30. September 2010

Zettels Meckerecke: Wie schätzt die Chefredaktion der "Zeit" die Intelligenz ihrer potentiellen Leser ein? Lesen Sie und staunen Sie!

Wer als Mitglied der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) in den letzten Wochen sein Buchpaket auspackte, dem konnte es geschehen, daß er darin nicht nur das Bestellte fand, sondern auch einen Brief. Einen Brief vom Chefredakteur der "Zeit" Giovanni di Lorenzo.

Überschrieben ist das Schreiben mit "Die Chefredaktion der ZEIT bittet Sie als Mitglied der WBG um Ihre Meinung". Ja, warum auch nicht.

Eine - vom Chefredakteur so bezeichnete - "große Umfrage" folgt sodann. Naja, groß. Es sind genau fünf Fragen.

Gefragt wird zuerst, welche der 9 Hauptressorts besonders interessieren, beispielsweise Wirtschaft, Wissenschaft, Feuilleton. So weit, so gut. Aber dann kommt's.

Dann kommt's knüppeldicke; oder sagen wir: strohdumm.

Frage zwei:
Aus vielen Leserbriefen weiß die Redaktion, dass die Hintergrundinformationen der ZEIT sehr geschätzt werden. Haben erklärende Artikel in unserer schnelllebigen Zeit eine Berechtigung?
  • Ja, denn eine Nachricht allein sagt nicht viel aus. Man muss den Zusammenhang verstehen.

  • Nein, kurze Meldungen reichen für die Allgemeinbildung.
  • Wie bescheuert muß jemand sein, wenn er die zweite Alternative ankreuzt, nachdem er zuvor schon belehrt wurde, daß "die Hintergrundinformationen der ZEIT sehr geschätzt werden"? Wie bar jeder Kenntnis muß wohl das Mitglied der WBG sein, das die "Zeit" für eine Art Newsticker hält?

    Aber gemach, Giovanni di Lorenzo läuft sich erst warm. Weiter geht es. Frage drei:
    Bei kontroversen Themen druckt die ZEIT im Gegensatz zu anderen Zeitungen unterschiedliche Meinungen ab. Wie beurteilen Sie diese journalistische Herangehensweise?
  • Finde ich sehr gut, da ich mir so ein eigenes Urteil bilden kann.

  • Finde ich nicht so gut, die ZEIT sollte immer einen einheitlichen Standpunkt vertreten.
  • Von wem der Befragten erwartet Giovanni di Lorenzo wohl, daß er die zweite Alternative ankreuzt; außer von denen, die spätestens jetzt merken, daß sie veräppelt werden? Und die das dann aus Daffke tun, die zweite Alternative ankreuzen?

    Diejenigen, die das Veräppeltwerden immer noch nicht gemerkt haben, werden erbarmungslos weiter auf ihren IQ getestet. Frage vier:
    Als besonderes Extra liegt der ZEIT jede Woche das ZEITmagazin mit unterhaltenden und emotionalen Inhalten bei. Spricht sie das an?
  • Packende Reportagen, spannende Rätsel und humorvolle Kolumnen sind eine ideale Ergänzung zu den übrigen Ressorts der ZEIT.

  • Der unterhaltsame Stil des Magazins passt nicht zum eher ernsthaften Anspruch der ZEIT.
  • Und schließlich als krönender Abschluß der "großen Umfrage" noch eine Frage, so richtig zum Nachdenken:
    Welche Eigenschaften verbinden Sie mit der ZEIT heute? (Mehrfachnennungen möglich):
  • Unabhängig

  • Glaubwürdig

  • Unterhaltsam

  • Bildend

  • Überraschend

  • Aufklärend
  • Na, wie gut, daß da Mehrfachnennungen möglich sind. Sonst wäre es echt schwer geworden, der "Zeit" alle bis auf eine dieser Tugenden absprechen zu müssen. Die sie doch alle hat; oder zweifelt jemand daran?



    Nein, lieber Leser, ich meinerseits will Sie nicht veräppeln. Natürlich hat sich nicht Giovanni di Lorenzo diese "Umfrage" ausgedacht, sondern irgendwelche Werbefritzen. Leute, die vielleicht zuvor für Bettwäsche oder Tiernahrung geworben hatten.

    Diese mögen gute Erfahrungen damit gemacht haben, in einer Scheinbefragung den Lesern Scheinfragen zu stellen, die ihnen in Wahrheit Werbebotschaften vermitteln sollen. Vielleicht hat auch einer dieser Werbemenschen mal ein paar Semester Sozialpsychologie studiert und aufgeschnappt, daß man die Meinung von Menschen beeinflussen kann, indem man sie veranlaßt, bestimmten Aussagen zuzustimmen.

