, auf die sich die Medien-Meute gestürzt hatte; so habe ich das damals kommentiert und auf die Parallele zu der Art hingewiesen, wie die meisten großen US-Medien mit Sarah Palin umgehen.

    Das war vor drei Monaten. Seither hat man nicht viel von der Ministerin gehört.

    Was ja nichts Schlechtes ist, denn jeder braucht Einarbeitungszeit; zumal eine Ministerin, die zuvor keine Erfahrung mit der Leitung einer großen Behörde gehabt hatte. Die noch dazu einem Mammut-Ministerium vorsteht; zuständig für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration.

    In diesem Vierteljahr im Amt sollte sie freilich Zeit gehabt haben, sich einzuarbeiten. Und sie sollte, wie man das als neuer Chef als erstes machen muß, dafür gesorgt haben, daß sie ihr Ministerium im Griff hat.

    Hat sie ihr Ministerium im Griff? Seit vorgestern ist daran füglich zu zweifeln. Oder hat sie es sehr wohl im Griff, und auf ihre Anordnung hin betreibt dieses Ministerium eine Politik, die man nur als hanebüchen bezeichnen kann? Beides wäre gleichermaßen fatal.

    Es wäre fatal für diese Ministerin, wenn es ihr nicht gelänge, das auf die eine oder andere Art in Ordnung zu bringen. Und es wäre fatal für unser Land, wenn schon der erste Versuch einer Integration einer türkischstämmigen Deutschen auf der höchsten Ebene politischer Verantwortung scheitern sollte.



    Die Ministerin ist, so war es gestern in der FAZ zu lesen, im Urlaub.

    Während sie im Urlaub ist, hat ihr Ministerium den folgenden "Entwurf" an die Chefredaktionen niedersächsischer Zeitungen geschickt:
    Der demografische Wandel verändert auch Niedersachsen: Wir werden weniger, älter und vielfältiger. Dadurch ergeben sich neue, veränderte Zielgruppen für die Medien in unserem Land. Bereits 16 Prozent der niedersächsischen Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Das wirkt sich auch auf die Medienlandschaft aus. Die Vertreter der niedersächsischen Medien betonen die Aufgabe, den Integrationsprozess in Niedersachsen zu unterstützen. Sie übernehmen die damit verbundene Verantwortung und erklären:

    -in ihrer Berichterstattung über Sachverhalte und Herausforderungen der Integration zu berichten und zu informieren,

    -eine kultursensible Sprache anzuwenden,

    -die interkulturelle Öffnung zu fördern,

    -die interkulturelle Kompetenz zu verstärken,

    -Projekte hierfür zu initiieren und zu begleiten.

    Hannover, den 16. August 2010
    Ja, ist denn schon August?

    Noch nicht ganz, aber dieser "Entwurf" sollte eben am 16. August als "Mediencharta" verabschiedet werden. Von den Medien. Ganz so, als hätten diese sich das ausgedacht, und nicht irgendein Referent in dem Ministerium des Landes Niedersachsen, das diesen "Entwurf" verschickt hat.

    Enthüllt wurde das vorgestern von der "Nordwest-Zeitung" unter der Überschrift "Ministerin will Medien Inhalte vorgeben". Als einer der ersten hat der Bloggerkollege Jan Filter darüber berichtet; er sieht da, sarkastisch, einen "hoffnungsvollen Anfang von Orwell".

    In der Tat ist dieser Vorstoß des Ministeriums an Anmaßung und an Dummheit kaum zu überbieten. Wer immer das verfaßt, wer immer das gebilligt hat, dem fehlt offenkundig jedes Verständnis für das Funktionieren des demokratischen Rechtsstaats, in dem keine Regierung in die Medien hineinzuregieren hat; auch nicht in Form eines "Entwurfs".



    Aber wer hat ihn verfaßt, wer hat ihn gebilligt, diesen "Entwurf", der jedes Verständnis für den demokratischen Rechtsstaat vermissen läßt? (Auch wenn mir der Vergleich, den die geschätzte Blogger-Kollegin Gudrun Eussner mit dem Schriftleitergesetz der Nazis anstellt, doch arg übers Ziel hinausgeschossen zu sein scheint).

    Laut FAZ hat sich die Ministerin vom Entwurf aus ihrem eigenen Haus "distanziert":
    Sozialministerin Aygül Özkan (CDU) distanzierte sich aus ihrem Urlaub heraus mit den Worten, sie verstehe die 'Irritation' und wolle klarstellen, nichts liege ihr ferner, als die Unabhängigkeit der Medien in irgendeiner Form zu berühren. Auch Ministerpräsident McAllister (CDU) hatte sich irritiert gezeigt über das Vorgehen.
    Ja, was denn nun?

    Wenn die Ministerin von diesem Entwurf nichts wußte, dann hat sie ihr Haus nicht im Griff. Gut möglich, daß dort Leute mit einem totalitären Weltbild sitzen. Gut möglich, daß man die Ministerin nicht ernst nimmt und meint, an ihr vorbei Politik machen zu können, während sie im Urlaub ist. Wenn das so ist, dann hat die Ministerin schleunigst nach Hannover zurückzukehren, die Schuldigen zu ermitteln und gegen sie vorzugehen.

    Oder hat die Ministerin diesen "Entwurf" entgegen ihrer "Distanzierung" doch gekannt und gebilligt? Dann muß sie zurücktreten. Und wenn sie das nicht tut, dann muß Ministerpräsident McAllister sie entlassen.

    Das wäre, wie gesagt, fatal für eine Politik, welche die Assimilation von Einwanderern anstrebt. Aber noch viel fataler wäre es, wenn der Eindruck bliebe, daß diese Ministerin - die natürlich auch als Repräsentantin ihrer Gruppe gesehen wird - die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats nicht verstanden hat und dennoch weiter amtieren darf.

    Das nämlich wäre ein gefundenes Fressen für die Feinde einer Integration, einer schließlichen Assimilation von Einwanderern.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Right or wrong, it's Reuters

    Das sonst überall, nicht jedoch bei ZR gefürchtete Sommerloch bietet die Gelegenheit, ungewöhnliche Fragen zu beantworten. Zum Beispiel diese: Wer ist dümmer, indonesische Muslime oder westliche Journalisten?

    Vergangenen Freitag war nämlich im Deutschlandfunk zu hören:
    Die Muslime in Indonesien müssen ihre Gebetsrichtung ändern. Denn jahrelang haben die Gläubigen in dem südostasiatischen Land sich nicht wie vorgeschrieben nach Mekka hin verneigt. Vielmehr haben sie sich beim Gebet nach Westen und damit in Richtung Zentralafrikas gewandt.
    Aha, denkt man sich als Radiohörer, und das ist also jahrelang keinem aufgefallen? Und wie lange müsste man als Radiomacher nachdenken, bevor einem auffällt, das das nicht stimmen kann?

    Eine Quelle gibt das Deutschlandradio nicht an; vermutlich beruht die Nachricht auf einer Reuters-Meldung vom 16. Juli, in der es heißt:
    Indonesia's Muslims learned on Friday they have been praying in the wrong direction, after the country's highest Islamic authority said its directive on the direction of Mecca actually had people facing Africa.

    Die indonesischen Muslime erfuhren am Freitag, daß sie bislang in eine falsche Richtung gebetet haben, als die oberste islamische Geistlichkeit erklärte, ihre Richtungsangabe habe die Leute statt nach Mekka gen Afrika beten lassen.
    Denn:
    (...) Indonesian Ulema Council (MUI) issued an edict in March stipulating westward was the correct direction (...)

