30. Juni 2020

Jonathan Swift, "On Stella's Birthday" / "Auf Stellas Geburtstag" (1719)

­
(Esther Johnson, "Stella," 1681-1728; unbekannter Künstler)


"On Stella's Birth-Day"

Written 1718/19

Stella this Day is thirty four,
(We won't dispute a Year or more)
However Stella, be not troubled,
Although thy Size and Years are doubled,
Since first I saw Thee at Sixteen
The brightest Virgin of the Green,
So little is thy Form declin'd
Made up so largely in thy Mind.
Oh, would it please the Gods to split
Thy Beauty, Size, and Years, and Wit,
No Age could furnish out a Pair
Of Nymphs so gracefull, Wise and fair
With half the Lustre of Your Eyes,
With half thy Wit, thy Years and Size:
And then before it grew too late,
How should I beg of gentle Fate,
(That either Nymph might have her Swain,)
To split my Worship too in twain.


29. Juni 2020

周作人 《鬼的生长》 / Zhou Zuoren, "Vom Altern der Gespenster" (1934)

­

(周作人 / Zhou Zuoren)


发挥一点考据癣,从古今人的纪录里去找寻材料,或者能够间接的窥见百一亦未可知。 但是千百年来已非一日,载籍浩如烟海,门外摸索,不得象尾,而且鬼界的问题似乎也多得很,尽够研究院里先生们一生的检讨,我这里只提出一个题目,即上面所说的鬼之生长,姑且大题小做,略陈管见,仁候明教。关于鬼的事情我平常很想知道。 知道了有什么好处呢? 那也未必有, 大约实在也只是好奇罢了。 古人云,唯圣人能知鬼神之情状,那么这件事可见不是容易办到的,自悔少不弄道学,此路已是不通,只好人死后为鬼,鬼在阴间或其他地方究竟是否一年年的照常生长,这是一个问题。 其解决法有二。 一是根据我们这种老顽固的无鬼论,那末免文不对题,而且也太杀风景,

其次是普通的有鬼论,有鬼才有生长与否这问题发生,所以归根结底解决还只有这唯一一法。 然而有鬼虽为一般信士的定论,而其生长与否却占人人殊,莫衷一是。 清纪昀《如是我闻》卷四云:
“任于田言,其乡有人夜行,月下见墓道松柏问有两人并坐,一男子年约十六七,
韶秀可爱,一妇人白发垂项,佝偻携杖,似七八十以上人,倚肩笑语,意若甚相悦,窍讶何物淫妪,乃与少年儿狎昵,行稍近,冉冉而灭。 次日询是谁家冢,始知某早年夭折,
其妇孀守五十馀年,殁而合窆于是也。 ”照这样说,鬼是不会生长的,他的容貌年纪便以死的时候为准。不过仔细想起来,其间有许多不方便的事情,如少夫老妻即是其一,
此外则子老父幼,依照礼法温清定省所不可废,为儿子者实有竭暇难当之势,甚可悯也。

27. Juni 2020

Lord Dunsany, "Armer alter Bill" (1910)

­


In der alten Taverne am Hafen, in der Matrosen Gesellschaft finden, wurde es langsam dunkel. Ich hatte die Kneipe seit einigen Tagen aufgesucht, in der Hoffnung, von den Seeleuten, die da über ihren Wienen aus fernen Ländern saßen, Näheres über ein Gerücht zu erfahren, das ich aufgeschnappt hatte und das besagte, daß irgendwo in den Weiten der Südsee noch eine alte, aufgegebene Flotte spanischer Schatzgaleonen gesichtet worden sein sollte.

Auch an jenem Abend erfuhr ich darüber nichts Neues. Die Stimmung war gedämpft, die Matrosen redeten nicht viel, und ich wollte gerade gehen, als ein Seemann, der Ohrringe aus purem Gold trug, den Kopf hob, seinen Blick auf die Wand vor sich richtete und anfing, mit lauter Stimme seine Geschichte zu erzählen:

(Während er sprach, brach draußen ein Platzregen los und schlug prasselnd gegen die Butzenscheiben. Seine Stimme übertönte den Lärm mühelos. Je dunkler es wurde, desto klarer funkelten seine Augen.)

"Wir waren auf einem Schiff, das noch auf die alte Art getakelt war, und wir liefen seltsame Inseln an. Keiner von uns hatte je zuvor solche Inseln gesehen.

"Jeder von uns haßte den Kapitän, und er seinerseits haßte jeden von uns. Man muß es ihm lassen: da war er gerecht. Er verabscheute uns alle in gleichem Maß. Und er redete kein einziges Wort mit uns, außer wenn es abends dunkel wurde - dann ging er manchmal an Deck auf und ab und sprach zu denen, die er tagsüber an der Rah hatte hängen lassen.

26. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Plünderung von Bombasharna" (1910)

­


(Sidney H. Sime: "I Wish I Knew More About the Way of Queens")

Für Shard, den Piratenkapitän, war die Lage allmählich zu brenzlich geworden, auf allen Weltmeeren, die er befahren hatte. Die Häfen Spaniens blieben ihm verschlossen; in San Domingo war er kein Unbekannter mehr; in Syrakus nickten sich die Leute wissend zu, wenn sie seiner ansichtig wurden; die Könige beider Sizilien versagten sich das Lächeln, wenn ihre Rede auf ihn kam, und in allen Hauptstädten war ein hoher Preis auf seinen Kopf ausgesetzt worden mit seinem Konterfei auf den Steckbriefen - und keines dieser Porträts war schmeichelhaft. Und so war Käpt'n Shard zu dem Entschluß gekommen, daß es an der Zeit war, seinen Männern sein Geheimnis zu verraten.

