4. Juni 2020

Lord Dunsany, "Der Exilantenklub" (1915)

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Es war bei einem Abendempfang, und eine Bemerkung, die jemand mir gegenüber hatte gemacht hatte, hatte mich auf jenes Thema gebracht, das mich immer wieder beschäftigt hat: alte Religionen und vergessene Götter. Die Wahrheit (an der alle Religionen ein wenig teilhaben), die Weisheit und die Schönheit der Religionen, die in dem Ländern, in die mich meine Reisen führen, tatsächlich ausgeübt werden, besitzen für mich nicht den gleichen Reiz, denn mir fällt an ihnen nur ihr Zwang und ihre Intoleranz und die Unterwürfigkeit auf, die sie von ihren Gläubigen einfordern. Aber wenn eine Dynastie ihre Macht in den himmlischen Gefilden verloren und vergessen und verstoßen unter den Sterblichen weilt, und die Augen nicht mehr von ihrer Allmacht nicht länger geblendet werden, dann erblickt man in den Anlitzen der gefallenen Gottheiten, denen das Vergessenwerden droht,  etwa ungemein Sehnsüchtiges, eine fast schmerzhafte Schönheit, wie ein warmer Sommerabend, der über einem Schlachtfeld aus uralter Zeit verdämmert. Zwischen dem, was etwa Zeus einst darstellte und der vagen Legendengestalt, als den wir ihn heute kennen, liegt ein solcher Abgrund, das kein menschliches Unglück in seiner Größe daran heranreicht. Und so ist es vielen anderen Göttern ebenfalls ergangen, vor denen einst die Welt erzitterte und die das zwanzigste Jahrhundert als Kindermärchen behandelt. Um ein solches Fatum zu ertragen, braucht es gewiß eine mehr als menschliche Standhaftigkeit.

Ich erging mich also über dieses Thema, und da es eins meiner Lieblingsthemen ist, redete ich womöglich etwas zu laut. Auf keinen Fall war mir bewußt, daß gleich hinter mir der ehemalige König von Eritivaria zuhörte, jenem Reich der dreißig Inseln im Osten, sonst hätte ich meine Stimme gedämpft und wäre zur Seite getreten, um ihm etwas mehr Platz zu gewähren. Seine Anwesenheit ging mir erst auf, als sein Satellit, der sich mit ihm ins Exil begeben mußte, der aber immer noch seine Bahn um ihn zog,  mir Mitteilung davon machte, daß sein Gebieter meine Bekanntschaft zu machen wünsche; zu meiner Überraschung wurde ich seiner Majestät vorgestellt, obwohl beide meinen Namen nie gehört hatten. Und so kam es, daß der frühere Monarch eine Einladung an mich aussprach, ich möchte doch mit ihm in seinem Klub dinieren.

Zu jenem Zeitpunkt vermutete ich, daß mir diese Ehre widerfuhr, weil er in meinen Ausführungen über die gestürzten Götter etwas von seinen eigenen Schicksal wiedererkannt hatte. Heute weiß ich, daß er nicht an sich selbst gedacht hat, als er die Einladung an mich aussprach.

Das Gebäude des Klubs  hätte in jeder Straße Londons die Umgebung in den Schatten gestellt, aber in jenem armen, unbekannten Viertel, in dem es errichtet worden war, wirkte es riesig. So, wie es über den armseligen Häusern erhob, in jenem gräzisierenden Stil, den man georgianisch nennt, hatte etwas Olympisches an sich. Meinem Gastgeber bedeutete eine über beleumdete Adresse sicherlich nichts. Obwohl in seiner Jugend jeder Ort, den er besuchte, allein dadurch in Mode kam, besaß ein Silbenfall wie East End für ihn keine Bedeutung.

Wer immer dieses Haus gebaut hatte, verfügte über immense Mittel und gab nichts auf Moden, verachtete sie vielleicht sogar. Während ich zu den riesigen Fenstern im Obergeschoß hinaufsah, die mit Vorhängen verdunkelt waren, hinter denen sich gigantische Schatten wie vage Schemen bewegten, rief mich mein Gastgeber vom Eingang aus, und ich trat ein und begrüßte den früheren König von Eritivaria zum zweiten Mal.

Vor uns führte eine Freitreppe aus Marmor ins Obergeschoß. Er wies mir den Weg durch eine Seitentür; wir stiegen ein Stockwerk hinab und gelangten in einen Speisesaal von erstaunlicher Opulenz. In der Mitte war ein langer Tisch wohl für an die zwanzig Personen gedeckt, und mir fiel auf, daß statt Stühle vor jedem Gedeck Throne an die Tafel gerückt worden waren - mit der Ausnahme eines einzigen Stuhls, der für mich, der ich der einzige Gast war, bestimmt war. Als wir Platz nahmen, erklärte mir mein Gastgeber, daß es sich bei jedem, der diesem Klub angehörte, seinen Anrechten nach um einen König handele.

