12. Juni 2020

Lord Dunsany, "Ost und West" (1916)

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Es herrschte tiefste Nacht, und es herrschte tiefster Winter. Ein kräftiger Sturm trieb nasse Schneeschauer von Osten heran. Der Wind heulte zwischen den langen, verdorrten Grashalmen. Auf der verlassenen dunklen Hochebene näherten sich zwei schwankende Lichtpunkte: ein Mann, der allein in einer Hansom-Kutsche über die Weiten Nordchinas rollte.

Allein mit dem Kutscher auf dem Bock und dem angekämpften Pferd. Der Kutscher hatte einen guten wasserdichten Regenumhang um die Schultern geworfen, aber der Fahrgast unten in der Kutsche trug nur Abendgarderobe. Er hatte das Kutschfenster nicht herabgezogen, weil das Pferd fortlaufend stolperte und zu stürzen drohte; der Schneeregen hatte seine Zigarre durchweicht und es war zu kalt, um Schlaf finden zu können. Die beiden Kutschlaternen blakten im Wind. Ein einsamer Mandschu-Hirte, der seine Herde vor den Wölfen bewachte, sah die Kutsche vorbeifahren, und im Licht einer flackernden Kerze, die das Wageninnere in flackernde Schatten tauchte, sah er zum ersten Mal in seinem Leben einen Abendanzug. Und obwohl das Licht nur schwach war, und der Anzug wie sein Träger durchnäßt war, war es, als würfe er einen Blick über ein ganzes Jahrtausend zurück, denn seine Kultur ist so viel älter als unsere, und sie haben dergleichen längst hinter sich gelassen.



Er sah der Kutsche gleichmütig nach, ohne sich groß über diese Neuerung zu wundern (wenn es denn überhaupt eine Neuerung für China war), und sann auf seine eigene Weise darüber nach, und als er dem Schatz seiner Lebensansicht das wenige hinzugefügt hatte, das dem Anblick einer Kutsch im nächtlichen Sturm abzugewinnen ist, kehrten seine Gedanken zu der Bedrohung durch die Wölfe zurück und zu dem Trost, der aus den uralten Legenden Chinas geschöpft werden kann, an die man sich zu diesem Behuf seit unvordenklichen Zeiten erinnert. Und in dieser Nacht bedurfte er dieses Trosts sehr. Er dachte an die Legende der Drachenfrau, die schöner als die schönsten Blumen war, deren Schönheit unter den Töchtern der Menschen keine gleichkam in ihrer menschlichen Gestalt, obwohl sie von einem Drachen gezeugt worden war, der aber seine Herkunft auf die Götter zurückzuführen wußte, die zu Anbeginn der Zeiten geherrscht hatten, und die deswegen in jeder Hinsicht von göttlicher Art war, wie ihre ältesten Vorfahren, die erhabener waren als der Kaiser.

Eines Tages war sie aus ihrer Heimat gekommen, aus einem hochgelegenen, wiesenbestandenen Tal in den Bergen, über die Pässe war sie herabgekommen, und die Felsen am Randweg, an denen sie vorbeikam, hatten wie Glocken geläutet, wie silberne feine Glöckchen, als sie auf ihren nackten Füßen vorbeischritt, und es klang wie die Karawane eines Prinzen, die am Abend heimkehrt - wenn ihre Glocken klingen und sich die Menschen im Dorf am ihren Klang freuen. Sie war aus den Bergen herabgekommen, um den Mohn zu pflücken, der auf einer verborgenen Wiese am Fuß der Berge wuchs (und dort bis zum heutigen Tag wächst) - und dem eine wunderbare Macht innewohnt. Sollte es gelingen, ihn zu pflücken, wird allen Menschen im Osten das Glück zuteil, Sieg ohne Kampf, ein guter Lohn und ein Leben ohne Plage. So kam sie in leuchtender Schönheit den Berg hinab, und als diese Legende dem Hirten in der bittersten Nachtkälte, die der Morgendämmerung vorausgeht, durch den Kopf ging, erschienen zwei Lichter in der Ferne und eine weitere Hansom-Kutsche fuhr an ihm vorbei.