Er rief sie zusammen, als sie eines Nachts vor Teneriffa auf Reede lagen. Er gab freimütig zu, daß es so einige Dinge gab, die der Erklärung bedurften: die Kronen, die die Prinzen von Aragon an ihre Neffen, die Könige beider Amerikas, gesandt hatten, hatten, hatten dero durchlauchtige Majstäten nie erreicht. Was war mit Kapitän Stobbuds Augen geschehen? Wer hatte die Küstenstädte Patagoniens gebrandschatzt? Warum hatte ein Schiff wie das ihre Perlen als Fracht geladen? Warum war das Deck so häufig rutschig vor Blut, und wofür brauchte man so viele Kanonen? Wo waren die Nancy, die Lärche und die Margaret Bell geblieben? Solche Fragen, gab er zu, könnten dem einen oder anderen Neugierigen durchaus in den Sinn kommen, und falls solche Leute mit den Gebräuchen des See unvertraut wären, könnten sich daraus knifflige rechtliche Fragen ergeben. Und Bloody Bill (wie Mr. Gagg von einigen Unverfrorenen  genannt wurde) blickte zum Himmel empor und bemerkte, daß es eine stürmische Nacht war und das Wetter ganz dazu geeignet war, ein paar solcher Kandidaten an der nächsten Rah zu hängen. Und einige der Anwesenden rieben sich nachdenklich den Nacken, während Käpt'n Shard ihnen seinen Plan darlegte. Er erklärte, daß die Zeit gekommen wäre, um die Verzweifelte Lärche aufzugeben; sie war den Kriegsmarinen von vier Königreichen allzugut bekannt, und eine fünfte war gerade dabei, sie auf ihre Liste zu setzen, und es würde nicht dabei bleiben. (In Wahrheit gab es noch mehr Kapitäne, die nach ihrer hübschen schwarzen Flagge mit dem schmucken Totenschädel und den gekreuzten gelben Knochen Ausschau hielten.) Er kannte einen kleinen Archipel, auf der anderen Seite des Sargassomeers; es mochten an die dreißig Inseln sein, die üblichen, unbewohnten Eilande; aber eine davon war eine schwimmende Insel. Er war vor vielen Jahren dort vorbeigekommen und war an Land gegangen, aber er hatte nie einer Seele davon erzählt, aber er hatte die Insel mit seiner Ankerkette am Meeresboden verankert und die Sache als sein größtes Geheimnis für sich behalten. Er hatte beschlossen, sich dort zur Ruhe zu setzen, wenn es ihm nicht mehr möglich war, sein Leben auf ehrliche Seeräuberweise zu fristen, nachdem er sich ein Weib genommen hatte. Als er auf die Insel stieß, trieb sie langsam vor dem Wind, der durch die Baumkronen blies; aber wenn die Ankerkette nicht durchgerostet war, sollte sich noch dort liegen, und sie würden sich ein Steuerruder zimmern und Kabinen im Inselboden ausheben und des Nachts Segel zwischen den Bäumen hissen und Kurs setzen, wohin immer es ihnen beliebte.

24. Juni 2020

Lord Dunsany, "Das Geheimnis der See" (1914)

­

(Sidney H. Sime, "The Secret of the Sea")

In der alten, finsteren Hafenkneipe, die ich gut kenne, erzählt man sich viele Geschichten über die See; aber die Geschichte, auf die ich über ein Jahr lang vergeblich gewartet hatte, erfuhr ich erst durch die kräftige Mithilfe des Weins namens Gorgunder, den ich mit so vieler Mühe den Zwergen abgehandelt hatte.

Ich kannte meinen Pappenheimer und hatte viele seiner Geschichten gehört, während mir die Ohren von seinen wilden Flüchen klingelten. Ich hatte ihm Rum und Whisky und noch so allerhand andere potente Getränke spendiert, aber er hatte nie die Geschichte erzählt, auf die ich wartete, und als ich mir keine anderes Mittel mehr wußte, reist ich in die Huthneth-Berge und verhandelte eine ganze Nacht hindurch mit dem Anführer der  Zwerge.

Als ich in den alten Kaschemme eintraf und in den niedrigen Schankraum trat, war mein Mann noch nicht vor Ort. Die Matrosen lachten, als sie die alte eiserne Flasche sahen, die ich dabeihatte, aber ich kümmerte mich nicht um sie und setzte mich; wenn ich die Flasche geöffnet hätte, wären sie in Tränen ausgebrochen und hätten lauthals gesungen. Ich hatte Geduld und konnte warten, denn ich wußte, daß mein Mann die Geschichte kannte, auf die ich hoffte, und die schon oft die Skepsis der Zweifler befeuert hat.

23. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Pfeilspitze aus Opal" (1920)

­



"Einmal, auf dem Bernsteinfluß..." begann Locquialton.

Wir alle hielten fast den Atem an und hörten ihm zu in unserer Runde um den alten Wirtshaustisch, an dem Locquialton saß. Außer ihm waren wir zu fünft. Ein alter, schwerer Tisch, ein niedriger Schankraum, hinter Locquialton ein großer, alter Kamin, in dem man ganze Baumstämme hätte verbrennen können. Die Scheite waren heruntergebrannt, das Feuer loderte nur noch schwach, draußen war es dunkel. Der Raum war nur noch ein paar Kerzen erhellt. Blauer Zigarrenrauch waberte durch den Raum. Ich sehe die Szene noch lebhaft vor mir: der hellblaue Zigarrenqualm, das tiefe Blau der Nacht hinter den Fenstern, das Kastanienbaun des Tisches und Locquialton, wie er sich vorbeugt. Ich höre noch seine Stimme, wie sie "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." sagt. Uns war bekannt, was er für ein Weltreisender gewesen war. Oder genauer gesagt: es war uns eben nicht bekannt; niemand wußte, wo er sich herumgetrieben hatte. Wir erinnerten uns nur daran, daß er jahrelang fortgewesen war, ohne jede Nachricht, und dann plötzlich wieder auftauchte. Daß er nichts von seinen Reisen berichtet hatte. Und so entstanden Gerüchte, über unbekannte Flüsse und ferne Länder, die er erkundet hate. Er selbst sprach nicht davon; keiner von uns wußte, wohin er gereist war und zu welchem Zweck. Und eines Tages, während wir zusammensaßen und rauchten, fing er an: "einmal, auf dem Bernsteinfluß..." Wir hörten gespannt zu, und er erzählte uns eine seiner Geschichten. Noch nie zuvor hatte er von sich selbst erzählt. Bald danach änderten sich die Dinge zwischen uns; so weit wir das sagen können, ist dies die einzige Geschichte, die er erzählt hat. Ich kann nicht sagen, ob sie wahr ist; niemand kann das. Ich kannte Locquialton so gut wie wir alle, und kann mit Bestimmtheit sagen, daß er keinen Funken Phantasie besaß. "Einmal, auf dem Bernsteinfluß...": das waren genau die Worte, an die ich mich erinnere - und an den Rest seiner Geschichte erinnere ich mich nach all dieser Zeit eher wie eine Folge von Bildern, die sich in unserer Phantasie abspielten, die vor uns vorbeizogen wie die Schwaden des blauen Zigarrenrauchs vor dem Kaminfeuer. Und diese Geschichte gibt keine Aufklärung über ihn; sie ist so seltsam, wie er es selbst war. Ich halte sie für die seltsamste Geschichte, die ich je gehört habe - aber das mögen meine Leser beurteilen, falls ich nichts vergesse.