Es war sogar so, führte er aus, daß es niemandem gestattet war,  Mitglied des Klubs zu werden, ehe nicht seine Ansprüche auf ein Königreich von den dafür zuständigen Experten in schriftlicher Form geprüft worden seien. Die Ansichten des Volkes oder die schlechte Amtsführung eines Kandidaten seien dabei ohne Belang; allein die Abstammung und die korrekte Erbfolge zählten. An der Tafel fanden sich jene, die selbst einmal geherrscht hatten, manche machten gültige Abstammung von Dynastien geltend, die die Welt längst vergessen hatte; mitunter hatten ihre Reiche sogar den Namen gewechselt. Hatzgurh, das Königreich im Gebirge, gilt heute vielerlorts als legendär.

Ich habe selten größere Pracht gesehen als in jenem langen Speisesaal, der unterhalb des Straßenpflasters lag. Sicher war das tagsüber ein wenig düster, wie es alle Keller an sich haben, aber des Nachts, mit seinen großen Kristalllüstern und dem Funkeln des Schmucks, der seine Besitzer ins Exil begleitet hatte, übertraf es alle Paläste, die nur einen einzigen König für sich reklamieren können. Die meisten dieser Könige waren überraschend nach London gekommen, oder ihre Väter, oder ihre Vorfahren. Manche waren nachts geflohen, auf leichtem Schlitten, mit Pferden, die die Peitsche antrieb; manche waren im Morgengrauen über die Grenze galoppiert; andere als Bettler verkleidet über die Landstraßen gezogen. Aber vielen war noch Zeit geblieben, ein unschätzbares Kleinod einzustecken, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, wie sie sagten -  aber womöglich ebensosehr, dachte ich,  als Pfand für die Zukunft. Und diese Schätze funkelten an der Tafel in jenem Speisesaal im Keller dieses merkwürdigen Klubs. Es war schon atemberaubend, sie nur zu sehen, aber wenn man die Geschichten vernahm, die ihre Besitzer erzählten, versetzte es einen im Geist in jene Zeit der Legenden, als die Helden der Geschichte mit den Göttern der Sagen fochten. Hier konnte man sehen, wie die berühmten silbernen Pferdes von Gilgianza ihren Berg auf wundersame Weise bezwangen, in jenen Zeiten, die denen der Goten vorausgingen. Dieses Diadem aus getriebenem Silber war nicht groß, aber die ziselierten Feinheiten übertrafen an Kunstfertigkeit jede Biene, die Waben in ihrem Stock anlegt.

Ein Kaiser aus dem fernen Osten hatte eine Schale von jenem unübertroffenen Porzellan mitgebracht, dem seine Dynastie ihren ewigen Ruhm verdankt, obschon ihre Taten sämtlich vergessen sind.  Es schimmerte in einer einzigartigen, nie wieder gesehenen Schattierung von Violett.

Dann gab es eine kleine Statuette aus Gold, die vorstellte, wie ein Drache eine vornehmen Dame einem Diamanten stahl. Der Drache hielt den Diamanten, viele Karat schwer und von höchster Reinheit, in seinen Krallen. Es hatte ein Reich gegeben, dessen Herrscher ihre Legitimation von dieser Legende vom Drachen, der einer Dame den Diamenten stahl, herleiteten. Als der letzte König das Land verließ, weil sein höchster General seine Artillerie gegen seinen Palast richtete, brachte er die kleine Statuette mit, die jenseits der Wände dieses seltsamen Klubs niemandem mehr als Herrschaftsinsignium galt.

Es gab die beiden Trinkbecher des beturbanten Königs Foo, die aus Amethysten geschnitten waren: jener, aus dem er selbst trank, und jener, aus dem er seinen Feinden zu trinken gab, und die das feinste Auge nicht voneinander unterscheiden konnte.

All das zeigte mir der frühere König von Eritivaria und erzählte mir dazu ihre wunderbaren Geschichten. Es selbst hatte nichts bei seiner Flucht mit sich geführt außer dem Maskottchen, das einmal auf dem Bug seines Bootes gesessen hatte.

Ich habe nicht einmal ein Zehntel all der Pracht erwähnt, die sich auf diesem Tisch darbot. Ich hatte mir vorgenommen, wiederzukommen und alles genau in Augenschein zu nehmen und mir die Geschichten dazu aufzuschreiben. Wenn ich geahnt hätte, daß dies das letzte Mal sein würde, daß ich je meinen Fuß in dieses Haus zu setzen gewillt war, hätte ich mir diesen Schätze genauer angesehen; aber jetzt, als der Wein seine Runde machte und die Verbannten zu erzählen begannen, widmete ich ihnen meine Aufmerksamkeit und hörte ihren Geschichten aus alten Tagen zu.