    Aber egal, wer sich dieses Werklein versuchter suggestiver Beeinflussung aus den Fingern gesogen hat - gezückt hat seinen Füller der Spitzenjournalist Giovanni di Lorenzo, um es zu unterschreiben und mit seiner Unterschrift dafür geradezustehen.

    Vor zwei Jahr war das noch anders gewesen.

    Da gab es schon einmal eine ähnliche "Umfrage" der "Zeit"; damals im Web und zum Thema Literatur. Auch dort wurden die Befragten behandelt, als entstammten sie allesamt den bildungsfernen Schichten. Ich habe das seinerzeit kommentiert (Zettels Meckerecke: Faszination Literatur? Für wie schwachsinnig die "Zeit" potentielle Leser hält; ZR vom 23. 9. 2008).

    Damals hat sich aber wenigstens nicht die Redaktion zu dieser Anmache auf Primitivniveau bekannt. Unterschrieben hat nicht der Chefredakteur, sondern der Geschäftsführer Dr. Rainer Esser.

    Damit wurde immerhin noch erkennbar, daß es nicht um Redaktionelles ging, sondern um Verkauf. Diese Schamschwelle ist jetzt auch noch gefallen. Der Chefredakteur betätigt sich als Klinkenputzer.



    Sie finden, daß ich zu streng urteile? Sie wollen entgegnen, so seien nun einmal die Sitten in unserer Konsumwelt?

    Aber es geht mir ja überhaupt nicht um diese Sitten, gegen die ich nichts habe. Es geht mir darum, wie die Redaktion der "Zeit", wie ihr Chef di Lorenzo die Intelligenz derer einschätzen, die sie gern als Leser gewinnen möchten.

    Und an deren Auffassungsgabe sich das Blatt ja irgendwie auch anpassen muß, wenn es sie nicht wieder als Leser verlieren möchte. Achten Sie einmal darauf.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Lois Jane, der ich die Anregung zu diesem Artikel und eine Kopie des Fragebogens verdanke; sowie an tekstballonnetje für die Erinnerung an den Beitrag von 2008, dessen Erwähnung ich nachträglich in diesen Artikel aufgenommen habe.

    Zitat des Tages: "Die Tea Party hat sich zu einer starken Kraft in der amerikanischen Politik entwickelt"

    The tea party has emerged as a potent force in American politics and a center of gravity within the Republican Party, with a large majority of Republicans showing an affinity for the movement that has repeatedly bucked the GOP leadership this year, a new Wall Street Journal/NBC News poll has found.

    In the survey, 71% of Republicans described themselves as tea-party supporters, saying they had a favorable image of the movement or hoped tea- party candidates would do well in the Nov. 2 elections.


    (Die Tea Party hat sich zu einer starken Kraft in der amerikanischen Politik und einem Gravitationszentrum innerhalb der Republikanischen Partei entwickelt. Eine große Mehrheit der Republikaner zeigt Nähe zu der Bewegung, die dieses Jahr bereits mehrfach der Führung der GOP [der Republikanischen Partei; Zettel] Paroli geboten hat. Dies ergab eine neue Umfrage für das Wall Street Journal und NBC News.

    In der Umfrage bezeichneten sich 71% der Republikaner als Anhänger der Tea-Party-Bewegung; sie gaben an, ein günstiges Bild von der Bewegung zu haben oder daß sie hofften, daß die Kandidaten der Tea Party bei den Wahlen am 2. November gut abschneiden würden.)

    Peter Wallsten und Danny Yadron gestern im Wall Street Journal.


    Kommentar: Nein, das ist keine "Bewegung vom rechten Rand der republikanischen Partei" (so die taz vor einem Monat), diese Tea-Party-Bewegung. Es sei denn, man ist der Auffassung, daß diese Partei zu mehr als zwei Dritteln aus Rand besteht. Bei einem Kuchen oder einer Pizza wäre das etwas ungewöhnlich; bei einer Partei nicht minder.

    Es ist vielmehr so, daß die - für amerikanische Verhältnisse - ausgesprochen linke Politik Präsident Obamas eine ausgesprochen konservative Gegenbewegung ausgelöst hat. Sie ist so wenig "radikal" oder "ultra", wie Präsident Obama ein Radikaler oder ein Ultra ist. Aber sie ist ausgeprägt konservativ, so wie Obama ausgeprägt links ist.

    Es wirkt hier so etwas wie ein politisches Pendant zum dritten Newton'schen Axiom: Je mehr Obama die Demokraten nach links zu führen versucht, umso mehr bewegen sich die Republikaner in die konservative Richtung.



    Die Einzelheiten der Umfrage können Sie sich hier ansehen.

    Es ist viel Interessantes dabei. Sarah Palin zum Beispiel erhält 30 Prozent Zustimmung (= man sieht sie "positiv" oder "sehr positiv"), aber 48 Prozent Ablehnung ("negativ" oder "sehr negativ").