21. Juni 2020

Gütersloh: Tönnies. Beijing: Xinfadi-Markt

­
Es gibt noch Meldungen, auch jetzt, im fünften Monat der Corona-Krise (oder dem vierten, je nachdem, wann man das pandemische Geschehen für den eigenen Standort als relevant einschätzt), die einem Betrachter der Zeitläufe den Kiefer gepflegt nach unten klappen lassen. Oder ungepflegt, je nach dem Ausmaß der Abgebrühtheit und des Zynismus, der sich mittlerweile eingestellt hat. Hier geht es um den akuten Ausbruch von SARS-CoV-2-Infektionen am Firmenhauptsitz der Tönnies-Holding im Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh, von dem sich die ersten Nachrichten vor drei Tagen, am 18. Juni, zuerst verbreiteten und deren Befund mit Stand von heute nachmittag ist, daß von rund 7000 Mitarbeitern dort bislang 1331 positiv auf das Coronavirus getestet worden sind (mit dem Stand von heute nachmitag liegen die Ergebnisse von 5899 der insgesamt 6139 durchgeführten Tests vor).

20. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Gespenster" (1908 / 1938)

­
"Die Gespenster" (1908)


(Sidney. H. Sime, "Oneleigh")
 
Ich nehme an, daß es für meine Leser kaum von Belang sein dürfte, aus welchem Grund ich mich mit meinem Bruder in seinem großen, einsam gelegenen Landhaus zerstritten hatte - zumindest nicht jene, von denen ich hoffe, daß sie das Experiment interessiert, zu dem mich dieser Streit verleitete, und das, was mir dabei in jenem gefährlichen Bereich widerfuhr, den ich dabei so leichtsinnig betrat. Es war bei meinem Besuch in Oneleigh.

Oneleigh befindet sich in einer einsamen ländlichen Gegend, umgeben von einem Bestand altehrwürdiger Zedern, in deren Zweigen es flüstert, wenn der Wind hindurchfährt. Wenn der Nordwind bläst, stecken sie die Köpfe zusammen und nicken mit ihren Wipfeln, und stimmen einander zu und werden wieder still. Der Nordwind ist für sie wie ein angenehmes Rätsel, über das uralte Weise nachsinnen und ein Schwätzchen halten. Diese Zedern wissen so manches, so lang stehen sie schon dort. Ihre Ahnen kannten den Libanon, und die Vorfahren dieser Ahnen dienten den Königen von Tyros und der Palast König Salomos wurde aus ihnen gefertigt. Und von diesen schwarzhaarigen Kindern der ergrauten Zeit war das alte Haus von Oneleigh umgeben. Ich kann nicht sagen, wie viele Jahrhunderte an seine Mauern gebrandet waren wie flüchtiger Gischt, aber noch standen sie fest, und im Lauf der Zeit hat sich dort vieles Alte und Ehrwürdige angesammelt, wie Algen auf einem Felsen, der der See trotzt. Hier fanden sich Rüstungen, die vor Zeiten Kämpfer geschützt hatten wie die Schalen toter Muscheln; Gobelins bedeckten die Wände wie Seetang in bunten Farben; hier fand sich kein neumodisches Treibgut, kein Mobiliar aus der Zeit Königin Viktorias, kein elektrisches Licht. Die Handelswege, die leere Konservendosen und billige Romane an Land spülten, verliefen andernorts. Gewiß: die Jahrhunderte werden ihr Werk vollenden und seine Trümmer an ferne Küsten schwemmen. Doch noch stand es, und ich hatte meinem Bruder dort einen Besuch abgestattet, und unser Gespräch war auf das Thema Gespenster gekommen. Mir schienen seine Ansichten dazu nicht ganz aufgeklärt. Er hielt Dinge, die nur in der Phantasie vorkommen, für real, er befand, daß Berichte aus zweiter Hand, daß jemand ein Gespenst gesehen hätte, Beweis dafür seien, daß es sie gäbe. Ich antwortete ihm, daß sie auch dann keinen Beweis darstellten, wenn die Betreffenden tatsächlich Gespenster gesehen hätten; niemand glaubt daran, daß es rote Ratten gibt, obwohl es genügend Beweise gibt, daß sie im Säuferwahn gesehen werden. Schließlich erklärte ich, daß ich selbst auch dann noch ihre Existenz bestreiten würde, wenn ich sie mit eigenen Augen sehen sollte. Also versorgte ich mich mit ein paar Zigarren und trank mehrere Tassen Tee, der eine halbe Ewigkeit lang gezogen hatte, verzichtete aufs Abendessen und zog mich für die Nacht in ein Zimmer zurück, dessen Wände mit dunkler Eiche vertäfelt und wo die Möbel unter Laken verborgen waren, und ließ mich nicht von meinem Bruder von meinem unsinnigen Vorhaben abbringen. Noch als er mit der Kerze in der Hand die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufstieg, beschwor er mich, doch bitte etwas zu Abend zu essen und mich ins Bett zu legen.

18. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die beunruhigende Geschichte von Thangobrind dem Goldschmied" (1911)

­
 (Ill. Sidney H. Sime, "The ominous cough")

Als Thangobrind der Goldschmied das unheilvolle Räuspern vernahm, dreht er sich stracks auf dem engen Pfad um. Ein Dieb war er, von ausgezeichnetem Ruf, dessen Dienste die Reichen und Vornehmen in Anspruch nahmen, denn er stahl niemals etwas Geringeres als das Ei des Moomoo, und sein Lebtag lang hatte er nur vier Arten edler Steine entwendet - Rubine, Diamanten, Smaradge und Saphire -, und als Goldschmied war seine Redlichkeit exemplarisch. Ein hoher Handelsherr war an ihn herangetreten und hatte die Seele seiner Tochter als Preis für den Diamenten geboten, der größer ist als der Kopf eines Menschen und der im Schoß des Spinnengötzen Hlo-hlo in dessen Tempel von Moung-ga-ling ruht, denn es war ihm berichtet worden, daß Thangobrind ein Dieb war, dem man vertrauen könne.

16. Juni 2020

Lord Dunsany, "Eine knappe Rettung" (1912)

­
Es war tief unter der Erde.

In der feuchten Katakombe unter dem Belgrave Square rann die Feuchtigkeit an den Wänden herab. Aber was kümmerte das den Magier? Er suchte das Verborgensein, nicht die Trockenheit, und hier im Dunkel sann er über den Gang der Dinge nach, schmiedete seine Pläne und braute seine Wundertränke.

In den vergangenen Jahren war seine Ruhe durch das Rumpeln der Busse mit ihren neuen Motoren empfindlich gestört worden; von fern her drang der Lärm der U-Bahn wie der Dröhnen eines fernen Erdbeben an sein empfindliches Ohr, und was er von der Welt über sich vernahm, war nicht geeignet, ihn für sie einzunehmen.

Eines Abends, als er in seinem feuchten Kämmerlein seine übelriechende Pfeife rauchte, kam er zu dem Entschluß, daß London lange genug bestanden hätte, daß es den Bogen überspannt hätte und es mit den Absurditäten seiner sogenannten Zivilisation übertrieben hätte. Und er beschloß, die Stadt zu vernichten.

15. Juni 2020

Lord Dunsany, "Carcassonne" (1910)

­

(Die Zitadelle von Carcassonne im Languedoc)

« Je me fais vieux, j’ai soixante ans,
J’ai travaillé toute ma vie,
Sans avoir, durant tout ce temps.
Pu satisfaire mon envie.
Je vois bien qu’il n’est ici-bas
De bonheur complet pour personne.
Mon vœu ne s’accomplira pas :
Je n’ai jamais vu Carcassonne !

« On voit la ville de là-haut,
Derrière les montagnes bleues ;
Mais, pour y parvenir, il faut,
Il faut faire cinq grandes lieues ;
En faire autant pour revenir !
Ah ! si la vendange était bonne !
Le raisin ne veut pas jaunir :
Je ne verrai pas Carcassonne !

« On dit qu’on y voit tous les jours,
Ni plus ni moins que les dimanches,
Des gens s’en aller sur le cours,
En habits neufs, en robes blanches.
On dit qu’on y voit des châteaux
Grands comme ceux de Babylone,
Un évèque et deux généraux !
Je ne connais pas Carcassonne !

« Le vicaire a cent fois raison :
C’est des imprudents que nous sommes.
Il disait dans son oraison
Que l’ambition perd les hommes.
Si je pouvais trouver pourtant
Deux jours sur la fin de l’automne…
Mon Dieu ! que je mourrais content
Après avoir vu Carcassonne !


- Gustave Nadaud (1820-1893)


*          *          *

(In a letter from a friend whom I have never seen, one of those that read my books, this line was quoted—"But he, he never came to Carcassonne." I do not know the origin of the line, but I made this tale about it. - L.D.)

Im Brief eines Freundes, den ich persönlich nie kennengelernt habe - er zählt zu meinen Lesern - zitierte er diese Zeile: "doch er kam nie bis Carcassonne." Ich weiß nicht, woher dieses Zitat stammt, aber ich habe diese Erzählung darüber geschrieben.


*          *          *

Zu jener Zeit, als Camorak in Arn herrschte, und als die Welt schöner war als in unseren Tagen, gab er ein Fest für alles Volk im Weiten Land, um den Glanz seiner Jugendzeit zu feiern.

Man erzählt sich, daß sein Palast in Arn weite hohe Säle besaß, deren Decken blau bemalt waren. Abends stiegen die Bediensteten auf Leitern und zündeten die unzähligen Kerzen in den Kandelabern an, die an Ketten darunter hingen. Manchmal sollen Wolken durch die Erkerfenster hoch oben an den Wänden hereingeschwebt sein, und über die steinernen Fensterstreben geflossen sein wie der Meernebel, den der Wind über bis Klippen in der Brandung treibt (er hat Tausende von toten Blättern und tausende von verflossenen Jahren davongeweht, sie sind ihm alle eins; er schuldet der Zeit nichts). Und die Wolken ballten sich hoch oben in den hohen Sälen zu neuer Form und segelten langsam dahin, bis sie durch ein anderes Fenster wieder davonschwebten. Und die Ritter in Camoraks Festsaal konnten aus ihren Formen den Ausgang der Schlachten und Belagerungen vorhersagen, die ihnen bevorstanden. Der Palast Camoraks zu Arn hatte nie seinesgleichen im Land gehabt, und es heißt, er werde es niemals wieder haben.

Dorthin zogen also die Bewohner des Freien Landes, von ihren Weiden und vom Wald her, während ihre Gedanken um Essen, Obdach und Liebe kreisten, und sie nahmen in der sagenumwobenen Halle Platz, neben den Bürgern von Arn, der Stadt, die sich um den Palast den Königs drängte und deren Dächer allesamt von  roter, schützender Erde bedeckt waren.

Und wenn es stimmt, was in den alten Lieder erzählt wird, war dieser Festsaal ein Wunderwerk.