    (...) Der indonesische Rat der Geistlichen (MUI) gab im März eine Fatwa heraus, in der Westen als korrekte Richtung bezeichnet wurde (...)
    Woher, fragt man sich, will Reuters wissen, in welche Richtung sich die 200 Millionen indonesischen Muslime verneigt haben? Haben die sich alle nach der Fatwa im März in eine andere Richtung gedreht? Und was ist in den zigtausenden Moscheen wohl passiert? Standen die Gläubigen plötzlich schräg im Raum?
    "But it has been decided that actually the mosques are facing Somalia or Kenya, so we are now suggesting people shift the direction slightly to the north-west," the head of the MUI, Cholil Ridwan, told Reuters. "There's no need to knock down mosques, just shift your direction slightly during prayer."

    "Doch nun wurde befunden, daß die Moscheen tatsächlich in Richtung Somalia oder Kenia stehen, und daher schlagen wir vor, sich ein wenig nach Nordwesten zu drehen", sagte der Vorsitzende der MUI, Cholil Ridwan, zu Reuters. "Es ist nicht nötig, Moscheen abzureißen, einfach nur die Gebetsrichtung ein wenig zu ändern."
    Das heißt, seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten stehen die Moscheen in der falschen Richtung? Dann hätte die Fatwa vom März ja gar keine besondere Bedeutung gehabt? Oder verbeugten sich die Muslime all die Zeit über schräg im Raum? Und seit März dann gerade zur Wand? Jetzt wieder schräg? Hätte man in dem Gespräch nicht ein wenig nachhaken können? Und sei es nur zu dem Zweck, daß die Leser den Text dann auch verstehen können?

    Dieser offenkundige Nonsens stammt von Sunanda Creagh, die immerhin schon einige Jahre, mindestens seit 2008, bei Reuters tätig ist. Der Chief Correspondent, Political Risk, Singapore Andrew Marshall hat zudem den Text bearbeitet: man kann nicht behaupten, hier habe ein Sommerloch-Aushilfspraktikant herumgeschludert.

    Reuters ist nicht irgendwer. Deshalb braucht man auch nicht weiter nachzudenken, bevor man druckt, was von dorther kommt. Irgendwer hat die Meldung übersetzt, gewiß ohne besonders auf den Inhalt zu achten, und Der Spiegel, und andere brachten sie dann ungerührt. Right or wrong, it's Reuters.


    Soviel zu den westlichen Journalisten. Nun zu den indonesischen Muslimen.

    Bei zwei der wichtigsten Moscheen des Landes, der Masjid Istiqlal in Jakarta (von 1978) und der Mesjid Raya Baiturrahman in Banda Aceh (von 1982), können Sie leicht selber feststellen, daß diese in der korrekten Richtung stehen. Dazu müssen Sie einfach die Koordinaten 6°10'11.40"S 106°49'51.40"E bzw. 5°33'13"N 95°19'1.9"E in den Qiblalocator eingeben, und das Satellitenbild so weit vergrößern, bis Sie die Gebäude sehen.

    Zumindest die dort Betenden müssen sich über die Fatwa vom März ein wenig gewundert haben. Und in der Tat:
    Kiblat ke barat ternyata menimbulkan multitafsir di masyarakat. “Setelah fatwa (kiblat ke arah barat) keluar ternyata banyak respon dari masyarakat. Mereka menafsirkan kalau kiblat kita barat (budaya barat),” ujar Ketua MUI Bidang Fatwa Ma’ruf Amin saat berbincang dengan detikcom, Rabu (14/7/2010).

    Die Angabe der Gebetsrichtung Westen führte zu unterschiedlichen Interpretationen in der Gemeinschaft. "Auf die Publikation der Fatwa (Richtung Westen) folgten zahlreiche Reaktionen. Sie legten es so aus, daß unsere Richtung der Westen ist (die westliche Kultur)", sagte der Vorsitzende des Fatwa-Bereichs der MUI Ma'ruf Amin, im Gespräch mit AFP am Mittwoch (14.07.2010).



    Und hier ist die ganze Geschichte:

    Im Januar hatte der Islamgelehrte Mutoha Arkanuddin behauptet, 50-80% der Moscheen in Indonesien stünden falsch. Diese Aussage führte in konservativen Kreisen zu erheblicher Bestürzung.

    Die Regierung meinte dazu, lediglich in einigen Erdbebengebieten könnten manche Moscheen ein wenig falsch stehen. (Quelle.)

    Weit verbreitet ist dagegen die Meinung, die Verschiebung der indonesischen Erdplatte habe die Richtung nach Mekka verändert. Um diesen populären Irrtum richtigzustellen, äußerte sich die Geistlichkeit im März. Bei der Gelegenheit faßte sie nochmal die Richtungsregeln zusammen, wobei sie statt des korrekten Westnordwesten einfach Westen sagte. (Originaltext der Fatwa.)

    Dies löste die oben schon zitierte Debatte aus, ob etwa der kulturelle Westen gemeint sei.

    Um diese Debatte zu beruhigen, korrigierten sich die Geistlichen nocheinmal und bestätigten jetzt im Juli das altbekannte Westnordwesten - unbeabsichtigt gerade passend für unseren hiesigen Sommerloch-Journalismus. (Erklärung der MUI.)

    Richtig zugeben, etwa Falsches gesagt zu haben, wollten sie dabei übrigens nicht.
    “Just because we revised our edict doesn’t make the previous ruling completely wrong,” MUI councilor Umar Shihab told the Jakarta Globe.

    “We’re just fine-tuning it to make it more precise."

    "Daß wir unsere Fatwa revidiert haben, bedeutet nicht, daß die frühere Version gänzlich falsch gewesen ist," sagte das Ratsmitglied Umar Shihab dem Jakarta Globe.

    "Wir haben sie nur ein wenig präzisiert."
    Das klingt eigentlich alles ganz ganz vertraut nach business as usual in einer modernen Mediengesellschaft.


    Und wie stehen die Moscheen nun wirklich?
    (...) the Institute of Space and Aviation (Lapan) confirmed when the direction of qibla doesn’t comply with the qibla mosque direction, it does not mean there is a movement in the Earth’s plates. However, this phenomenon is due to many mosques in Indonesia determine the direction of Qibla in approx.

    (...) das Institut für Luft- und Raumfahrt (Lapan) bestätigte, daß eine Abweichung der tatsächlichen Richtung nach Mekka von der in einer Moschee angegebenen Richtung nicht bedeutet, daß es eine Bewegung der Erdplatten gegeben hat. Vielmehr beruht dieses Phänomen darauf, daß bei vielen Moscheen die Richtung nach Mekka nur annäherungsweise festgestellt wurde.
    Man hat es beim Bauen oftmals nicht so genau genommen. Siehda! Das ist anscheinend des Pudels Kern, der Ausgangspunkt all dieser indonesischen Debatten und der - allerdings selbstverschuldeten - westlichen Verwirrung darüber.

    Was nun diese ungenau dastehenden Gotteshäuser betrifft, meint Ghazalie Masroerie, Leiter des astronomischen Instituts der Nahdlatul Ulama (einer der größten islamischen Organisationen Indonesiens mit vielleicht 30 Millionen Mitgliedern):
    “There’s no need to renovate mosques or the like,” he said.