Wer Amt und Würden einbüßt, hat zumeist nur eine armselige Geschichte vorzuweisen. Sein Sturz verdankt sich in aller Regel einer dummen und lächerlichen Angelegenheit, aber die, in hier in diesem Keller speisten, waren wie Eichen in einer tosenden Sturmnacht gestürzt worden, mit gewaltigem Lärm; ihre Länder hatten davon gebebt. Diejenigen, die selbst keine Herrscher gewesen waren, sondern ihren Platz einem verbannten Ahnen verdankten, wußten von größerem Unglück zu berichten. Die Zeit schien das Schicksal ihres Hauses in ein sanfteres Licht getaucht zu haben, so wie Moos, das über den Stamm einer gestürzten Eiche wuchert, die Konturen aufweicht. Sie neideten einander nichts, wie man es so oft unter Herrschern sieht. Der Verlust ihrer Flotten und Armeen hatte dem ein Ende gesetzt, und sie zeigten keine Verbitterung gegen jene, die sie vertrieben hatten; einer von ihnen erwähnte den Fehler seiner obersten Ministers, der ihn seinen Thron gekostet hatte, als "der gute alte Friedrich verfügte über eine Himmelsgabe zur Taktlosigkeit."

Sie plauderten entspannt über allerlei, erwähnten Anekdoten und Vorkommnise, die wir auswendig lernen mußten, als wir Geschichtsunterricht genossen, und ich hätte so manches lernen können, über viele Aspekte in längst vergessenen Kriegen, falls, ja falls ich nicht unbedacht jenes Wort benutzt hätte. Das Wort war "Obergeschoß."

Der frühere Monarch von Eritivaria hatte mich, nachdem er mir die unvergleichlichen Kleinode gezeigt hatte, die ich erwähnt habe, gefragt, ob es noch etwas gebe, das ich zu sehen wünschte. Damit meinte er die Teller in den Vitrinen, die Schwerter fremder Prinzen, deren Klingen seltsam graviert waren, Edelsteine, die in alten Intrigen eine Rolle gespielt hatten, legendäre Amtssiegel - aber ich, der ich einen Blick auf die Freitreppe erhascht hatte, deren breites Geländer mir aus reinem Gold zu bestehen schien, und der ich mich fragte, warum in einem solchen prachtvollen Palazzo im Keller gespeist wurde, erwähnte das Wort "Obergeschoß."  Ein tiefes Schweigen fiel über die gesamte Versammlung, ein Schweigen, als wäre jemand in einer Kirche in schallendes Gelächter ausgebrochen.

"Nach oben?" fragte er entgeistert. "Wir dürfen nicht nach oben!"

Mir ging auf, daß ich einen schweren Fauxpas begangen hatte. Ich hätte ihn gern wettgemacht, aber ich wußte nicht wie.

"Natürlich," murmelte ich, "ich verstehe. Mitgliedern ist es untersagt, Gästen das Obergeschoß zu zeigen."

"Mitglieder?" sagte er zu mir. "Wir sind keine Mitglieder!"

In seiner Stimme schwang ein solcher Tadel mit, daß, daß ich nichts mehr sagte. Ich sah ihn nur fragend an; möglich, daß er meinen Lippen die ungestellte Frage ablesen konnte. Vielleicht hatte ich sogar gefragt "Wer sind Sie dann?", ohne es zu merken.

"Wir sind die Kellner," sagte er.

Das zumindest hatte ich nicht ahnen können. In diesem Punkt war meine Unwissenheit entschuldigt. Aus der Opulenz ihrer Tafel hätte ich das niemals schließen können.

"Aber wer sind dann die Mitglieder?" fragte ich.

Bei dieser Frage breitete sich ein solches Schweigen aus, ein Schweigen, in dem tiefste Ehrfurcht und Schauder lagen, daß mir ein wilder Verdacht durch den Kopf schoß, ein Gedanke, der mich in seiner Fantastik und Furchtbarkeit erschreckte. Ich faßte meinen Gastgeber am Arm und senkte die Stimme.

"Sind sie auch ... Verbannte?" fragte ich.

Er sah mir ins Gesicht und nickte langsam zweimal.

Ich verließ den Klub in ziemlicher Eile, nahm mir kaum Zeit, mich von diesen arbeitsamen Majestäten zu verabschieden, und als ich aus der Tür trat, öffnete sich über mir eines jener immensen Fenster im Obergeschoß und ein Blitz zuckte daraus hervor und erschlug einen Straßenköter.