14. Juni 2020

"Das Jahr der stillen Sonne"

­




Es ist ja nicht nur im Bereich der Pandemie - und der merkwürdig paradoxen Haltung unserer Medienlandschaft dazu (man bekommt den Eindruck als sei SARS-CoV-19 etwas, das für uns bereits in weiter Ferne zurückliege, obwohl weltweit weiterhin mit jedem Tag recht genau 130.000 neue Fälle hinzukommen, mit steigender Tendenz, die Zahl der Toten mit jedem Tag um 5000 zunimmt und der Zug der Seuche in Afrika und Lateinamerika gerade erst begonnen hat) -, daß man als Beobachter der Zeitläufte den Eindruck bekommen könnte, die Welt seit zu Beginn des dritten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts, des "Jahrhunderts, in dem die Zukunft wahr wird", zu einem schlechten Science-Fiction-Roman mutiert, in dem wir uns nolens volens jeden Tag aufs Neue wiederfinden. Vor allem, wenn man als altgedienter Leser des Genres das entsprechende Buch vorweisen kann. In diesem Fall handelt es sich um den Roman The Year of the Quiet Sun des amerikanischen Autors Wilson Tucker aus dem Jahr 1970.

*          *          *



12. Juni 2020

Lord Dunsany, "Ost und West" (1916)

­


Es herrschte tiefste Nacht, und es herrschte tiefster Winter. Ein kräftiger Sturm trieb nasse Schneeschauer von Osten heran. Der Wind heulte zwischen den langen, verdorrten Grashalmen. Auf der verlassenen dunklen Hochebene näherten sich zwei schwankende Lichtpunkte: ein Mann, der allein in einer Hansom-Kutsche über die Weiten Nordchinas rollte.

Allein mit dem Kutscher auf dem Bock und dem angekämpften Pferd. Der Kutscher hatte einen guten wasserdichten Regenumhang um die Schultern geworfen, aber der Fahrgast unten in der Kutsche trug nur Abendgarderobe. Er hatte das Kutschfenster nicht herabgezogen, weil das Pferd fortlaufend stolperte und zu stürzen drohte; der Schneeregen hatte seine Zigarre durchweicht und es war zu kalt, um Schlaf finden zu können. Die beiden Kutschlaternen blakten im Wind. Ein einsamer Mandschu-Hirte, der seine Herde vor den Wölfen bewachte, sah die Kutsche vorbeifahren, und im Licht einer flackernden Kerze, die das Wageninnere in flackernde Schatten tauchte, sah er zum ersten Mal in seinem Leben einen Abendanzug. Und obwohl das Licht nur schwach war, und der Anzug wie sein Träger durchnäßt war, war es, als würfe er einen Blick über ein ganzes Jahrtausend zurück, denn seine Kultur ist so viel älter als unsere, und sie haben dergleichen längst hinter sich gelassen.

Lord Dunsany, "Der Briefträger von Otford" (1917)

­



Die Dienstpflichten des Briefträgers in Otford-unter-dem Walde brachten es mit sich, daß Amuel Sleggins sich einmal im Jahr auf den Weg machte, der ihn weit aus dem Dorf hinausführte, weit jenseits des letzten Hauses an der Dorfstraße, an den Rand des großen, undurchdringlichen Walds zu jenem Haus, das niemand je aufsuchte, außer den drei finsteren Männern, die es bewohnten, und der verschlossenen Frau einer dieser Männer, und einmal im Jahr, wenn der merkwürdige Brief mit dem grünen Umschlag eintraf, Amuel Sleggins, der Postbote.

Der grüne Brief traf stets ein, wenn die Blätter sich zu verfärben begannen und war an den ältesten der drei finsteren Männern addressiert. Er trug eine prachtvolle Briefmarke aus China, und sobald er eintraf, den Posteingangsstempel von Otford, und Amuel Sleggins beförderte ihn an sein Ziel.

Er hatte keine Angst vor seinem Botengang; er hatte ihn jedes Jahr erledigt, seit nunmehr sieben Jahren, und doch beschlich ihn ein leises Unbehagen, sobald sich der Sommer seinem Ende zuneigte, und wenn die Luft herbstlich kühl zu werden begann, schauderte es ihn merklich, und die Dorfbewohner wunderten sich darüber.

Und dann kam der Tag, an dem der Wind aus Osten blies, und die Wildgänse am Himmel erschienen, die von Meer her kamen und hoch in den Lüften ihre merkwürdigen Rufe ausstießen, und davonzogen, bis sie nur noch wie ein dünner schwarzer Strich in der Höhe auszumachen waren, als ob ein Magier einen Zauberstab in die Luft geworfen hätte, der sich dort oben drehte und aufblitzte. Die Blätter wurden bunt, und am Morgen stand der Nebel weiß über den Marschen und die Sonne ging wie eine gewaltige rote Kugel unter und der Herbst zog in dieser Nacht aus dem Wald ins Tal hinunter, und am Tag darauf kam der seltsame Brief aus China mit dem grünen Umschlag.

11. Juni 2020

"bento" am Ende

­
Als Medienzyniker - zu denen sich der Protokollant zhält, der seit vielen Jahren jeden direkten Kontakt mit dem Massenmedien, seien sie elektronisch oder gedruckt, der über eine Schlagzeile und angelegentlich eine Rezension oder die gezielte, informierte Einlassung eines ausgewiesenen Fachmanns zum Thema hinausgeht, tunlichst vermeidet- als sardonisches Beobachter der Medienlandschaft im nun auch nicht mehr ganz taufrischen einzundzwanzigsten Jahrhundert also, ist man versucht zu sagen: Es gibt sie noch, die guten Nachrichten.

In diesem Fall: die Nachricht, die am Mittwoch über die "magischen Kanäle" (Marshall McLuhan) durchs Globaldorf gesendet wurde, daß der Jugendableger des Medienportals des Spiegeles, das vor fünf Jahren im Weltnetz gestartete "bento", im Herbst seinen Sendebetrieb einstellen wird. Die Spiegel-Hauptredaktion gab in ihrem Pressestatement am Mittwoch der gegenwäritgen Corona-Krise die Hauptlast an dem Faktum brutum, daß das für die "Generation #Hashtag" konzipierte Outlet "nachhaltig in die Verlustzone gerutscht" war. Zum einen mag es sich hier um  publizistische Kosmetik handeln, mit der die ökonomisch dringend gebotene Verschlankung des Angebots den gerade waltenden Umständen gutgeschrieben wird.

10. Juni 2020

Lord Dunsany, "Im Wechsel der Gezeiten" (1908)

­


(Ill. Sidney H. Sime, "The terrible mud")


Ich träumte, ich hätte ein abscheuliches Verbrechen begangen, und daß mir kein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden sollte, weder zu Land noch zur See, und daß sich jede Hölle weigern sollte, mich aufzunehmen.