    "Es ist ganz unnötig, Moscheen umzubauen oder dergleichen", sagte er.



    © Kallias. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Vignette zeigt eine Weltkarte in mittabstandstreuer Azimutalprojektion mit Mekka im Zentrum. Die Geraden entsprechen der Himmelsrichtung nach Mekka. Vom Urheber RokerHRO in der Wikipedia unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht.

    24. Juli 2010

    Marginalie: Günter Wallraff ist einer von "NRWs Besten". Finden Sie das nicht auch lustig?

    Durch eine Vorabmeldung zum gedruckten "Spiegel" der kommenden Woche bin ich darauf aufmerksam geworden: Günter Wallraff ist einer von Nordrhein-Westfalens Besten.

    Einer der besten Lügner des Landes? Handelt es sich um so etwas wie einen Felix-Krull-Preis für den besten Hochstapler? Ach nein.

    Die Sache ist durchaus ernstgemeint. Im Februar und März dieses Jahres hatte der WDR, genauer seine Sendung "daheim & unterwegs" (Montag bis Freitag, 16.05 bis 18.00 Uhr), eine - so der Sender in seinem Presseportal - "große Zuschauerabstimmung" veranstaltet. Er hatte seine
    Zuschauerinnen und Zuschauer aufgerufen, unter fünfzig prominenten Nordrhein-Westfalen ihre Favoriten zu wählen. Die ließen sich nicht lange bitten und gaben ihr Votum im Internet und per Brief ab.
    Und wie votierten sie ohne langes Bitten; nicht die Favoriten, wie der Satz es vermuten läßt, sondern die Zuschauerinnen und Zuschauer?

    Hier können Sie es sehen. Günter Wallraff auf dem sechsten Platz. Vor Beethoven und Heine, vor Friedrich von Bodelschwingh und Conrad Röntgen, vor Heinz Nixdorf und Michael Schumacher.

    Was denken sie sich bei einer solchen Wahl, die Bürger Nordrhein-Westfalens? Gar nichts. Denn natürlich sind es nicht die Bürger Nordrhein-Westfalens, sondern nur Zuschauer des WDR, die abgestimmt haben. Und natürlich sind es nicht die Zuschauer des WDR, sondern die Gruppe derer, die sich "nicht lange bitten" hatten lassen.

    Und natürlich sind diejenigen, die sich da nicht lange hatten bitten lassen, keine repräsentative Stichprobe der Zuschauer des WDR; so wenig, wie die verbliebenen Zuschauer der Regionalsendungen des WDR eine repräsentative Stichprobe der Bürger des Landes NRW sind.

    Man mag dieses oder jenes Motiv haben, sich an einer solchen Abstimmung zu beteiligen. Das ist schwer zu ermitteln. Ein Motiv unter den vielen allerdings ist leicht zu ermitteln, weil es dokumentiert ist: Agitprop. Linke politische Stimmungsmache.

    Vor etlichen Jahren brachte das ZDF die Sendereihe "Unsere Besten", die jetzt vom WDR recylet wurde. Damals ging es unter anderem um die größten Deutschen, und einer der Nominierten war Karl Marx. Das "Neue Deutschland" startete daraufhin eine Kampagne, Marx zu wählen, aus der Sie u.a. hier ("Call for Karl") und hier ("Auf zum Tanz mit Marx") Artikel finden können.

    Die Kampagne hatte einen durchschlagenden Erfolg. Auch in ZR konnte man die Verwunderung darüber lesen, daß Marx so weit gekommen war. Er hatte es nämlich, nach Adenauer und Luther, auf Platz 3 geschafft; vor Goethe und Schiller, vor Bach, Gutenberg und Einstein.

    So ähnlich könnte jetzt auch Wallraff auf seinen Platz 6 gekommen sein. Auf eine Art dann also, die dem lügenhaften Wesen dieses Mannes (siehe Wallraff, der Lügner, zum zweiten; ZR vom 19. 10. 2009) dann ja irgendwie angemessen gewesen wäre.



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    23. Juli 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: Bärenjagd in New Jersey. Nebst einer Bemerkung über "Zettels Raum"

    Daß sich vor Bären in Acht nehmen muß, wer durch den Wilden Westen streift, das wissen wir seit Karl May; und es ist auch heute noch so, wie Sie zum Beispiel diesem Merkblatt des Glacier National Park in Montana entnehmen können.

    Aber Bären in New Jersey? Einem Ostküstenstaat, östlicher geht's nicht; dem am dichtesten bevölkerten Staat der USA, in den hinein sich längst die Vororte von New York vorgeschoben haben?

    Ja eben. Bären gibt es in New Jersey, gibt es nachgerade massenhaft in New Jersey, gerade weil es da so urban zugeht.

    Eines der seltsamsten Vorurteile über wild lebende Tiere lautet, daß sie sich in der Wildnis am wohlsten fühlen und die Zivilisation meiden.

    Viele fühlen sich aber in der Zivilisation pudelwohl. Nun gut, der Pudel paßt da nicht ganz; sagen wir es mit Goethe: Ihnen ist so kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen.

    Beispielsweise - davon hat inzwischen jeder schon gehört - den Wildschweinen in Berlin. Oder aber eben den Bären - genauer: den Amerikanischen Schwarzbären (Ursus Americanus) - in New Jersey.

    1992 gab es von ihnen in New Jersey ungefähr 500 Exemplare. Inzwischen ist die Population auf rund 3.400 angestiegen. Je mehr sich die Vororte von New York nach New Jersey ausdehnen, umso besser werden die Lebensbedingungen für die Bären; vor allem Abfälle, gelagertes Obst und Getreide und andere "Spuren der Menschheit" (so gestern Angela delli Santi für Associated Press) haben es ihnen angetan. Sie brechen aber auch schon einmal in ein Haus oder eine Garage ein oder vergreifen sich an Hausvieh.

    Leider sind die Tiere nicht nur lästig, sondern auch gefährlich. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahrs wurden 76 Fälle von angreifenden Bären gemeldet; 13 aggressive Bären mußten getötet werden. Von 2006 auf 2009 hat sich die Zahl solcher Vorfälle fast verdoppelt.

    Jetzt schreitet New Jersey zur Tat. Vorgestern hat das Ministerium für Umweltschutz für sechs Tage die Jagd auf Bären freigegeben. Hierfür werden rund 10.000 Jagderlaubnisscheine (hunting permits) ausgegeben. Aufgrund früherer Erfahrungen erwarten die Behörden, daß damit zwischen 500 und 750 Bären zur Strecke gebracht werden.

    Man sieht, in den USA ist alles ein paar Nummern größer als in Europa. Wer erinnert sich nicht an den Braunbären Bruno, der durch das Sommerloch 2006 geisterte und hinter dem Dutzende von Jägern her waren? Hinter einem einzigen Bären!

    Das war im Juni, kurz nachdem ZR eröffnet wurde. Einer meiner ersten Artikel galt damals Bruno; sowie dem Thema Bären überhaupt: My life with bears; ZR vom 27. 6. 2006.



    Und bei dieser Gelegenheit: Nicht nur wurde ZR in diesen Tagen also vier Jahre alt, sondern gestern hatte es auch den millionsten Seitenaufruf. Bärig, oder?