    Das sieht schlecht für sie aus und dürfte wohl bedeuten, daß sie keine Chance hätte, im Jahr 2012 Präsident Obama zu schlagen. (Werte für diesen: 47 Prozent Zustimmung, 41 Prozent Ablehnung; das bezieht sich auf die Beurteilung seiner Person, nicht seiner Politik).

    Andererseits sollte man sich auch die Werte anderer Politiker ansehen. Nancy Pelosi zum Beispiel, leader (so etwas wie eine Fraktionsvorsitzende) der Demokraten im Repräsentantenhaus, erreicht nur 22 Prozent Zustimmung, erfährt aber sogar 50 Prozent Ablehnung. Und ihr demokratischer Kollege im Senat Harry Reid kommt auf ganze 15 Prozent Zustimmung, bei 30 Prozent Ablehnung.

    Im Vergleich mit diesen führenden Politikern schneidet Sarah Palin gar nicht so schlecht ab. Fast alle Politiker erfahren mehr Ablehnung als Zustimmung. Ausnahmen sind Bill Clinton, der schon die Werte eines elder statesman erreicht (55 Prozent Zustimmung, nur 23 Prozent Ablehnung) - und der mögliche Herausforderer von Obama, Mike Huckabee. Bei ihm halten sich Zustimmung (26 Prozent) und Ablehnung (25 Prozent) die Waage.

    Huckabee ist ein Mann des Ausgleichs und der pragmatischen Vernunft. Ein Mann, der die USA nach einem Scheitern Obamas wieder zusammenführen könnte; siehe Huckabee for President; ZR vom 13. August 2010.

    Und noch ein Ergebnis zu Obamas Gesundheitsreform: 40 Prozent würden es entschieden positiv bewerten ("strongly acceptable"), wenn diese Reform vom nächsten Kongreß wieder rückgängig gemacht werden würde; nur 31 Prozent würden das entschieden negativ bewerten ("strongly unacceptable"). Nimmt man diejenigen hinzu, deren Meinung weniger stark ausgeprägt ist, dann wären insgesamt 51 Prozent mit einer Aufhebung dieser Gesetze einverstanden, nur 39 Prozent nicht.

    Obama hat sich im Wahlkampf als der große Einiger der Nation dargestellt und ist als solcher gewählt worden. Selten hat ein Präsident die amerikanische Nation so gespalten wie Barack Obama.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    29. September 2010

    Kurioses, kurz kommentiert: "Monogamie ist ein eigenes Perversionsgenre". Wann ist Sex politisch gut? Und welchen Auftrag hat das Goethe-Institut?

    Politisch guter Sex ist streng genommen nicht mit Monogamie verträglich. Monogamie ist ein eigenes Perversionsgenre, da es die hegemoniale Form der Partnerschaft als patriarchale Besitzkonstellation affirmiert, die auch noch Sex an Reproduktion koppelt. Entzerrt also Sex von Liebe und etabliert den Seitensprung, bindet Dritte ein oder organisiert gemeinsame Orgien.

    Margarita Tsomou in "Jungle World" 38/2010 vom 23. September 2010.


    Kommentar: Ob das ernst gemeint sei oder Satire, fragt in Zettels kleinem Zimmer Dirk, dem ich den Hinweis auf dieses Kleinod verdanke.

    Ich habe mich das auch gefragt. Die Antwort lautet: Es ist ernst gemeint. Ernst gemeint ist nicht nur das obige Zitat, sondern beispielsweise auch diese Passage am Anfang des Artikels:
    Die weniger Glücklichen unter uns sind als (linke) heterosexuelle Biomänner geboren. (...) Etwas besser steht es um die Bio frauen. Die wurden wenigstens durch den Feminismus für Sexualitätsfragen sensibilisiert. Das meiste Potential haben Queers, denn die kommen nicht umhin, Sex jenseits der Hegemonie zu erfinden. (...) Sogenannter normaler Sex ist politisch unreflektierter Sex, ist schlechter Sex (...).
    Woher ich weiß, daß das keine Satire ist, die sich ein übermütiger Parodist linksalternativen Geschwafels ausgedacht hat?