In dieser Gewißheit wartete ich einige Stunden lang. Dann kamen meine Freunde, und sie töteten mich, wie es ihnen der alte Brauch zur Pflicht auferlegte, entzündeten große Fackeln, und trugen mich davon.

All das geschah in London, und sie trugen mich auf ihren Schultern durch die grauen Straßen, und an den verfallenen Fassaden vorbei, bis sie zum Fulß gelangten. Und der Fluß und die Flut, die vom Meer hereinströmte, stritten miteinander zwischen den lehmigen Ufern, und beide waren schwarz und Lichter glänzten auf ihnen. Und als meine Freunden mit ihren lodernden Fackeln näher kamen, sah es aus, als ob dort unzählige Augen aufleuchteten und sich vor Staunen weit öffneten. Und ich konnte all das noch mitansehen, obwohl ich schon kalt jund steif war, denn meine Seele war noch in meinem Körper gefangen, weil ihr alle Höllen verschlossen waren und mir ein christliches Begräbnis verwehrt war.

9. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Straßenräuber" (1908)

­
(Ill. Sidney H. Sime, aus: The Sword of Welleran and Other Stories, London: George Allen & Sons, 1908)

Tom o' the Roads hatte seinen letzten Ritt getan, und fand sich mutterseelenallein in der Nacht. Von dort, wo er sich befand, hätte ein Beobachter einen guten Blick auf die weißen, runden Rücken der Schafe werfen können, die auf den Wiesen ruhten, und die dunklen Umrisse der einsamen Hügel, und die feinen grauen Umrisse der einsameren Hügel dahinter, und in den schwarzen Tälern tief unter sich hätte er den Rauch aus den Schornsteinen der Häuser im Wind davontreiben sehen. Aber den Augen Toms war alles schwarz, und seine Ohren vernahmen nur ewige Stille, und nur seine Seele bemühte sich noch schwach, die eisernen Ketten zu sprengen, die sie in Bann hielten und nach Süden zum Paradies aufzubrechen. Und der Wind blies ohne Unterlaß.

Denn Tom konnte in dieser Nacht nur noch auf dem eisigen Nachtwind reiten. Sein treuer Rappen war ihm an dem Tag genommen worden, als die Häscher ihm auch die grünen Felder und den freien Himmel, die Stimmen der Männer und das Lachen der Frauen nahmen und ihn in Ketten geschlagen hatten, auf daß er für immer dem Wind als Spielzeug dienen sollte. Und der Wind wehte ohne Unterlaß.

Aber die Seele von Tom, dem Sohn der freien Wege, war durch die eisernen Ketten in Bann geschlagen, und bei jedem Versuch, sich zu befreien, trieb ihn der Wind, der vom Paradies her bläst, wieder in die grausamen Fesseln. Und während er er sich hin und her drehte, fielen die alten Flüche von seinen Lippen, und die Schmähungen, mit denen er Gott bedacht hatte, rollten über seine Zunge, und böse alte Verlangen ließen sein Herz verwesen, und von seinen Fingern tropften die Flecken, die böse Taten hinterlassen hatten und fielen zu Boden und wucherten dort in bleichen Flecken und Ringen. Und als diese Sünden verronnen und ausgetrocknet waren, da war Toms Seele wieder rein, so wie sie war, als er zum ersten Mal die Liebe kennengelernt hatte (es war vor langer Zeit gewesen, in einem Frühling) und sie schwang im Wind hin und her mit Toms Knochen, und mit seinem alten löchrigen Mantel und den rostigen Ketten.

Und der Wind wehte ohne Unterlaß.

8. Juni 2020

Lord Dunsany, "Die Rache der Menschen" (1906)

­



Als die Götter die Welt schufen, teilten sie sie auf in Wildnis und Weiden. Fruchtbare Wiesen verstreuten sie über das grüne Antlitz der Erde, schattige Haine pflanzten sie in den Tälern und legten Hügel an, auf denen die Heide blühte. Aber Harza bestimmten sie zu einem verfluchten Ort, dem es auf ewig bestimmt war, eine Ödnis zu bleiben.

Wenn die Welt am Abend zu den Göttern betete und die Götter auf die Bitten antworteten, erhörten sie nicht die Gebete derer vom Stamm der Arim. Und so litten die Menschen von Arim unter beständigen Kriegen und mußten von Land zu Land ziehen, und doch wurde ihr Mut nicht gebrochen. Und die Menschen von Arim erschufen sich selbst neue Götter und erhoben Männer aus ihrer Mitte zu Göttern, bis sich die Götter von Pegana wieder an sie erinnern würden. Und ihre Anführer, Yoth und Haneth, spielten die Rolle von Göttern und führten ihr Volk gegen alle Völker, die ihnen übel wollten. Und schließlich gelangten sie nach Harza, wo keine anderen Stämme lebten, und konnten vom Kampf ausruhen, und Yoth und Haneth sprachen: "Das Werk ist vollbracht. Bestimmt werden sich die Götter Peganas wieder unserer erinnern." Und sie bauten eine Stadt in Harza und bestellten den Boden, und fruchtbares Grün überzog die Wüste wie ein frischer Wind, der über das Meer weht, und in Harza erblickte man die Früchte des Feldes und die Herden und vernahm das Blöken von zahllosen Schafen. Und dort ruhten die Menschen vom Krieg aus und faßten ihr Leid in Fabeln, bis die Menschen in Harza wieder lächelten und ihre Kinder lachten.

7. Juni 2020

Jodeldiplom auf chinesisch

­

Lehrer: Danke. Frau Hoppenstett!
Frau Hoppenstett: Hollera da didel...
Lehrer: Holleri!
Hoppenstett: Holleri di dudel du
Lehrer: Du dödel di...
Hoppenstett: Holleri du dödel du...
Lehrer: Du dödel di

Lehrer: Im ganzen Satz!
Hoppenstett: Hollerö dö dudel dö
Lehrer: Du dödel di."Dö dudel dö" ist zweites Futur bei Sonnenaufgang!
Holleri du didel do.
Hoppenstett: Di dudel dö
Lehrer: Du dödel di
Hoppenstett: Holleri !
Lehrer: Holleri dö didel
Hoppenstett: Du dödel
Lehrer: Du dödel di!

