30. Juni 2020

Jonathan Swift, "On Stella's Birthday" / "Auf Stellas Geburtstag" (1719)

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(Esther Johnson, "Stella," 1681-1728; unbekannter Künstler)


"On Stella's Birth-Day"

Written 1718/19

Stella this Day is thirty four,
(We won't dispute a Year or more)
However Stella, be not troubled,
Although thy Size and Years are doubled,
Since first I saw Thee at Sixteen
The brightest Virgin of the Green,
So little is thy Form declin'd
Made up so largely in thy Mind.
Oh, would it please the Gods to split
Thy Beauty, Size, and Years, and Wit,
No Age could furnish out a Pair
Of Nymphs so gracefull, Wise and fair
With half the Lustre of Your Eyes,
With half thy Wit, thy Years and Size:
And then before it grew too late,
How should I beg of gentle Fate,
(That either Nymph might have her Swain,)
To split my Worship too in twain.



"Auf Stellas Geburtstag"

Stella wird heute vierunddreißig.
(Ein, zwei Jahr übergeh'n wir fleißig.)
Doch, Stella, sei nicht zu verdrossen
Daß Alter und Gewicht hochschossen
Seit ich dich einst mit sechzehn fand
- die schönste Maid im ganzen Land -,
Weil deine Schönheit kaum vergeht,
Die hauptsächlich im Geist entsteht.
Sollt' es die Götter amüsieren
Auf zwei Portionen zu halbieren
Dein Alter, Schönheit, deinen Witz,
Das Feuer, das im Auge blitzt:
Zu keiner Zeit würd's bei dergleichen
Für zwei solch edle Nymphen reichen.
Ich würd' vom Schicksal dies begehren
(Um beide als Galan zu ehren):
Es möge sich damit beeilen
Auch meine Verehrung zweizuteilen.

- Jonathan Swift; geschrieben 1719

Zu den "klassischen" Liebesbeziehungen der englischen Literaturgeschichte - unaufgeklärt und der Natur der Dokumentenlage nach auch niemals aufklärbar - zählt das Verhältnis von Jonathan Swift zu seiner Muse Esther Johnson, von ihm "Stella" genannt (daß dieser Name seither im englischen Sprachbereich als zwar nicht häufig, aber eben doch vorkommender Vorname figuriert, verdankt sich dieser Konstellation). Geischert ist, daß er ihr zuerst Ende der 1780er Jahre im südenglischen Landsitz von Sir William Temple begegnet ist, wo sie nach dem Tod ihrer Eltern aufwuchs, als sie acht Jahre alt war; daß sie ihm zuerst auffiel, als Swift zum zweiten Mal 1797 den Posten von Temples Privatsekretär übernahm und daß ihre Bekanntschaft ab diesem Zeitpunkt eng war; nach Temples Tod siedelte sie zusammen mit Temples Nichte Rebecca Dingley, die ihre engste Freundin war, nach Dublin über. Als Swift, nach einigen ersten Missionen, um in der Londoner Kirchenadministration der anglikanischen Kirche 1710 dauerhaft nach London übersiedelte, um sich dort im publizistischen und politischen Tagesgeschehen zu engagieren, berichtete Swift über die politischen Winkelzüge, den Tagesklatsch und seine persönlichen Umstände fast täglich in Briefen nach Dublin, die seit ihrer ersten Veröffentlichung 1766 als das Journal to Stella bekannt sind (im Deutschen zumeist als "Tagebuch in Briefen" übersetzt) und die, gerade weil sie aus der Binnenperspektive eines Beteiligten und in all diese Schachzüge Eingeweihten stammen, für Zeithistoriker von unschätzbarem Wert sind. Nachdem sich Swifts Hoffnungen auf eine Kirchenkarriere in England selbst für seine geleisteten publizistischen Dienste nach dem Sturz von Schatzkanzler Robert Harley durch Henry St. John, den ersten Viscount Bolingbroke, weniger als eine Woche vor dem Tod Königin Annes am 1. August 1714 und der Thronbesteigung Georgs I. zerschlagen hatte (daß Swifts Autorschaft des "Windsor Prophecy" bei Hof kein Geheimnis war, trug entscheidend dazu bei) und er "weit ab vom Schuß" mit dem Posten als Dechant der St. Patrick's-Kathedrale in Irland "kaltgestellt" worden war, lebten Esther Johnson und Rebecca Dingley in einem eigenen Flügel des Dubliner Pfarrhauses, der "Deanery".