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    Zitat des Tages: Streicheleinheiten für die Kommunisten? Nein, nur Vorbereitung der Volksfront

    Unterstützung erhalten die Genossen jetzt auch von SPD und Grünen. Das Urteil sei "ein weitreichender Eingriff in die politische Willensbildung von Parteien", sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und warnte vor einer "ausufernden Überwachung". Sie sprach sich dafür aus, die Rechtsgrundlage zu präzisieren. Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, forderte kategorisch ein Ende der Observierung der Linken. "Konkrete Hinweise auf Gewaltdelikte" der Linken seien nicht vorhanden.

    Für die Linke sind das ungewohnte Streicheleinheiten von der politischen Konkurrenz


    Björn Hengst heute in "Spiegel-Online" zu den Reaktionen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Fall Ramelow.


    Kommentar: Daß es nicht auf Gewaltdelikte ankommt, sondern auf verfassungsfeindliche Bestrebungen, sollte eigentlich auch Volker Beck wissen.

    Seine und Nahles' Reaktionen sind freilich keine "ungewohnten Streicheleinheiten"; sondern man fürchtet um die Aussichten für eine Volksfront-Regierung spätestens 2013. Diese wäre gefährdet, wenn es in der Öffentlichkeit allzu deutlich werden würde, wie es um die Verfassungstreue des Dritten im Bunde bestellt ist.

    Selten wurde besser sichtbar als durch diese Stellungnahmen von Beck und Nahles, wie nah die drei Partner der Volksfront schon zusammengerückt sind.



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    22. Juli 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: Heribert Prantl glänzt mit einem Fremdwort und erklärt uns die Partei "Die Linke"

    Es ist nicht so, daß man von Heribert Prantl nichts lernen könnte. Heute habe ich von ihm das Wort "spinös" gelernt.

    Naja, wenigstens fast. Sagen wir so: Er hat mich auf die Spur dieses Worts gesetzt.

    Im "Duden" findet man es nicht, im Duden Bedeutungswörterbuch. Man muß schon ins Duden Fremdwörterbuch gehen. Dort steht in dessen 5. Auflage von 1990:
    spinös [lat.]: sonderbar u. schwierig, z. B. im Umgang; das Benehmen anderer gouvernantenhaft kritisierend
    In der 1. Auflage von 1960 war die Erläuterung noch etwas ausführlicher gewesen:
    spinös [lat.]: schwierig (im Umgang), tadelsüchtig, spitzfindig, bei anderen gern schlechte Eigenschaften usw. suchend u. hervorkehrend
    Ähnlich wird im "Deutschen Wörterbuch" von Mackensen "spinös" als "schwierig (im Verkehr); tadelsüchtig" definiert. Googelt man nach dem Wort, dann findet man zum Beispiel bei MyDict: "altjüngferlich, knifflig, schwierig, spitzfindig, tadelsüchtig".



    Heribert Prantl hat sich heute über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Überwachung der Partei "Die Linke" durch den Verfassungsschutz geäußert, dem ich gestern das Zitat des Tages entnommen habe. Es wird Sie nicht überraschen, daß Prantl herbe Urteilsschelte übt; man ist ja selbst Jurist. "Ein Fehlurteil" nennt er dieses Urteil.

    Der Artikel ist unerheblich und wäre keinen Kommentar wert; wäre da nicht der folgende Satz:
    Die Linke: Es gibt zwar da und dort seltsame Grüppchen von Trotzkisten, Maoisten und sonstigen eher spinösen Menschen; aber die haben kaum Einfluss auf die Partei.
    Da steht es also, das "spinös". Altjüngferlich, knifflig, spitzfindig, tadelsüchtig, gouvernantenhaft, bei anderen schlechte Eigenschaften suchend sollen sie also sein, diese "Grüppchen" in der Partei "Die Linke"?

    Seltsam. Oder sollte der Autor Prantl schlicht "spinnert" gemeint haben; nur wollte er das mit Niveau sagen?



    Lassen wir den Stilisten Prantl beiseite und wenden wir uns dem politischen Kommentator zu. Ist Ihnen an dem zitierten Satz etwas aufgefallen? Prantl erwähnt Trotzkisten und (seltsamerweise, ich kenne keinen einzigen in der Partei "Die Linke") Maoisten. Er erwähnt nicht diejenigen extremistischen Gruppen, die weder das eine noch das andere sind, sondern schlicht Kommunisten.

    Die das sind, was man bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts "orthodoxe" oder auch "moskautreue" Kommunisten nannte. Also Leninisten, die Stalin ebenso positiv sehen wie die DDR, die Fidel Castro verehren und die einen "zweiten Sozialismusversuch" vorbereiten.

    Sie sind innerhalb der Partei "Die Linke" in drei "Grüppchen", wie Prantl das nennt, organisiert; nämlich der Kommunistischen Plattform; dem Marxistischen Forum und Cuba sí (zu deutsch: "Ja zu Cuba"). Alle drei werden - man kann das in den entsprechenden Artikeln in der Wikipedia nachlesen - vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft.

    Die Anführerin der "Kommunistischen Plattform" ist bekanntlich Sahra Wagenknecht, die aus ihrer Bewunderung für Josef Stalin keinen Hehl macht; siehe dazu die Zitate aus einer ihrer Schriften und einem Interview in Das Ergebnis der Vorstandswahlen bei der Partei "Die Linke"; ZR vom 17. 5. 2010.

    Ihre Mitgliedschaft in der "Kommunistischen Plattform" ruht derzeit. Denn inzwischen ist Sarah Wagenknecht eine von vier stellvertretenden Vorsitzenden der Partei "Die Linke", gewählt mit 418 von von 558 abgegebenen Stimmen, dem zweitbesten Ergebnis.



    Eine überwältigende Mehrheit der gewählten Delegierten der Partei "Die Linke" hat also der Kommunistin und Stalin-Verehrerin Wagenknecht das Vertrauen geschenkt. Prantl aber zeichnet ein nachgerade idyllisches Bild dieser Partei:
    Der Verfassungsschutz weiß aus eigener Kenntnis, dass die Linke von 2010 eine ganz andere Partei ist als die SED/PDS von 1990. (...) Im Übrigen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik schon in jeder demokratischen Partei extremistische Tendenzen an den Rändern gegeben; kein Verfassungsschutz hat daran gedacht, deswegen die ganze Partei aufs Korn zu nehmen. (...) Wer die Linken auf diese Weise als Anti-Demokraten denunziert, muss sich nach seinem eigenen Demokratieverständnis fragen lassen.
    Ist Prantl, der Ressortleiter Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung", naiv? Ist er (das Wort steht in der Überschrift seines Artikels) schlicht dumm? Oder sympathisiert er mit den Kommunisten und unterstützt deren Ziel, nach dem Scheitern der DDR nunmehr einen "zweiten Sozialismusversuch" zu unternehmen?

    Man weiß es nicht, um mit Dittsche zu sprechen. Eigentlich sollte es doch auch für Prantl begreifbar sein, daß eine Partei nicht zum Teil verfassungskonform und zum Teil verfassungsfeindlich sein kann.

    Prantl behauptet, es habe schon in jeder demokratischen Partei der Bundesrepublik "extremistische Tendenzen an den Rändern" gegeben. Mag sein; aber jede demokratische Partei hat darauf mit dem umgehenden Ausschluß der Betreffenden reagiert.

    Wäre es der Partei "Die Linke" ernst damit, daß sie den demokratischen Rechtsstaat akzeptiert hat, dann hätte sie Sahra Wagenknecht und ihre Gesinnungsgenossen längst aus der Partei entfernt.