Der Passagier in der zweiten Kutsche war ebenso gekleidet wie der erste; er war noch durchnässter, denn der nasse Schnne war die ganze Nacht über gefallen, aber ein Abendanzug ist überall auf der Welt derselbe Abendanzug. Der Kutscher trug den gleichen Ölhut und den gleichen Mackintosh wie sein Vorgänger. Als die Kutsche vorbeigerattert war, verschluckte die Dunkelheit die beiden Lichtpunkte der Laternen, der Schnnematsch zurück schwappte in die Wagenspuren, und es blieb nichts zurück als die ratlose Frage des Hirten, was eine Hansomkutsche in diesem Teil Chinas zu suchen habe, und selbst diese war vergessen, als er an die alten Legenden zurückdachte, und sich den beständigeren Dingen widmete.

Der Sturm und die Kälte und die Dunkelheit vereinten noch einmal ihre Kräfte, und schüttelten die Knochen des Hirten durch und brachten seine Zähne in dem Kopf, der an die Blumen und die Legenden dachte, zum Klappern. Und dann brach der Morgen an. Mit einem Male wurden die runden Rücken der Schafe sichtbar, der Hirte zählte sie: in der Nacht war kein Wolf gekommen. Und im bleichen frühesten Morgenlicht näherte sich die dritte Hansomkutsche, deren Laternen noch brannten, ein lächerlicher Anblick im beginnenden Tageslicht. Wie die anderen und wie der Schnee kam auch sie von Osten und fuhr Richtung Westen, und auch der Passagier der dritten Kutsche trug Abendgarderobe.

In aller Ruhe, ohne Neugierde, und mit noch weniger Erstaunen, aber dafür wie ein Mann, der bereit ist, alles anzuschauen, was ihm das Leben zu zeigen hat, harrte der Mandschu-Hirte vier weitere Stunden auf seinem Fleck aus, um zu sehen, ob eine weitere Kutsche vorbeikommen würde. Das Schneetreiben und der Ostwind hielten an. Und nach dem Ablauf von vier Stunden erschien eine weitere. Der Kutscher trieb sein Pferd nach Kräften an, als wenn er jeden Moment des Tageslichts ausnutzen wollte, sein Regenumhang flatterte wild im Wind, und in der Kutsche wurde ein Passager in Abendgarderobe vom Stoßen und Schwanken des Fahrzeugs wild hin und her geworfen.

Es handelte sich natürlich um das berühmte Kutschenrennen von Pittsburgh nach Piccadilly, das den längeren Weg um den Erdball gewählt hatte, das mit einer Wette beim Dinner in Mr. Flagdrops Residenz begonnen hatte, und das von Mr. Kragg gewonnen wurde, der den Ehrenwerten Alfred Fortescue fuhr, dessen Vater, wie allgemein bekannt, Hagar Dermstein war, und der (vermittels Adelsurkunde) zu Sir Edgar Fortescue, und schließlich sogar Lord St. George erhoben wurde.

Der Mandschu-Hirte wartete an seinem Fleck, bis der Abend hereinbrach, und als er sah, keine keine weitere Kutsche mehr vorbeikommen würde, machte er sich auf den Weg zu seiner heimatlichen Hütte.

Der Reis, der für ihn bereitet war, war heiß und tat ihm gut, besonders nach der bitteren Kälte des nassen Schnees. Und als er seine Mahlzeit beendet hatte, überdachte er noch einmal, was er gesehen hatte, rief sich jeder Einzelheit der Kutschen wieder vor Augen, und seine Gedanken wanderten zurück in die glorreiche Geschichte Chinas, und weiter zu jenen unruhigen Zeiten, bevor die Ruhe einkehrte, und noch weiter zurück zu jenen glücklichen Tagen, als die Götter und die Drachen noch auf Erden wohnten und China noch jung war, und er zündete seine Opiumpfeife an und richtete seine Gedanken in die Zukunft und träumte von den Tagen, wenn die Drachen wieder zurückkehren werden.