*          *          *

"The Exiles' Club" erschien zuerst in the Novemberausgabe 1915 von The Smart Set und im Jahr darauf in Buchform in the Sammlung Tales of Wonder (bzw. The Last Book of Wonder). Von den sechs Illustrationen, die Dunsanys damaliger Stammillustrator für das Buch anfertigte, ist keine dieser Erzählung gewidmet.

Das Thema der "alten Götter" im Exil ist in der phantastischen Literatur durchaus vertreten; wenn auch nicht so häufig, wie es einem alten Leser des Genres vor dem ersten Nachzählen scheinen will. Dunsanys kleiner Text ist eines der ersten Beispiele dafür. In Wiliam Hope Hodgsons The House on the Borderland, 1908, jener beinahe surrealistischen Amalgamierung des Poe'schen "Untergang des Hauses Usher" (das symbolische Schloß in der unbewohnten Einsamkeit als Symbolraum des Geistes seines Erzählers, mitsamt der inzestuösen Fixierung auf seine Schwester, deren Status - ist sie tot? ist sie lebendig? - der Text irrlichternd im Ungewissen läßt) mit Novalis' "Hymnen an die Nacht" (und Wells' Zeitmaschine) - aus deren Bildfundus die zentrale "kosmische Reise" entlehnt ist, die der Erzähler als Todesvision und Klartraum über das Ende des Universums - und die Wiedergeburt eines neuen Universums - in der zentralen, halluzinatorischen Passage des Buchs durchlebt - zeigt als Vorschau im zweiten und dritten Kapitel eine erste Vision, in der der Erzähler dieses Haus - das seine eigene Psyche spiegelt - auf einer leblosen Bergebene findet, umgeben von den erstarrten, zu Bergriesen gewordenen Gestalten der "alten Götter", die es drohend, aber zu Stein geworden, umringen. In Jean Rays Malpertuis (1943) ist genau die gleiche Vision der Schlüssel dafür, daß es sich bei den Erben des verstorbenen Besitzers des titelgebenden Hauses, Cassave, um die magisch erzeugten und gebannten Inkarnationen der alten Gottheiten handelt, die von ihrer "wahren Natur" zu Beginn des Textes noch nichts ahnen. In Thorne Smiths "pre-Hays-Code" Prohibitionskomödie The Night Life of the Gods von 1931 machen die zum Leben erweckten Statuen der griechischen und römischen Gottheiten die Speakeasies New Yorks zum Schauplatz olympischer Orgiastik. Bei E. Nesbits The Story of the Amulet (1905) und Tom Holts Erstling Who's Afraid of Beowulf? (1987) ist man als Leser froh, daß nur die Helden des grauen Vorzeit (in Nesbits Fall eine zwar der Magie kundige Herrscherin aus dem alten Babylon, aber doch nur eine Sterbliche) die unbedarften Protagonisten der Gegenwart heimsuchen.

Viele versunkene Gottheiten sind ja tatsächlich zu "Folklore" geworden; der "panische Schrecken", der im alten Griechenland in seinem agrarischen Kontext tatsächlich mit dem Panisch-Werden und dem Durchgehen von Herden verknüpft war, ist uns heute nur noch eine Metapher. Im Bild der slawischen/wendischen "Mittagsfrau", die zum einen die faulen/säumigen und unehrlichen Schnitter straft, deren Begegnung in der glühenden Hitze des Mittags aber auch die Unglücklichen in den Wahnsinn treiben kann, schwingt dieser dunkle Aspekt der Naturuprojektion nach fühlbar nach. Auch Mictacecihuatl (der aztekischen Göttin des Todes) oder der indischen Kali würde nman nur höchst ungern realiter begegnen (wie des dem Protagonisten von Dan Simmons Erstlingsroman Song of Kali von 1985 widerfährt). Der Protagonist jedenfalls bekennt frank, daß er auf ein Zusammentreffen mit all diesem "mythologischen Janhagel" (Arno Schmidt) sehr gut, wenn auch prosaisch/unpoetisch verzichten mag. Zumal er in jener Gegend wohnt, in welcher, vor recht gut 1220 zum erstenmal in dem, was auch heute noch als eine halbwegs intelligible Variante des Deutschen jene Frage des Abschwurs an die alten, drohenden heidnischen Götter formuliert wurde, als vom Probanden für den neuen Glauben auf die Frage des taufenden Priesters "Forsachistû diabolae end allum dioboles wercum?" die Antwort "end ec forsacho allum dioboles wercum and wordum, Thunaer ende Wôden ende Saxnôte ende allum thêm unholdum, thê hira genôtas sint" erwartet wurde.

U.E.

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