    Die Justiz sieht das sehr viel realistischer als Heribert Prantl.

    Als Revisionsinstanz hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem gestrigen Urteil die Tatsachenfeststellungen des Oberverwaltungsgerichts NRW übernommen. Dieses kam in seinem Urteil vom 13. 2. 2009; Az 16 A 345/08 zu der folgenden Bewertung der Partei "Die Linke":
    Es lagen und liegen aktuell tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht von Bestrebungen der Parteien PDS, Linkspartei.PDS und DIE LINKE gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor. (...)

    Im Rahmen der vom Senat vorzunehmenden Gesamtschau erhalten die dargelegten Anhaltpunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung weitere Substanz durch die Erklärungen der Partei zur ehemaligen DDR und der Republik Kuba, die totalitäre Züge getragen haben bzw. tragen. (...)

    Es sind nicht nur tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der PDS, der Linkspartei.PDS sowie heute der Partei DIE LINKE gegeben, sondern darüber hinaus auch dafür, daß diese in politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in Bezug auf die Beseitigung bzw. Außer-Geltungsetzung der genannten Verfassungsgrundsätze mündeten und nach wie vor münden. (...)

    Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine offene Beobachtung des Klägers waren und sind allein schon wegen seiner politischen Betätigung in der Partei DIE LINKE (früher: PDS/Linkspartei.PDS) gegeben.
    Nur weil es - in diesem Einzelfall Bodo Ramelow! - den Eingriff in das freie Mandat als schwererwiegend ansah als die Erkenntnisse, die zum Schutz der Verfassung aus einer Beobachtung durch das BfV gewonnen werden könnten, hat das Oberverwaltungsgericht der Klage Ramelows stattgegeben.

    Und nur in Bezug auf diese Abwägung zwischen zwei Rechtsgütern hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Urteil jetzt korrigiert.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an FAB. und gelegentlicher Besucher.

    21. Juli 2010

    Zitat des Tages: Aus der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zum Fall Ramelow

    Die Beobachtung des Klägers war verhältnismäßig. Sie erwies sich insbesondere als angemessen.

    Zwar birgt die nachrichtendienstliche Beobachtung von Parlamentsabgeordneten erhebliche Gefahren im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit und auf die Mitwirkung der betroffenen Parteien bei der politischen Willensbildung und damit für den Prozess der demokratischen Willensbildung insgesamt. Das Gewicht dieser Belastung für den Kläger war hier jedoch dadurch gemindert, dass das BfV sich auf eine offene Beobachtung beschränkte und den Kern der parlamentarischen Tätigkeit des Klägers ausgenommen hat.

    Demgegenüber spricht für die Rechtmäßigkeit der Beobachtung das besondere Gewicht des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Umstand, dass der Kläger ein führender Funktionär der Partei DIE LINKE ist.


    Aus der heutigen Pressemitteilung 64/2010 des Bundesverwaltungsgerichts unter der Überschrift "Offene Beobachtung eines Parlamentsabgeordneten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtmäßig" (Az BVerwG 6 C 22.09).

    Es ging um die Klage des früheren Bundestags- und derzeitigen Landtagsabgeordneten Bodo Ramelow gegen seine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Dabei handelt es sich um eine sogenannte offene Beobachtung; es werden also lediglich Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen wie Zeitungsberichten gesammelt.

    Das Oberverwaltungsgericht als vorausgehende Instanz hatte Ramelow Recht gegeben. Dagegen hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz Revision eingelegt. Dieser Revision hat das Bundesverwaltungsgericht jetzt stattgegeben.


    Kommentar: Auf die Urteilsbegründung darf man gespannt sein. Laut der Pressemitteilung spricht für die Rechtmäßigkeit der Beobachtung, daß der Kläger Bodo Ramelow ein führender Funktionär der Partei "Die Linke" ist.

    Inwiefern, das wird in dieser kurzen Mitteilung naturgemäß nicht ausgeführt. In der Urteilsbegründung wird es dargelegt werden. Wir werden dann also - festgestellt durch ein letztinstanzliches Urteil - wissen, in welcher Hinsicht und in welchem Umfang innerhalb der Partei "Die Linke" Ziele verfolgt werden, die eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigen.

    Das könnte für die künftige politische Auseinandersetzung mit der Partei "Die Linke" von Bedeutung werden.

    Vielleicht kommt durch dieses Urteil jetzt auch endlich eine öffentliche Debatte über die Ziele dieser Partei in Gang, bei der es laut aktuellem Verfassungsschutz-Bericht "zahlreiche Indikatoren für linksextremistische Bestrebungen" gibt, deren Entwurf eines Parteiprogramms verfassungsrechtlichen Sprengstoff enthält und deren Vorsitzende erst kürzlich erklärt hat, daß "Die Linke" nach dem gescheiterten ersten Versuch mit der DDR einen "zweiten Sozialismusversuch" anstrebt.



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    20. Juli 2010

    Marginalie: Türkische Polizisten in Deutschland?

    Zuerst hatte ich es für eine Satire gehalten, aber anscheinend ist es ernst gemeint. "Welt-Online" beispielsweise berichtet, mit dpa als Quelle:
    Die Deutsche Polizeigewerkschaft will türkische Polizisten in sogenannte Problemviertel in Nordrhein-Westfalen schicken. Sie sollten sich um türkischstämmige Jugendliche kümmern.

    "So geht es nicht weiter", sagte der Landesvorsitzende der Gewerkschaft, Erich Rettinghaus, in Duisburg. "Vielleicht ist das ein probates Mittel. Man sollte es ausprobieren. "Die Türken sollten in ihrer eigenen Uniformen gemeinsam mit NRW-Kollegen auf Streife gehen.
    Diejenigen, um die es geht, sind keine Türken, sondern türkischstämmige Jugendliche. Junge Leute also, die fast alle in Deutschland geboren sind und die zum Teil die deutsche Staatsangehörigkeit haben, also Deutsche sind.

    Als Vorbild nannte - so heißt es in der Meldung - Rettinghaus die deutsch-niederländischen Polizeistreifen.

    Aber natürlich tun diese nicht irgendwo in Deutschland Dienst, sondern im Grenzgebiet zu Holland; und natürlich geht es darum, daß sie sich dort um Holländer kümmern, die ein Problem sind oder sein könnten. So, wie es bei internationalen Fußball-Ereignissen inzwischen nicht selten ist, daß sich Polizisten mit Hooligans aus ihrem jeweiligen Land befassen.

    Daß aber ein Staat Polizisten eines fremden Staats einsetzt, um mit seinen eigenen Bürgern fertigzuwerden, das dürfte - würde es denn realisiert werden - weltweit einmalig sein; sieht man von Gegenden wie dem Kosovo oder Afghanistan ab.

    Wie kann es zu einem solchen Vorschlag des Landeschefs der Polizeigewerkschaft kommen? Wenn es ein Problem mit türkischstämmigen Jugendlichen gibt - warum verlangt er dann nicht einfach eine bessere personelle Ausstattung der deutschen Polizei?

    Es scheint, daß er es türkischen Polizisten eher zutraut als seinen eigenen deutschen Kollegen, sich gegen Jugendliche türkischer Herkunft durchzusetzen. Er wird Gründe haben.