    Weil es die Autorin Margarita Tsomou wirklich gibt, und weil sie öffentliche Auftritte veranstaltet, in denen sie just das dem Publikum nahezubringen versucht, was in dem Text steht. Am vergangenen Samstag zum Beispiel in Berlin. Auszug aus der Ankündigung:
    In "Nackte Agitation: Eine Nummernfolge" reflektiert Tsomou feminine Körperpraktiken als Gleichungen zwischen Arbeit und Konsum, Blickregime, Pro-Sex-Feminismus und der Normalisierung des Obszönen.
    Noch schöner ist das, was auf der WebSite eines Senders des ORF-Hörfunks zu lesen ist. Berichtet wird dort über ein "dreitägige[s] Performance-Festival Gender Pop Athens" in Athen:
    So gibt es im weitläufigen Areal des Veranstaltungsorts Bios eine große Bandbreite dessen zu sehen, was im Rahmen von Popkultur zeigt, dass Geschlecht nur eine soziale und keine natürliche Kategorie ist. Ob das nun eine musikalische Drag-King-Show von Eszter Salomon & Arantxa Martinez ist, die etwas ehrgeizige Sexiness der drei Newtonesken Frauen von Company, die performative Beschäftigung mit Celebrity-Culture von Who's Who?, die Thematisierung von Brustkrebs durch einen Mann (!) oder Konzerte des quirligen Namosh oder der Diskurs-Elektropopperinnen Rhythm King and her Friends - die anwesenden AthenerInnen nehmen es begeistert bis andächtig schweigend auf.
    Als "Kuratorin" dieses Ereignisses fungierte Margarita Tsomou.

    Und wer hat es gesponsert? Laut ORF wurde das Festival "gemeinsam mit dem Goethe-Institut auf die Beine gestellt".

    Was ist der Auftrag des Goethe-Instituts? Es beschreibt ihn selbst so:
    Wir fördern die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland und pflegen die internationale kulturelle Zusammenarbeit. Darüber hinaus vermitteln wir ein umfassendes Deutschlandbild durch Information über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben.
    Kurios, finden Sie nicht, wie man diesen Auftrag interpretieren kann?



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Dirk und Meister Petz.

    Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (4): Demographische Entwicklung und Geburtenziffer von Einwanderern - Teil 3: Sarrazins Szenarien

    In den bisherigen Folgen dieser Serie ging es mir darum, die Aussagen Sarrazins zur Intelligenz, zur Genetik und zur Demographie daraufhin zu untersuchen, ob sie dem Stand der Forschung entsprechen, oder ob sie durch empirische Erkenntnisse widerlegt werden.

    Es hat sich erwiesen, daß die Kritik an Sarrazin größtenteils nicht gerechtfertigt ist und daß sie auf mangelnde Kenntnisse der Kritiker in diesen Forschungsbereichen hindeutet; es sei denn, man nimmt an, daß Behauptungen wider besseres Wissen aufgestellt wurden.

    In diesem abschließenden Teil der letzten Folge der Serie geht es um Aussagen, die nicht einfach an Fakten geprüft werden können; nämlich um die Szenarien, die Thilo Sarrazin für die Entwicklung Deutschlands in diesem Jahrhundert entwirft.

    Ich habe den Begriff des Szenarios im ersten Teil erläutert. Sie werden die folgende Argumentation besser verstehen, wenn Sie diesen ersten und auch den zweiten Teil gelesen haben.

    Szenarien sind (oft, aber nicht unbedingt quantitative) Beschreibungen davon, wie es kommen könnte, aber nicht kommen muß. Seine quantitativen Szenarien nennt Sarrazin Modellrechnungen.

    Die gegenwärtig in der Öffentlichkeit meistdiskutierten Szenarien sind in einem ganz anderen Bereich die Klimamodelle; auch sie Modellrechnungen. Es kann, so besagen es diese Modelle, zu einer erheblichen globalen Erwärmung kommen. Man kann sie aber zumindest abmildern, wenn man bestimmte Maßnahmen ergreift.

    Solche Modellrechnungen sind - nochmals gesagt, weil Sarrazin in diesem Punkt notorisch mißverstanden wird - keine Prognosen. Die Frage bei einem Szenario ist nicht, ob das in ihm Ausgesagte eintreten wird; das weiß ja niemand. Die Frage ist vielmehr, ob hinreichend plausibel ist, daß es eintreten könnte.

    Trifft das zu, dann können solche Szenarien nützlich sein, indem sie uns zum Handeln auffordern. Mit dem möglichen Ergebnis, daß das betreffende Szenario dann nicht Wirklichkeit wird.



    Es ist ein häufiger Fall, daß sich - auf nationaler Ebene oder auch global - ungünstige Entwicklungen anbahnen, die lange Zeit übersehen werden; die vielleicht auch aus politischen Gründen bewußt negiert werden. Sie treten manchmal schlagartig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, wenn auf sie durch Szenarien aufmerksam gemacht wird.

    Das war beispielsweise in den USA Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts so, als der Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten am 4. Oktober 1957 den "Sputnik-Schock" auslöste. Es wurden daraufhin düstere Szenarien einer Entwicklung gezeichnet, in deren Verlauf die USA immer weiter hinter die UdSSR zurückfallen würden.

    Die Folge waren massive Reformen vor allem - aber nicht nur - im Bildungswesen; in den sechziger Jahren versuchte Präsident Lyndon Johnson mit seiner Vision der Great Society einen regelrechten Umbau der amerikanischen Gesellschaft.