Lange Zeit versank sein Geist in so einer tiefen Ruhe, daß sich kein Gedanke regte, und als er wieder daraus erwachte, war die Erschöpfung von ihm abgefallen, wie man aus einem Bad steigt, erfrischt, gesäubert und zufrieden, und er verbannte aus seinen Gedanken all das, was er draußen auf der Steppe gesehen hatte als schlechte Erscheinungen, von der Art von Träumen, von Trugbildern, die Folge von nutzlosem Eifer, der die Ruhe zerstört. Und er wandte seine Gedanken der Gestalt Gottes zu, dem Einen, dem Unbekannten, der auf der Lotosblume sitzt, dessen Gestalt die Gestalt des Friedens ist, und dessen Wesen in der Verneinung allen Tuns besteht, und stattete ihm Dank ab, daß er alle schlechten Gebräuche aus China nach dem Westen verbannt hatte, wie eine Hausfrau den Abfall und den Schmutz aus ihrem Korb mit großer Geste in den Garten der Nachbarin schleudert.

Und von der Dankbarkeit wandte er sich wieder der Seelenruhe zu, und von der Seelenruhe dem Schlaf.

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"East and West" erschien zuerst im Frühjahr 1916 in der zweiten der beiden Ausgaben des kleinen "literarischen Magazins" The Fabulist, und in Buchform zuerst im November 1919 in der Sammlung Tales of Three Hemispheres.

Die pferdebespannte Wettfahrt von Pittsburgh nach Piccadilly (die Wahl der beiden Endpunkte dürfte sich dem Stabreim verdanken) findet sich natürlich nicht in den Annalen sportlicher Unternehmungen à la Phileas Fogg; Anregung dürften für den Autor die beiden größten Langstrecken-Wettfahrten aus der Morgenröte des Automobilsports gewesen sein: das Autorennen von Peking nach Paris über eine Distanz von 16.000 Kilometern im Jahr 1907 und speziell das Rennen von New York bis Paris im Jahr darauf. (Nonimell gestartet waren die sechs Teams am 12. Februar 1908 am Times Square; das deutsche Team unter Hans Köppen traf zuerst, am 26. Juli, in Paris ein, erhielt aber 30 Tage Strafe zugerechnet, weil sie bei der Pazifik-Passage mit dem Schiff direkt von Anchorage nach Wladiwostok  gefahren waren und die Etappe Japan ausgelassen hatten, und zudem ihren liegengebliebenen Wagen einige hundert Kilometer mit dem Zug transportiert hatten, bis sie jemanden fanden, der die nötigen Schmiedearbeiten erledigen konnte. Offizeller Gewinner der Tour war das amerikanische Team unter George Schuster. Im Zug der Berichterstattung über dieses zweiten Rennen fanden die Schwierigkeiten große Beachtung, die die Teams wegen der Schneeschmelze und dem beständigen schlechten Wetter im Süden Sibiriens (falls man das nicht als Oxymoron verbuchen möchte) und der Mandschurei hatten. (Im Kontext "Blick über ein Jahrtausend" erinnert das an jenen ersten Worte, die Herbert Rosendorfers Mandarin Kao-tei erlernt, nachdem es ihn (in den Briefen in die chinesische Vergangenheit) aus der Ming-Dynastie ins München des ausgehenden 20. Jahrhunderts als hilfreiche Wendung erlernt. In Min-chen begrüßt man einander in aller Regel mit "Schei-we-ta!"

Zwei kleine Adnoten: der Protokollant, Pedant der er ist, vermerkt, daß zwar viele der Bewohner der Inneren Mongolei, sich westlich an Beijing anschließt, traditionell Buddhisten sind, und daß der Buddha Amida/Amitabha tatsächlich, zumindest in den volkstümlichen Überlieferungen und Darstellungen, als im Paradies des Westens auf einem Lotos sitzend, dargestellt wird. Aber natürlich ist Buddha eben nicht Gott gleichzusetzen; das Ziel der Erkenntnis ist nicht das ewige Leben, sondern das Gegenteil: die Erlösung vom Rad des Samsara, des ewigen Kreislaufs der Wiedergeburten. Die Schwierigkeiten, den christlichen (bzw. westlichen) Begriff "Gott" adäquat ins Chinesische (und vorher, vor dem Beginn der Meiji-Zeit, ins Japanische) zu übertragen, ziehen sich durch die frühen Übersetzungen der Bibel zwischen 1820 und 1850. Oft entschieden sich die frühen Missionare für den Begriff 道 / dào - Tao, gemäß der Bibelstelle Joh. 14,6: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (der Begriff 天 / tiān bot sich nicht an, weil er zum einen in der chinesischen sozialen und politischen Ordnung des Kaiserreichs eindeutig besetzt war, und weil der "Himmel", oder auch "das höchste, das oberste" eben die Idee einer feststehenden Rechtsordnung zur Ordnung der menschlichen Gegebenheiten wie der Naturerscheinungen, und keinen Gott, dem Handeln oder Personifikation zukommt.)