 
Ein Grundkurs in vier Lektionen.

1. Lektion.



6. Juni 2020

Lord Dunsany, "Dreizehn bei Tisch" (1916)

Einmal, da werden
die über das Wild die Gewalt
hatten auf Erden
- färbt sich wieder der Wald
gelber und gelber -,
selber den Hunden zum Raub
fallen und selber
liegen auf blutigem Laub.

Einmal, da werden,
in den langen Alleen,
sie vor den Pferden
selber im Läuten gehn,
rennen und rasen,
die die Jagenden sie
sehen, da blasen
ihre Piquere: La Vue!

Keuchender Meute
werfen die Jäger dann ihr
Recht am Gescheide
zu von jeglichem Tier.
Unter den Bäumen
raufen die Hunde im Zorn.
In ihren Träumen
geistert noch lange das Horn.

- Alexander Lernet-Holenia, "La chasse à force des chiens courants" (1935)

*          *         *

­Als sich die Gesellschaft am Abend vor dem großen Kamin versammelt hatte, in dem die Scheite loderten, und die Männer mit Gläsern und Pfeifen in den Händen in bequemen Sesseln davor saßen, und das stürmische Wetter draußen, die Geborgenheit drinnen und die Jahreszeit - denn es war Weihnachten -, als all das nach einer merkwürdigen und unheimlichen Geschichte verlangte, da erzählte der frühere Jagdhundemeister seine Geschichte.

Mir ist auch einmal etwas Merkwürdiges passiert. Das war, als ich die Jagdhundmeuten in Bromley und Sydenham betreute, in meinem letzten Jahr dort. Es war sogar der allerletzte Tag der Jagdsaison. Es lohnte sich nicht mehr, weiter zu jagen, weil es im ganzen Landstrich keine Füchse mehr gab, und London so langsam seine Krankenarme um uns schloß. Von allen Hundezwingern aus konnte man die Stadt in der Ferne anrücken sehen wie eine in grau getarnte Armee. Und die Mengen an neuen Villen unten in der Tälern vermehrten sich mit jedem Jahr, das verging. Unsere Fuchsdeckungen lagen alle oben auf den Hügelkämmen, und sobald die Stadt sich daran machte, die Täler zu besetzen, verschwanden die Füchse von dort, ließen die Gegend hinter sich und kehrten nie zurück.

Und sie ändern sich nicht. Anmerkungen zum R-Faktor.

Man fühlt sich derzeit an Vorwahlzeiten erinnert: Täglich grüßt das Murmeltier. Wo kurz vor Wahlen im Tagestakt Wasserstandsmeldungen der angeblichen politischen Stimmung veröffentlicht werden, so werden dieser Tage jeden Tag neue Wasserstandsmeldungen zum magischen R-Faktor, der so genannten Reproduktionszahl, veröffentlicht.

5. Juni 2020

"Der Ickabog"

­



Ab heute können die fortlaufend veröffentlichten Kapitel von J. K. Rowlings neuem Kinderbuch, The Ickabog, auch in deutscher Übersetzung nachgelesen werden, wie beim englischen Original seit dem 26. Mai an jedem Tag mehrfach eingestellten Fortsetzungen. Die Autorin hat den weltweiten Lockdown im Zuge der Coronavirus-Krise als Anlaß genommen, diesen Text einem weltweiten jugendllichen (und optional jugendlichen) Publikum zugänglich zu machen.

Manche Leser mögen die Nachricht darüber en passant aus den Augenwinkeln im Rauschen der alltäglichen Nachrichten mitbekommen haben; für Interessierte geben Suchmaschinen in Sekundenschnelle Aufklärung; hier sei nur kurz aus Chronistenpflicht darauf hingewiesen. Bei Frau Rowlings Oeuvre seit dem Erscheinen nach dem Abschlußband der Septalogie um den Zauberlehrling von Hogwarts vor 13 Jahren (ja, so lange ist das bereits her) besteht zum einen aus einer Reihe von Kriminalromanen (jener ur-englischen Literaturgattung, die, so hat sich die Tradition seit dem Golden Age of the Detective Novel der zwanziger Jahre eingebürgert) auch Politikern und Großliteraten zum erzählerischen Zeitvertreib offensteht, und kleinen Seitenstücken und Tischgeschichten zur Harry-Potter-Saga, angefangen mit den beiden kleinen Lesergaben, die 2001 die Wartezeit überbrückten, als zwischen Band drei und vier der narrative Kosmos des Potterversums eine größere Dimension annahm, über das relativ bescheidene Format der ersten Bände hinaus zu jenen vielhundertseitigen Scharteken der Mittel- und Oberstufe (Magic Beasts and Where to Find Them und Quiddich Through the Ages).

4. Juni 2020

Lord Dunsany, "Der Exilantenklub" (1915)

­

Es war bei einem Abendempfang, und eine Bemerkung, die jemand mir gegenüber hatte gemacht hatte, hatte mich auf jenes Thema gebracht, das mich immer wieder beschäftigt hat: alte Religionen und vergessene Götter. Die Wahrheit (an der alle Religionen ein wenig teilhaben), die Weisheit und die Schönheit der Religionen, die in dem Ländern, in die mich meine Reisen führen, tatsächlich ausgeübt werden, besitzen für mich nicht den gleichen Reiz, denn mir fällt an ihnen nur ihr Zwang und ihre Intoleranz und die Unterwürfigkeit auf, die sie von ihren Gläubigen einfordern. Aber wenn eine Dynastie ihre Macht in den himmlischen Gefilden verloren und vergessen und verstoßen unter den Sterblichen weilt, und die Augen nicht mehr von ihrer Allmacht nicht länger geblendet werden, dann erblickt man in den Anlitzen der gefallenen Gottheiten, denen das Vergessenwerden droht,  etwa ungemein Sehnsüchtiges, eine fast schmerzhafte Schönheit, wie ein warmer Sommerabend, der über einem Schlachtfeld aus uralter Zeit verdämmert. Zwischen dem, was etwa Zeus einst darstellte und der vagen Legendengestalt, als den wir ihn heute kennen, liegt ein solcher Abgrund, das kein menschliches Unglück in seiner Größe daran heranreicht. Und so ist es vielen anderen Göttern ebenfalls ergangen, vor denen einst die Welt erzitterte und die das zwanzigste Jahrhundert als Kindermärchen behandelt. Um ein solches Fatum zu ertragen, braucht es gewiß eine mehr als menschliche Standhaftigkeit.