    Ein Jahrzehnt später wurde eine weltweite Diskussion über Umwelt und Ressourcen durch den Bericht des "Club of Rome" "Die Grenzen des Wachstums" (1972) in Gang gesetzt.

    In Deutschland hat es eine ähnliche breite Diskussion gegeben, nachdem Georg Picht 1965 sein (aus einer Artikelserie im Jahr 1964 hervorgegangenes) Buch "Die deutsche Bildungskatastrophe" publiziert hatte.

    Er stieß damit eine Diskussion an, die bald weiter über das Bildungsthema hinausging. 1966 schrieb der Philosoph Karl Jaspers seinen Aufsatz "Wohin treibt die Bundesrepublik?", in dem er das beklemmende Szenario eines Landes entwarf, in dem eine "Parteienoligarchie" die Demokratie ersticken würde. Jaspers beschrieb auch treffend das Wesen eines solchen Szenarios:
    Tendenzen zeigen, bedeutet nicht voraussagen. Die Faktoren des politischen Geschehens sind so zahlreich, ja unendlich, die Zufälle so unberechenbar, daß Prophetie heute wie von jeher irregeht. Sie trifft zwar Tendenzen; wie weit aber diese wirklich werden (dann spricht man von richtigen Voraussagen), ist ungewiß und liegt auch noch an uns.
    Picht und Jaspers wurden damals als Mahner verstanden, die auf Gefahren für unsere Zukunft aufmerksam machten; mit düsteren, mit wohl bewußt pessimistischen Szenarien. Deren Zweck war ja das Aufrütteln.

    Nichts anderes will heute Thilo Sarrazin mit seinem Buch. Die Einleitung schließt er (S. 21) mit diesen Sätzen:
    Wie das meiste im Leben ist auch der Inhalt dieses Buches ambivalent: Die hier beschriebenen Trends nagen an den Wurzeln von materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität, aber es gibt immer Ansatzpunkte, manches zum Positiven zu wenden. Man muss es nur tun!
    Georg Picht und Karl Jaspers lösten mit ihren pessimistischen Szenarien öffentliche Diskussionen aus. Sie wurden kritisiert; wie auch anders. Aber man hat sie respektiert.

    Man hat ihre Argumente ernst genommen. Vieles wurde aufgenommen und politisch umgesetzt. Die großen Reformen des Bildungswesens in den siebziger Jahren und das "Mehr Demokratie wagen!" Willy Brandts im Jahr 1969 waren Antworten auf das, was Picht und Jaspers als Szenarien entworfen hatten.

    So hätte es auch Thilo Sarrazin verdient gehabt. Stattdessen fand etwas statt, das ich als einen der beschämendsten Vorgänge in der Geschichte der Bundesrepublik sehe: Der Mann, der ein differenziertes, nachdenkliches, faktenreiches und mahnendes Buch geschrieben hat, wurde diffamiert.



    Wie sehen nun die Szenarien aus, die Sarrazin entwirft?

    Entgegen dem Eindruck, der in der Kampagne gegen ihn erzeugt wurde, geht es ihm nicht in erster Linie um Einwanderung nach Deutschland und das Problem der Integration; sondern - ich habe das schon erwähnt - um die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes in diesem Jahrhundert.

    Diese sieht er durch eine Reihe von miteinander in Wechselwirkung stehende Tendenzen bedroht:
  • Die anhaltend niedrige Geburtenziffer in Deutschland

  • Die sich daraus ergebende Überalterung der Gesellschaft (wachsende "Altenlast")

  • Die weiter aus der geringen Geburtenrate folgende Schrumpfung des erwerbstätigen Teils der Bevölkerung, die nicht mehr durch eine wachsende Produktivität kompensiert werden kann; mit dem Ergebnis, daß unser Wohlstand sinkt.

  • Die Abnahme des Humankapitals, also der sehr gut Ausgebildeten, vor allem im Bereich der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik); damit ein Zurückfallen im globalen Wettbewerb

  • Das Anwachsen einer bildungsfernen Unterschicht

  • Innerhalb dieser Unterschicht die Zunahme des Anteils von Einwanderern aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika mit einerseits einer hohen Geburtenrate und andererseits einer unter dem Mittelwert liegenden durchschnittlichen Intelligenz, verbunden mit einer geringeren Bildungsbereitschaft

  • Dies mit der Möglichkeit, daß im Lauf des Jahrhunderts diese Einwanderer die Mehrheit der Bevölkerung stellen und damit Deutschland mit ihrer islamischen Kultur prägen werden.
  • Auf Seite 101 faßt Sarrazin das so zusammen:
    Im folgenden werde ich zeigen, welche Mängel und Fehlentwicklungen
    - bei der Armutsbekämpfung
    - der Organisation des Arbeitsmarktes und der Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik
    - in der Bildungspolitik
    - im Umgang mit Migration und Integration
    - in der Bevölkerungs- und Familienpolitik
    die bestehenden Negativtrends verursachen und Überlegungen anstellen, was man auf dem jeweiligen Politikfeld ändern kann.
    Sarrazin befaßt sich also mit einer Reihe von Entwicklungen, bei denen allerdings der Demographie eine Schlüsselrolle zukommt.