(Margaret Isabel Dicksee (1858-1903), "Swift and Stella," Munsey's Magazine, November 1897)

Warum Swift Stella nie geheiratet hat, ist eines jener Rätsel, an denen sich das Interesse von Swifts Biographen und denen, die romantische Liebesrätsel im historischen Gewand schätzen, immer wieder festmacht. Seit Swifts ersten Biographien aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hält sich das Gerücht, im Jahr 1716 sei durch Swifts alten Freund St. George Ashe, den Bischof von Clougher, eine "heimliche Eheschließung", ohne Trauzeugen und unter Gebot strikter Geheimhaltung erfolgt. Auf der anderen Seite steht das ebenso unbelegbare Gerücht, sowohl bei Esther Johnson als auch bei Swift habe es sich um unheleliche Kinder von Sir William Temple gehandelt, ein Geheimnis, in das erst Swifts Vorsitzender, den irische Erzbischof William King, diesen eingeweiht habe, als Swift um eine Heiratserlaubnis nachgesucht habe. Walter Scott - jawohl: DER Walter Scott - berichtet in seiner Biographie Swifts von 1811, die als erster Band der von ihm in zwanzig Bänden besorgten Gesamtausgabe der Werke vorausgestellt ist und für die Scott auf zahlreiche Dokumente zurückgreifen konnte, die spätern Biographen nicht mehr zur Verfügung standen, Swifts Freund Patrick Delany (1686-1786) habe einmal bei einem im Amtsitz des Erzbischofs Swift angetroffen, wie er tränenüberströmt aus dessen Arbeitszimmer gestürzt sei; King habe Delany erklärt; "Sie haben gerade den unglücklichsten Menschen gesehen, den es auf Erden gibt; aber Sie dürfen niemals nach dem Grund für sein Unglück fragen!" Das 19. Jahrhundert, das in Swift eher einen Menschenfeind, wenn nicht gar einen pathologischen, auf jeden Fall moralisch fragwürdigen Charakter zu sehen geneigt war, nahm seine "Abweisung" Stellas lieber als Ausweis für diese Einschätzung.

(Es scheint für solche literarischen Herzensangelegenheiten bezeichnend, daß, egal, wie sich die Sache "in Wirklichkeit" verhalten haben mag, daß es weder für die Deutung der biographischen Umstände noch gar für das Werk selbst von der geringsten Bedeutung wäre, wenn neue Dokumente hier die Waagschale nach der einen oder anderen Seite hin senkten. Nicht einmal die sich beständig haltende Fraktion, die man zeitgemäß als "Shakespeare-Leugner" bezeichnen könnte, hat sich je groß damit beschäftigt, was es denn für die heutige Rezeption, für unser Verständnis der Werke und für die Aufführungspraxis bedeuten würde, wenn sich erweisen sollte, daß "Hamlet" oder der "Sommernachtstraum", "Romeo und Julia" oder "Othello" nicht von einem ungebildeten Handschuhmachersohn aus einem vergessenen Provinznest, sondern tatsächlich vom Grafen von Essex oder Francis Bacon verfaßt worden wären. Es ist schade, daß der Campus-Roman sensu David Lodge oder A. S. Byatt mittlerweile auch eine nicht länger geflegte literarische Kleingattung darstellt; hier würde sich ein dankbares Sujet anbieten. Apropos literarisches Sujet: zum zentralen Thema eines literarischen Werks ist das Verhältnis Swifts und den "beiden Esthers" - Esther Johnson und der sich in den 1720er ergebenden Freundschaft mit Esther Vanhomrigh, von Swift "Vanessa" genannt, die das Verhältnis zu Stella empfindlich belastete, nur in wenigen Werken geworden: etwa in Elizabeth Myers' The Basilisk of St. James von 1945 oder William Butler Yeats' einaktigem Drama The Words upon the Window Pane (im Dubliner Abbey Theatre im November 1930 uraufgeführt), in dem, Yeats' spiritistischen Neigungen seiner letzten Lebensjahrzehnte gemäß, die Geister von Swift und Stella in der Gegenwart beschworen werden.)