Und natürlich könnte die Chinoiserie des "ewigen Friedens" für das Reich der Mitte nicht mehr neben der tatsächlichen historischen Realität liegen. Für die letzten 800 Jahre des chinesischen Kaiserreichs haben Historiker nicht ein einziges Jahr ausmachen können, in dem das Reich nicht von Bürgerkriegen, Seuchen, Hungersnöten, Aufständen, Rebellionen und anderen Kalamitäten heimgesucht wurde. Auch wenn es angesichts des unglaublichen und unvorstellbaren Blutzolls, den die Herrrschaft Maos gekostet hatte, als nicht "PC" gilt, ist der Anspruch der Partei, in China endlich nach Jahrhunderten wieder Ordnung und Ruhe zur Geltung gebracht zu haben, nicht in der üblichen Absolutheit von der Hand zu weisen. Daß China ab Ende der 18. Jahrhunderts als ein völlig unveränderliches, monolithisch jedem Fortschritt unzugängliches Reich galt, war den negativen Erfahrungen des Westens geschuldet, aber auch dies war, wen auch ein verkürztes Zerrbild, nicht absolut falsch. Und natürlich war genau dies auch die Einstellung der chinesischen Reformer ab dem Ende des 19. Jdts. wie Kang Youwei oder Lu Xun. 

Zweitens: beim Namen von Hagar Dermstein, der zum Lord Fortescue geadelt wird, dürfte es sich eher nicht um jene "gruppenspezifischen Vorbehalte" handeln, die heutigen Lesern wesentlich mehr aufstoßen als den Zeitgenossen ausgangs des 19. Jahrhunderts (also der Zeit, in der die Weltsicht des Autors von den sozialen und gesellschaftlichen Umständen geprägt wurden, in denen er aufwuchs). Dunsany ist für seine Zeit bemerkenswert frei von jedem antisemitischen Impetus (anders als etwa sein eine Generation jüngere Zunftkollege Lovecraft); es gibt in einigen Erzählungen ironische Randbemerkungen ("who had been a butcher before he decided to live a life of adventure, which was not the common lot of his people"), aber sie unterscheiden sich nicht vom sanften Spott, mit dem ein ironisch grundierter Verfasser auf das bunte Narrentreiben seiner Mitmenschen blickt, vor allem aus der Abgeschiedenheit traditionell gesicherten Landlebens auf die rastlose Hektik großstädtischer Parvenus. Die Dunsanys, bzw. Plunketts waren (und sind) eine die zweitälteste noch bestehende Adelsfamilie Irlands, die ihre Linie bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts (genauer: seit 1439) zurückverfolgen können (unser Lord, Edward Drax Moreton Plunkett, war der 18. Träger dieses Titels; der gegenwärtige Lord Dunsany, Randal Plunkett, ist seit Mai 2011 der 21. Baron von Dunsany. Der erste erbliche Adelstitel, der, unter Königin Viktoria, an einen Juden verliehen wurden, nachdem die jahrhundertelange Verbannung ab Ende des 13. Jahrhunderts ab Mitte der 17. Jahrhunderts vor allem für Mitglieder sephardischer Familien von der iberischen Halbinsel aufgehoben worden war (die erste Neugründung einer Synagoge in London erfolgte 1664), erfolgte 1841 an Isaac Lyon Goldsmid.





U.E.

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