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    19. Juli 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: Sarah Palin, William Shakespeare und ein neues Wort

    Es ist Sarah Palin so gegangen, wie es hier vor der Präsidentschaftswahl 2008 zu lesen gewesen war: Sie wurde neben Barack Obama zur großen Gewinnerin dieser Wahl. Anders als frühere gescheiterte Kandidaten für die Vizepräsidentschaft kehrte sie nach der Niederlage nicht in die Vergessenheit zurück, sondern sie war zu einer nationalen Berühmtheit geworden, die sie bis heute geblieben ist.

    Ich gönne es ihr. Ihre Ansichten sind mir oft zu konservativ, auch zu holzschnittartig. Aber mir gefällt die nonchalante Selbstsicherheit dieser Landpomeranze; dieser Provinz-Politikerin aus Alaska (ungefähr so viele Einwohner wie Bochum und Bonn zusammen). Sie ist das ständige Objekt der Überheblichkeit von Journalisten, aber sie geht darüber souverän hinweg; mit einer unnachahmlichen Mischung aus Naivität und Ironie.

    Das jüngste Beispiel ist das englische Wort to refudiate. Sie kennen es nicht? Sie haben eben schnell bei LEO nachgesehen und es dort auch nicht gefunden?

    Kein Wunder, denn dieses Wort gibt es erst seit letzter Woche, als Sarah Palin es erfand.

    Naja, ehrlich gesagt: Es unterlief ihr. Es war ein klassischer Versprecher vom Typ der sogenannten Blends; Vermischungen also oder Kontaminationen. Das berühmteste Beispiel ist das von Freud zitierte "zum Vorschwein bringen"; entstanden aus "Vorschein" und "Schwein(erei)".

    So hatte Palin vergangene Woche das "refudiate" produziert, entstanden aus "refuse" und "repudiate", was beides ablehnen, zurückweisen bedeutet. Der kleine Versprecher war ihr unterlaufen, als sie in einer TV-Sendung Barack und Michelle Obama auffordern wollte, die Behauptung zurückzuweisen, daß die Tea-Party-Bewegung rassistisch sei.

    Prompt machte man sich über Palin lustig. Versprecher werden ja nur dann mit Verständnis übergangen, wenn sie von linken Politikern stammen (beispielsweise Obamas Aussage, seine Reform werde das Gesundheitssystem "ineffizienter machen" oder sein Bekenntnis zu "meinem muslimischen Glauben").

    Wie aber reagierte Sarah Palin? Sie entschuldigte sich keineswegs für den Versprecher, sondern erklärte keck, auch Shakespeare hätte schließlich neue Wörter geprägt. Und benutzte das neu geschaffene Wort "refudiate" flugs auf Twitter.

    Inzwischen ist "to refudiate" schon in ein Slang-Wörterbuch aufgenommen worden, und wenn Sie danach googeln, finden Sie gegenwärtig mehr als 50.000 Einträge. Ist das nicht kurios?



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an The Slatest.

    Das Aus für die "Primarschule" in Hamburg. Ein Rückschritt wurde verhindert

    Als gestern in Hamburg über die sogenannte Primarschule abgestimmt wurde, gaben von rund 1.300.000 Wahlberechtigten 491.600 ihre Stimme ab; das waren 37,8 Prozent. Davon stimmten 276.304 gegen die Primarschule. Das waren 56,2 Prozent der Abstimmenden. Es waren aber nur 21,3 Prozent der Stimmberechtigten.

    Die Situation war damit fast identisch mit derjenigen vor kurzem in Bayern, als über ein striktes Rauchverbot abgestimmt wurde. Ich habe damals darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Verbot von nur 23 Prozent der Stimmberechtigten durchgesetzt worden war; einer in dieser Frage engagierten Minderheit also (Striktes Rauchverbot in Bayern - ein Beispiel für die Fragwürdigkeit Direkter Demokratie; ZR vom 4. 7. 2010).

    So war es auch gestern in Hamburg. Nicht "die Hamburger" haben die Primarschule abgelehnt, sondern ein gutes Fünftel der stimmberechtigten Hamburger. Jenes Fünftel, dem an der Erhaltung des jetzigen Schulsystems besonders gelegen war.



    Anders als beim Volksentscheid in Bayern halte ich dieses Ergebnis in Hamburg von der Sache her für positiv, auch wenn es, was sein Zustandekommen angeht, meine Bedenken gegen die Direkte Demokratie bestätigt und verstärkt.

    Ich halte das Ergebnis für erfreulich, weil es - jedenfalls vorerst und vielleicht ja mit einer Signalwirkung auf andere Bundesländer - eine Entwicklung gestoppt hat, die aus meiner Sicht verhängnisvoll gewesen wäre.

    Beabsichtigt war es gewesen, die Grundschulzeit auf sechs Jahre zu verlängern und bei dieser Gelegenheit die Grundschule in "Primarschule" umzubenennen. Alle Schüler sollten also bis zum Alter von zwölf bis dreizehn Jahren "gemeinsam lernen".

    "Gemeinsam lernen" - wer diese Sprachregelung erfunden hat, der hätte einen Orden für glänzende Public Relations verdient. Denn wer kann gegen Gemeinsamkeit sein, gar gemeinsames Lernen? Der Begriff dient dazu, etwas in ein freundlich-heimeliges Licht zu tauchen, was alles andere als heimelig ist; nämlich einen - so war es beabsichtigt gewesen - beträchtlichen Rückschritt, was die Differenzierung des Unterrichts angeht. Einen Rückschritt, der allein durch Ideologie begründet gewesen wäre.

    Wenn sich die Didaktiker über eines einig sind, dann ist es die Erfordernis einer Differenzierung im Unterricht. Kinder unterscheiden sich nun einmal in ihren Begabungen und in ihren Interessen. Ein guter Unterricht muß dem Rechnung tragen, indem er - im Idealfall - jeden so fordert und so fördert, daß er aus seiner Begabung das Optimale machen und seine Interessen optimal verwirklichen kann.

    Die Didaktiker unterscheiden innere und äußere Differenzierung. Innere Differenzierung bedeutet, daß der Lehrer innerhalb einer Klasse auf die einzelnen Schüler individuell eingeht. Dem sind nicht nur durch die Größe der Klassen Grenzen gesetzt, sondern vor allem durch den gemeinsamen Lernstoff, der nun einmal durch die jeweils gültigen Lehrpläne vorgegeben ist. Das Klassenziel ist für alle Schüler dasselbe, unabhängig von ihren Begabungen und Interessen.

    Deshalb kann nur dann wirklich differenziert werden, wenn es auch eine äußere Differenzierung gibt - also eine Differenzierung in verschiedene Schulangebote mit unterschiedlichen Lehrplänen für die verschieden begabten und unterschiedlich interessierten Schüler.

    Diese Einsicht ist selbstverständlich nicht neu. Bereits Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts wurde in Deutschland die Mittelschule (Realschule) eingeführt, die zur Mittleren Reife führte (auch "Einjähriges" genannt weil sie zu einem auf ein Jahr verkürzten Wehrdienst berechtigte).

    Als weitere Zwischenstufe zwischen der Volksschule und dem klassischen humanistischen Gymnasium traten ab Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts die Oberrealschule und dann das Realgymnasium hinzu, die wie das klassische Gymnasium zum Abitur führten, aber mit Schwerpunkten auf entweder modernen Fremdsprachen oder Mathematik und Naturwissenschaften.