    Was ich jetzt zitiert habe, steht im dritten Kapitel des Buchs, betitelt "Zeichen des Verfalls". Dort beschreibt Sarrazin diese Tendenzen, ohne aber ein quantifiziertes Szenario zu entwickeln. Das tut er für die demographische Entwicklung jedoch im achten Kapitel "Demografie und Bevölkerungspolitik"; und zwar auf der Grundlage der Annahmen über die Geburtenziffer und Einwanderung, die ich im zweiten Teil beschrieben habe.



    Für die Geburtenziffer der einheimischen Bevölkerung in Deutschland nimmt Sarrazin an, daß sie bei dem Wert verharrt, den sie Ende der siebziger Jahre erreicht hatte und der seither weitgehend stabil geblieben ist; also 1,4.

    Für alle Einwanderer mit Ausnahme derer, die aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika kommen, nimmt Sarrazin eine Angleichung an diese deutsche Geburtenziffer an. Für die größtenteils moslemischen Einwanderer aus diesen Gebieten setzt er die Geburtenziffer bei 2,0 an.

    Wie wir im zweiten Teil gesehen haben, sind das Werte, die für die Gegenwart stimmen; derjenige für die Moslems liegt vielleicht sogar eher zu niedrig. Ob sie in den kommenden Jahrzehnten unverändert bleiben werden, weiß niemand. Sarrazin hebt das ausdrücklich hervor (Seite 359):
    Es handelt sich, das muß betont werden, ... um eine Modellrechnung und nicht um eine Prognose. Es gibt nämlich keine wissenschaftlich zuverlässige Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte verläßlich vorherzusagen.
    Aber deshalb ist es doch wichtig - so die Logik Sarrazins -, zu wissen, was passieren wird, wenn sich nichts ändert.

    Die jährliche Zuwanderung setzt Sarrazin mit 100.000 Personen an. Er nimmt an, daß diese Zuwanderer überwiegend aus moslemischen Ländern (Naher und Mittlerer Osten, Afrika) kommen werden, da die Einwanderungswellen der Gastarbeiter aus Süd- und Südosteuropa sowie die Einwanderung aus Ländern des ehemaligen Ostblocks weitgehend abgeschlossen seien (die letzere wegen der dort ebenfalls schrumpfenden Bevölkerung).

    Diese Zahl von 100.000 im Jahr ist verschiedentlich heftig kritisiert worden, u.a. in der erwähnten Titelgeschichte des "Spiegel". Sarrazin stützt sich aber (Tabelle 8.5, Seite 342) auf übereinstimmende Prognosen der UNO (für 2050 vorhergesagtes Wanderungssaldo: 110.000) und des Statistischen Bundesamts (für 2060 vorhergesagtes Wanderungssaldo: 100.000).

    Eine letzte Annahme Sarrazins betrifft die gegenwärtige Zahl der Moslems in Deutschland, die Sarrazin aufgrund des Mikrozensus 2007 auf 5,7 Millionen schätzt (S. 261).

    Das liegt höher als die häufig genannte Zahl von 4,0 Millionen Moslems. In der Tat war dies die Zahl, für die im Mikrozensus 2007 eine Zuordnung zu dieser Herkunftsregion (Naher und mittlere Osten, Afrika sowie Bosnien und Herzegowina) möglich gewesen war. Sarrazin verweist darauf, daß aber von den 15,4 Millionen erfaßten Einwanderern 4,7 Millionen wegen fehlender oder fehlerhafter Angaben gar keiner Religion oder einem Herkunfstgebiet zugeordnet werden konnten. Unter der Annahme, daß unter ihnen Moslems anteilig vertreten waren, errechnet er die Zahl von 5,7 Millionen Moslems in Deutschland.

    Macht man diese drei Annahmen, dann läßt sich ein Szenario für die folgenden Generationen errechnen. Sarrazin stellt es in Tabelle 8.9 auf Seite 359 dar:

    Innerhalb einer Generation wächst der Anteil der Einwanderer aus Nah- und Mittelost sowie Afrika bzw. ihrer Nachkommen auf 20,1 Prozent der Bevölkerung. In der nächsten Generation sind es 37,9 Prozent, sodann 56,2 und schließlich - in der vierten Generation von jetzt an - 71,5 Prozent.