(John Everett Millais, "Stella," 1868)

Ab dem Jahr 1719 verfaßte Swift jedes Jahr bei der Gelegenheit von Stellas Geburtstag  am 13. März ein Gedicht für sie, von denen "On Stella's Birthday" das erste Beispiel darstellt (da Esther Johnson in jenem Jahr 38 wurde, hat Swift tatsächlich "ein paar Jahre" mit dem Mantel der Höflichkeit übergangen). Die merkwürdig anmutende Datumsangabe (in der von Herbert Davis besorgten Ausgabe der Poetical Works, die 1967 bei der Oxford University erschienen ist und die ich als Textgrundlage genommen habe, lautet die zeichengenaue Angabe "Written AD. 1718-[19]") verdankt sich der Besonderheit des in England - und den englisch verwalteten Gebieten wie Irland oder den 13 Kolonien an der Nordküste der Neuen Welt - benutzen Kalenders, die die Jahreszählung anhand des Jahresbeginns umschaltete, die bis Mitte der 1720er Jahre mit dem Frühlingsbeginn zusammenfiel. Um aber Unklarheiten bei Datumsangaben wie "Februar 1718" zu vermeiden (1718 oder doch 1719?), war es seit den 1690er Jahren üblich, während der ersten elf Wochen des neuen Jahres eine "doppelte" Jahresangabe in Dokumenten und Briefen zu verwenden, um Mißverständmisse auszuschließen; bei heutigen Literaturhistorikern führt diese Praxis mitunter zu Verwunderung, warum man "in jenen Jahren" nicht gewußt habe, welches Jahr man aktuell schreibe. Such is life....

Es handelt sich hier übrigens um die erste Übersetzung des kleinen Gedichts ins Deutsche.

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PS. Bei den Konterfeis Esther Johnsons handelt es sich um spätere Idealporträts. Es gibt kein bekanntes Gemälde, keinen Stich, keine Zeichnung, von dem mit Sicherheit gesagt werden kann, daß es sie zeigt. Und doch... Vor einigen Jahren, genauer: aus Anlaß des dreihundertsten Geburtstags des Dechanten von St. Patrick im November 2017, unternahm das irische Human Remains Services Institute (HRSI), das sich mit der forensischen Rekonstruktion des Aussehens früherer Bewohner aufgrund von Skelett- und Schädelfunde befaßt, unter der Leitung von Dr. Christopher Rynn von der Universität Dundee den Versuch, das "wirkliche" Aussehen Swifts wie Stellas zu ermitteln. Für Swift stand ihnen dafür zum einen die Totenmaske zur Verfügung, die sich heute im Long Room von Trinity College in Dublin befindet, aber auch, wie im Fall von Stella, der Abguß des Totenschädels aus dem Jahr 1835, als die die sterblichen Überreste derer, die in der St-Patricks-Kathedrale bestattet worden waren, gesammelt, gesichtet und neubeigesetzt wurden, nachdem eine Überschwemmung die Gruften verwüstet hatte (beide Schädelabgüsse sind übrigens zu besichtigen: Swifts in der Kathedrale, in der neben seiner bekannten lateinischen Grabinschrift eine kleine Vitrine seinem Andenken gewidmet ist, Esthers in Marsh's Library, der ältesten öffentlichen Bibliothek Dublins, direkt neben der Kathedrale gelegen. Die Rekonstruktion erfolgte aufgrund einer CT-Vermessung der Abgüsse und der Totenmaske und der Ergänzung der Muskelstränge und Hautpartien durch die bei langjährigen forensischen Untersuchungen gesammelten Erfahrungswerte.






U.E.

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