    Fortgesetzt wurden diese Bemühungen um eine äußere Differenzierung mit der in den siebziger Jahren eingeführten reformierten Oberstufe mit ihrem Kurssystem, das in den beiden letzten Gymnasialjahren einen weitgehend auf die individuellen Interessen und Begabungen der Schüler zugeschnittene Fächerwahl ermöglichen sollte.



    Was man in Hamburg vorhatte, geht in die genau umgekehrte Richtung: Statt Differenzierung war eine Entdifferenzierung beabsichtigt. Alle Schüler, wie verschieden auch immer ihre Begabungen und Interessen sind, sollten bis zum Ende der sechsten Klasse nicht nur gemeinsam lernen, sondern vor allem Dasselbe lernen. Erst ab ungefähr dreizehn Jahren sollte berücksichtigt werden, daß der Junge, der später einmal seinen Lebensunterhalt als ungelernter Arbeiter verdient, vielleicht andere Interessen und andere Begabungen hat als das Mädchen, das, sagen wir, später einmal Ärztin werden wird.

    Wie kann man einen solchen absurden Rückschritt begründen, was das Ziel der Differenzierung des Unterrichts angeht? Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und GAL vom 17. 4. 2008 heißt es dazu:
    Wesentliches Ziel von Bildungspolitik ist es nach Auffassung der Koalitionspartner, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft gleiche und gerechte Chancen für den Besuch von Bildungseinrichtungen und den Erwerb von Kompetenzen zu ermöglichen, um sie für ein selbständiges und selbst bestimmtes Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Gleichzeitig braucht der Wirtschaftsstandort Hamburg bestmöglich qualifizierte Menschen, um im globalen Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können.

    Die Koalitionspartner haben sich darauf verständigt, das Hamburger Schulsystem so weiterzuentwickeln, dass es allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen für den Erwerb aller Bildungsabschlüsse offen hält. Mit einer Reform soll auch dem Wunsch vieler Eltern nach längerem gemeinsamem Lernen unter Erhaltung der Gymnasien Rechnung getragen werden.
    Wie es mit dem "Wunsch vieler Eltern" bestellt ist, das hat die gestrige Abstimmung gezeigt. Wieso aber kann durch eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre erreicht werden, daß "allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen für den Erwerb aller Bildungsabschlüsse" offenstehen?

    Es wird immer wieder argumentiert, es gebe Spätentwickler, die bei einer zu frühen "Einsortierung" nicht in die für sie richtige Schulform kämen. Es wird argumentiert, daß bei einer frühen Differenzierung nach Schulform nicht die Begabung, sondern die soziale Herkunft entscheidend sei. Und um Gesellschaftspolitik ging es ja augenscheinlich der schwarzgrünen Koalition mehr als um die didaktisch optimale Lösung.

    Aber daß ein Kind nicht in die für seine Begabung optimale Schulform kommt, kann nach sechs Jahren ebenso passieren wie nach vier Jahren. Manche Menschen brauchen bis nach dem Schulabschluß, um den richtigen Weg zu finden; viele gelangen dann zum Beispiel über den Zweiten Bildungsweg zur Hochschulreife.

    Nicht ein langes "gemeinsames Lernen" hilft da, sondern nur eine Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, wie sie zum Beispiel in Bayern praktiziert wird. Die guten Schüler der Haupt- und der Realschule müssen aufs Gymnasium wechseln können; so wie umgekehrt denen, die das Gymnasium nicht schaffen, der Weg zum Haupt- oder zum Realschulabschluß offenstehen muß.

    Und die soziale und, wie es in dem Koalitionsvertrag heißt, "ethnische" Herkunft? Wieso sie nach sechs Jahren eine geringere Rolle spielen sollte als nach vier Jahren, ist das Geheimnis der Koalitionäre.



    Aber zeigen denn nicht die Erfahrungen anderer Länder, daß ein längeres "gemeinsames Lernen" von Vorteil ist? Da wird immer wieder die amerikanische High School genannt, "auf die alle Schüler gehen".

    Ein grobes Mißverständnis. Denn alle Schulen des Sekundarbereichs tragen in den USA zwar den Namen High School; aber mehr als den Namen haben sie nicht gemeinsam. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Vielfalt, gegen die das deutsche gegliederte Schulsystem nachgerade ein Muster an Gleichmacherei ist.

    Es gibt in den USA High Schools für Hochbegabte und für unterdurchschnittlich Begabte, für künstlerisch Begabte, sogar für Homosexuelle und Transsexuelle. Es gibt High Schools wie die Boston Latin School und die kalifornische Oxford Academy, die ihre Schüler nach strengsten Kriterien auswählen. Ich habe das vor einigen Jahren einmal ausführlich beschrieben: Ist das deutsche Schulsystem zu differenziert? Nein, zu egalitär; ZR vom 1. 7. 2007.

    So etwas schafft Gerechtigkeit: Jedem Schüler wird, soweit das möglich ist, ein Lernangebot gemacht, das auf seine Fähigkeiten und seine Interessen zugeschnitten ist. Ein Schulsystem, in dem alle in derselben Klasse sitzen und nach demselben Lehrplan lernen müssen, so daß die einen überfordert sind und die anderen sich langweilen, ist das Gegenteil eines gerechten Systems.

    Gut, daß in Hamburg - wenn auch nur dank des Votums eines Fünftels seiner Bürger - dieser Rückschritt verhindert wurde. Und peinlich für die CDU, daß es dieses Volksentscheids bedurfte, um sie davon abzuhalten, sich vor den Karren einer ideologischen und kontraproduktiven Schulpolitik der GAL spannen zu lassen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Lehrer Lämpel aus Buschs "Max und Moritz". In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Bearbeitet

    Zitat des Tages: "Die Notwendigkeit von Rot-Grün-Rot". Wie die Volksfront im Bund vorbereitet wird

    Wenn man Querschnittswähler der SPD, der Grünen oder der Linkspartei nach ihren politischen Vorstellungen befragen würde, wären sie sich vermutlich sehr schnell über die Notwendigkeit von Rot-Grün-Rot einig. Aber die Repräsentanten der Parteien gefallen sich mehr in Funkstille untereinander oder gar Abgrenzung voneinander.

    Das haben wir wieder bei den Spiegelfechtereien in Nordrhein-Westfalen gesehen, die Koalitionsverhandlungen gar nicht erst möglich machten, weil der Linkspartei abverlangt wurde, erst mal die für NRW so wichtige Frage ihres Verhältnisses zur verblichenen DDR zu klären. (...)

    Was also not tut: Die Linken müssen sich wieder eine gemeinsame Kommunikationsbasis schaffen.


    Hermann Scheer heute in der sozialistischen Tageszeitung "Neues Deutschland", vormals Zentralorgan der SED.


    Kommentar: Was ist zitierenswert daran, daß jemand in der Parteizeitung der Partei "Die Linke" für die Volksfront wirbt? Nicht der Inhalt des Zitats ist es, aber sein Autor.

    Denn Hermann Scheer ist nicht Mitglied dieser Partei, sondern Mitglied der SPD. Und nicht irgendein Mitglied. Scheer war der starke Mann hinter Andrea Ypsilanti, als diese hessische Ministerpräsidentin werden wollte; in der Presse wurde er wahlweise als "Ypsilantis Sonnengott" oder "Ypsilantis Windmacher" tituliert.

    Scheer war in einem Kabinett Ypsilanti als Superminister für Wirtschaft und Umwelt vorgesehen. Die "Financial Times Deutschland" nannte ihn damals "Ypsilantis Vordenker und Bodyguard".