Ich erging mich also über dieses Thema, und da es eins meiner Lieblingsthemen ist, redete ich womöglich etwas zu laut. Auf keinen Fall war mir bewußt, daß gleich hinter mir der ehemalige König von Eritivaria zuhörte, jenem Reich der dreißig Inseln im Osten, sonst hätte ich meine Stimme gedämpft und wäre zur Seite getreten, um ihm etwas mehr Platz zu gewähren. Seine Anwesenheit ging mir erst auf, als sein Satellit, der sich mit ihm ins Exil begeben mußte, der aber immer noch seine Bahn um ihn zog,  mir Mitteilung davon machte, daß sein Gebieter meine Bekanntschaft zu machen wünsche; zu meiner Überraschung wurde ich seiner Majestät vorgestellt, obwohl beide meinen Namen nie gehört hatten. Und so kam es, daß der frühere Monarch eine Einladung an mich aussprach, ich möchte doch mit ihm in seinem Klub dinieren.

Christo

­
Vor ein paar Tagen, am 31. Mai 2020, ist in New York der Künstler Christo Vladimirov Jevascheff (ich erlaube mir aufgrund seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft die englische Schreibweise seines Namens), weltweit bekannt nur unter seinem Vornamen Christo (und seit Mitte der neunziger Jahre aufgrund seiner lebenslangen künstlerischen Partnerschaft mit seiner Ehefrau Jeanne-Denat de Guillebon, mit der er das Geburtdatem am 13. Juni 1935 teilte, als Christo und Jeanne-Claude) geläufig im Alter von 84 Jahren gestorben. In das deutsche kulturelle Gedächtnis ist er durch seiner Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes eingeprägt worden, dessen Beginn sich am 17. Juni (dieses Datum ist kein Zufall) zum 25 Mal jähren wird und bis zum 7. Juli 1995 dauerte. Die Tatsachen gingen durch alle Feuilletons; die Eckdaten seines Schaffens, die ikonischen Werke, mit mit seinem Namen verbunden sind, sind (zumindest anläßlich der Rückblicked aus diesem Anlaß) allegemein geläufig. Gibt es noch etwas hinzuzufügen? Vielleicht - wenn man die beiden Gedankengänge, die mir bei dieser Gelegenheit durch den Kopf gingen, nebeneinanderlegt. Wohlgemerkt: ich beanspruche keinerlei Originalität für diese kleinen Überlegungen (womöglich sind sie in den Nachrufen in den Feulletons hunderte von Malen formuliert worden) noch irgendeine "Profundität" - und schon gar keine "Richtigkeit". Die postmoderne Kunst - die mit der praktischen Anwendung des "erweiterten Kunstbegriffs" ihren Anlauf nahm - und zu der eben auch das Schaffen von Christo gehört, seit seinen ersten Auftritten Anfang der 1960er Jahre im Umfeld des Fluxus, der Objektkunst, des "nouveau réalisme", zu denen auch Yves Klein zählte mit seinen Aktionen, bei denen er etwa nackte Assistentinnen durch blaue Farbe zog; auch die Pop Art jener Jahre darf dazu gezähöt werden (Christos kleine eingepackte Alltagsgegenstände aus seiner allerersten Schaffenphase entsprechend hier den Verpackungen, die Andy Warhol durch die Applikation seiner Unterschrift zum work of art veredelte - gehört ihrem Wesen nach zum exemplarischen Anwendungsfall von Umberto Ecos Theorie des "offenen Kunstwerks", naach dem ein Kunstwerk dazu dient, Interpretationen, Ausdeutungen zu generieren (je mehr, desto besser), von denen keine in Anspruch nehmen kann, "richtiger", "zutreffender" zu sein als die anderen.

*          *          *

2. Juni 2020

Lord Dunsany, "Das Drei-Matrosen-Gambit" (1916)

­


Es ist schon ein paar Jahre her, als ich an einem Frühlingsnachmittag in der alten Hafenkneipe in Over saß und wie so oft darauf wartete, daß etwas Ungewöhnliches passieren würde. Diese Hoffnung hatte durchaus ihre Berechtigung, denn die bunten, in dickes Blei gefaßten Butzenscheiben, die zum Meer hinausgingen, ließen gerade am Abend ein so gedämpftes und geheimnisvolles Licht in die Schänke fallen, daß es einen merkwürdigen Einfluß auf alles auszuüben schien, was sich dort abspielte. Wie dem auch sei: ich habe dort selber seltsame Dinge gesehen und von noch seltsameren Dingen gehört.

Während ich dort so saß, kamen drei Matrosen herein, die gerade frisch von einem Schiff abgeheuert hatten, wie sie erzählten, und deren Gesichter von der langen Fahrt in den Süden noch braungebrannt waren. Einer von ihnen hatte ein Schachbrett und ein Kästchen mit einem Satz Figuren unter dem Arm, und sie beklagten sich darüber, daß niemand aufzutreiben war, der schachspielen konnte. Das war in jenem Jahr, als die Weltmeisterschaft in England stattfand. Ein kleiner dunkler Mann, der an einem Tisch in der Ecke Limonade trank, fragte sie, warum sie Schach spielen wollten, und sie sagten, daß sie gegen jeden um ein Pfund eine Partie spielen würden. Sie holten ihre abstoßenen, speckigen Figuren aus der Schachtel. Ihr Gegner weigerte sich, mit so schäbigen Figuren zu spielen. Vielleicht könnte er ja bessere besorgen, meinten sie, und schließlich ging er kurz in seine Wohnung, zu der es nicht weit war, holte sein eigenes Spiel und sie fingen an, eine Partie um den Einsatz von einem Pfund zu spielen. Die Matrosen hatten sich ausbedungen, sich dabei beratschlagen zu dürfen; sie müßten alle drei zusammen spielen, sagten sie.

Nun - wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem dunklen kleinen Mann um Stavlokratz.