    Dieser Mann also schreibt jetzt nicht nur in der Parteizeitung der Kommunisten. Sondern sein Artikel, dem ich das Zitat entnommen haben, ist laut Vorspann Teil einer Artikelserie, welche die Debatte um das Grundsatzprogramm dieser Partei begleiten soll.

    Es handelt sich um eine gekürzte Zusammenfassung aus - so das "Neue Deutschland" - einer "Diskussion über linke Hegemonie, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung auf dem diesjährigen 'Fest der Linken' veranstaltete".

    Dieser Mann also, der sich an der Debatte über das Grundsatzprogramm der Kommunisten beteiligt, wäre, wenn nicht vier verantwortungsbewußte SPD-Abgeordnete im Wiesbadener Landtag das verhindert hätten (siehe Die vier hessischen SPD-Dissidenten bei Reinhold Beckmann; ZR vom 11. 11. 2008), heute der mächtigste Minister im Bundesland Hessen.



    Übrigens war Scheer auch bei der Gründung des "Instituts solidarische Moderne" mit von der Partie, über die ich kürzlich berichtet habe. Er ist einer der fünf Kuratoriumssprecher dieses Instituts, einer - so der "Hessische Rundfunk" - "Art Denkfabrik, die künftig das intellektuelle Fundament für ein rot-rot-grünes Projekt in Deutschland legen soll".

    Es gehört zu den traditionellen Stärken der Kommunisten, langfristig zu denken und zu planen. In den Schlagzeilen war ihr Abstimmungsverhalten bei der Wahl des Bundespräsidenten, ist jetzt ihre mögliche Tolerierung der Minderheitsregierung Kraft in NRW. Aber das sind nur die kleinen Spektakel auf der Bühne. Die Regie im Hintergrund probt längst das eigentliche Stück, die Beteiligung an der Macht im Bund.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    18. Juli 2010

    Marginalie: An Fritz Teufels Grab die Ewiggestrigen

    In den fünfziger, den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah man sie noch, teils bis in die Siebziger hinein: die Jugendbewegten. Männer, die sich kurzbehost und mit offenem Schillerkragen in Richtung Greisenalter bewegten; Frauen in kräftigen Schuhen, das Haar nicht selten zum Kranz geflochten.

    Sie hatten die prägenden Erfahrungen ihres Lebens in den ersten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts gemacht, als sie, die Klampfe spielend, "im Frühtau zu Berge" gezogen waren, grauer Städte Mauern hinter sich ließen und im Sommer mit ihren Kohten auf Nordlandfahrt gingen. Dann waren sie erwachsen geworden, allmählich alt und älter; aber sie hatten sich nicht mehr wesentlich verändert. Sie waren in ihrer Jugend steckengeblieben.

    An diese jugendbewegten Grauköpfe mußte ich einen Augenblick lang denken, als ich die Berichte über die Beerdigung Fritz Teufels am vergangenen Mittwoch gelesen hatte; von Richard Herzinger in der "Welt", von Arno Widmann in der "Frankfurter Rundschau", von Philipp Gessler in der "Tageszeitung".

    Da waren sie wieder versammelt, die Alt-Achtundsechziger, die überlebenden. Leute, die in ihrer Jugend hängengeblieben waren wie einst die Wandervögel; manche auf nachgerade gespenstische Weise in der Vergangenheit lebend. Herzinger über den seinerzeitigen Kommunarden Dieter Kunzelmann:
    Ganz in weiß gewandet und mit einem Brecht-Käppi auf dem Kopf, wirkte er wie aus einem düsteren Märchen der deutschen Romantik entsprungen, ein Kobold aus längst vergangenen Zeiten. Mit den Medien, sagt Kunzelmann, der sich vor Jahren schon einmal für tot hatte erklären lassen, will er nichts mehr zu tun haben.
    Gessler schreibt:
    ... gerade bei Teufels Trauerfeier trafen sich viele der alten Genossinnen und Genossen der 68er mal wieder. "Dit is ja det letzte Klassentreffn", berlinert Bommi Baumann. "Der Fritz war beliebt bei allen", meint er.
    Und Widmann:
    Es gab eine Nähe, die ein Pfarrer nur in den seltensten Fällen bieten kann, eine innige Intimität, auf die der politische Beobachter nicht gefasst war. Ulrich Enzensberger sagte über Fritz Teufel: "Wenn ihm etwas geschmeckt hatte, leckte er den Teller ab." Als dann Teufels langjähriger Rechtsanwalt Hans Christian Ströbele - er ist heute direkt gewählter Grünenabgeordneter in Berlin - erklärte, Fritz Teufel sei vor allem ein Genosse gewesen, verstand man das sofort richtig und hätte gerne zusammen mit dem Verstorbenen den einen oder anderen Teller abgeleckt.
    Das klingt recht rührend und mag es für die Trauergemeinde auch gewesen sein.

    Nur waren diejenigen, die sich da versammelt hatte, ja nicht im Frühtau zu Berge gezogen.

    Unter den Trauergästen waren die Terroristen Irmgard Möller, Inge Viett, Karlheinz Dellwo und Astrid Proll. (Ja, Terroristen, nicht Ex-Terroristen; man spricht ja auch nicht von Ex-Mördern oder Ex-Betrügern.)

    Dellwo beispielsweise gehört zu den Mördern von Andreas Mirbach. Er bereut seine Taten nicht und zitiert zur sogenannten "Rote-Armee-Fraktion" (RAF), der er angehörte, Fidel Castro: "Ein heroisches Opfer, aber ein vergebliches". Und mit "Opfer" meint er nicht die Ermordeten, sondern die Mörder; siehe Karl-Heinz Dellwo, das "1000. Mitglied" der "LPG junge Welt". Ist das der RAF-Mörder Dellwo?; ZR vom 23. 1. 2010.

    Und jener Christian Ströbele, der Teufel einen guten Genossen nannte, ist der vermutlich einzige Abgeordnete des Deutschen Bundestages, an dessen Händen Blut klebt; das Blut der Opfer eines Kriegs, den er jahrelang durch Hilfe bei Waffenlieferungen unterstützt hat; siehe "Die Anwendung von Waffen richtig und notwendig"; ZR vom 6. 2. 2008.



    Fritz Teufel mag - so wurde er auch wieder auf dieser Trauerfeier geschildert - ein liebenswerter, humorvoller Mensch gewesen sein. Es mag auch sein, daß seine Beteiligung am Terrorismus nur eine vorübergehende Verirrung war; jedenfalls hat er sich bald wieder davon losgesagt.

    Also, de mortuis nil nisi bene, auch und vielleicht gerade in Bezug auf Fritz Teufel. Aber die Bewegung, für die er zu einem der Symbole wurde, hat keine Nachsicht verdient.

    Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Nonchalance alle drei zitierten Journalisten - Widmann, selbst ein Achtundsechziger; der 1967 geborene Gessner; Herzinger (Jahrgang 1955) aus der Zwischengeneration, die diese Zeit als Schüler erlebt hat - darüber hinweggehen, daß in dieser Trauergemeinde nicht nur eine Reihe von Mördern waren, sondern daß die nichtkriminellen Anwesenden sich offenbar mit ihnen zusammen als Teil derselben Bewegung verstanden.

    So gesehen war das dann doch weniger das Treffen der Gealterten einer Jugendbewegung als vielmehr ein Veteranentreffen von Ewiggestrigen.



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