    Was ist davon zu halten? Da es sich um ein Szenario handelt, kann man diese Daten nicht richtig oder falsch nennen. Man kann nur abzuschätzen versuchen, wie plausibel sie sind. Im folgenden kommentiere ich deshalb - auch als Abschluß dieser Serie - aus meiner eigenen Sicht:

    Die von Sarrazin angenommene Zahl von jährlich 100.000 moslemischen Einwanderern ist problematisch.

    Nicht nur, weil er die höchst unsicheren Prognosen der UNO und des Statistischen Bundesamts übernimmt (wo sollte er freilich andere Zahlen herbekommen?) und des weiteren unterstellt, daß diese Einwanderer nahezu ausschließlich aus dem islamischen Raum kommen werden.

    Sondern es liegt in der Natur der Zuwanderung, daß sie kaum zu prognostizieren ist. Anders als die Geburtenziffer hängt sie von Faktoren ab, die sich schnell ändern können; beispielsweise von Kriegen oder Revolutionen und der Entwicklung der wirtschaftlichen Prosperität, natürlich auch von den Einwanderungsgesetzen.

    Auch die Frage eines EU-Beitritts der Türkei (auf die Sarrazin nicht eingeht) wird eine entscheidende Rolle spielen; nach einer Aufnahme der Türkei dürfte die Zuwanderung von dort, da sie mittelfristig keinen Einschränkungen unterliegen würde, sprunghaft ansteigen.

    Wenn - wie es der "Spiegel" in der zitierten Titelgeschichte hervorhebt -gegenwärtig sogar mehr Türken aus Deutschland in die Türkei zurückkehren, als von dort einwandern, so ist das freilich in der Regel die Rückkehr von gut qualifizierte Personen, die sich mit ihrer in Deutschland erworbenen Ausbildung beste Chancen in der Türkei ausrechnen können; während die Einwanderung nach Deutschland überwiegend durch schlecht oder gar nicht beruflich Qualifizierte stattfindet, beispielsweiese Bräute hier lebender junger Türken. Also eher ein Grund zu einer weiteren Besorgnis als zur Erleichterung.

    Was die Geburtenziffern angeht, so lassen sich besser begründete Vermutungen anstellen als zum Wanderungssaldo.

    Die Geburtenziffer der einheimischen deutschen Bevölkerung liegt, wie erwähnt, seit den siebziger Jahren konstant bei 1,4. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in den kommenden Jahrzehnten spontan ändern wird. Jedenfalls gibt es dafür keine Indikatoren. Mit einer gezielten Bevölkerungspolitik könnte man sie vielleicht beeinflussen. Aber schon dieses Wort ist ja tabuisiert.

    Ebenso gibt es keine Hinweise darauf, daß die Geburtenziffer der eingewanderten Moslems sich diesem extrem niedrigen Wert angleichen wird, der sich in Deutschland aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche der siebziger Jahre herausgebildet hat (siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).

    Dafür, daß es nicht zu einer Angleichung an die extreme deutsche Geburtenziffer kommen wird, sprechen nicht nur die von Milewski analysierten Daten, sondern dafür spricht auch der Umstand, daß die Geburtenziffer von der Religiosität abhängt. Sarrazin verweist hierzu auf die eingehenden Untersuchungen des Religionssoziologen Michael Blume (Seiten 318f und 368f). Religiöse haben mehr Kinder als nicht Religiöse; und das liegt nicht daran, daß es gemeinsame Faktoren gibt, die für sowohl Religiosität als auch Kinderreichtum verantwortlich sind.

    Die deutsche Geburtenziffer ist hauptsächlich deshalb so niedrig, weil es einen hohen Anteil an kinderlosen Frauen vor allem in der (nach Bildung) oberen Schicht gibt. Ich kenne keinen Hinweis darauf, daß sich ein ähnliches Phänomen bei den moslemischen Einwanderern entwickeln würde.

    Hat Sarrazin also Recht, hat er Unrecht?

    Hatte Georg Picht Recht, Karl Jaspers, der Club of Rome? Die von ihnen entworfenen Szenarien sind überwiegend bisher nicht eingetreten. Deshalb waren sie aber nicht falsch; was Szenarien ja nicht sein können. Man hat Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß diese Szenarien Wirklichkeit werden würden.

    Sarrazin schlägt eine ganze Batterie von Maßnahmen vor, mit denen man einer Entwicklung, in der seine Szenarien Realität werden würden, entgegenwirken kann; sie zu besprechen ginge über den Rahmen dieser Serie hinaus.

    Wenn Sie allerdings meinen, Sarrazin sei zu pessimistisch, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre dessen, was ich im März zu den Analysen des Bremer Soziologen, Ökonomen und Demographen Gunnar Heinsohn geschrieben habe. Gegen das, was Heinsohn erwartet, ist Sarrazins Buch ein Quell der Hoffnung.



    Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet.

    28. September 2010

    Marginalie: Das erste faire Interview mit Thilo Sarrazin. Und wer hat's möglich gemacht? Die Schweizer. Nebst einer Anregung

    Jetzt ist es also doch passiert: Der Verfemte wurde im Fernsehen wie ein Mensch behandelt, also mit Respekt.

    Genau vier Wochen nach der Pressekonferenz, auf der er am 30. August sein Buch vorstellte, hatte Thilos Sarrazin jetzt erstmals Gelegenheit, sich in einem Interview im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu äußern.

    In einem Interview, in dem man ihn nicht vorführen und fertigmachen wollte, sondern in dem er ruhig zur Sache und zur Person befragt wurde. Von einem Interviewer, der mit kritischen Einwänden nicht sparte. Aber er trug sie vor als ein Gesprächspartner und nicht wie ein Inquisitor.

    Vermutlich ist Thilo Sarrazin der erste deutsche Autor eines sensationellen Bestsellers seit Gründung der Bundesrepublik, der auf ein solches Interview einen Monat warten mußte.

    Und wer hat's möglich gemacht? Die Schweizer.



    Möglich wurde es, genauer gesagt, in einem Sender, der nur bedingt dem deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuzurechnen ist; nämlich 3sat. Dort stellen zwar ARD und ZDF zusammen 65 Prozent des Programms; aber Entscheidungen werden einvernehmlich getroffen.

    Eine Chance also dafür, daß ein Stück der Fairness, die ZDF und ARD ganz und gar abhanden gekommen ist, sich gewissermaßen durch die Hintertür der liberalen Schweizer Gesinnung in ein deutsches öffentlich-rechtliches Programm hineinschleichen konnte.

    Durch die Hintertür hinein freilich in eine kleine Nische. Denn ausgestrahlt wurde das Interview gestern um 22.25 Uhr, also nicht eben zur prime time, in der Sendereihe des Schweizer Fernsehens (SF) "Vis-à-vis". Ausgestrahlt von einem Sender mit einem durchschnittlichen Marktanteil von 1,1 Prozent.

    Mehr als eine Kurzinformation innerhalb des allgemeinen Tagesprogramms bietet 3sat dazu im Internet nicht an. Auch einen Termin für eine Wiederholung habe ich nicht finden können.

    Der Interviewer war Frank A. Meyeer, der gern als "linksliberal" etikettiert wird und der dem Ringier-Verlag geschäftlich sowie dem einstmaligen Kanzler Gerhard Schröder freundschaftlich verbunden ist.

    Also jemand, der den Auffassungen Sarrazins nicht eben nahesteht; das machte er in dem Interview auch deutlich. Aber - man staune! - er brachte es fertig, den Andersdenkenden dennoch fair zu behandeln.

    International eine Selbstverständlichkeit. In den deutschen öffentlich-rechtlichen Medien immer seltener anzutreffen; ersetzt durch einen Gesinnungsjournalismus, der nur eine einzige Wahrheit zuläßt und der Andersdenkende als gar nicht Denkende darstellen möchte.



    Sehr viele Deutsche werden dieses Interview zur späten Zeit in einem kleinen Nischensender nicht gesehen haben. Sehr viele Deutsche würden aber sehr wahrscheinlich dieses Interview sehr gern sehen.

    Können sie das erreichen, diese sehr vielen Deutschen? Ich weiß es nicht. Ich jedenfalls werde mich an das ZDF und ARD wenden mit meinem Wunsch, daß das Interview in einem dieser Sender wiederholt wird.

    Wenn Sie das als Anregung verstehen wollen, widerspreche ich nicht.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Eine Liste mit Links zu den bisherigen Artikeln in ZR zu Thilo Sarrazin finden Sie hier.

    27. September 2010

    Zitat des Tages: "Absurde Logik des Wassersparens". Wir benehmen uns wie die Schildbürger. Nebst Lob für einen guten Journalisten

    Wer den Deutschen wassersparende Brausen aufzwingen will, könnte nach der gleichen absurden Logik auch den Südspaniern vorschreiben, nachmittags im Interesse Nordfinnlands kein Sonnenlicht mehr ins Haus zu lassen.

    Guido Kleinhubbert in einem Artikel im aktuellen gedruckten "Spiegel" (39/2010 vom 27. 9. 2010, Seite 62), der sich mit dem Wahnwitz des Wassersparens in Deutschland befaßt.


    Kommentar: Das Verbot von Glühbirnen war nur der Anfang. Da hat uns die EU erst einmal nur die Folterwerkzeuge vorgezeigt.

    Wie es weitergehen soll; wie unser Leben Schritt für Schritt im Namen der Umwelt unter Kontrolle gebracht werden soll, das habe ich vor einem Jahr beschrieben (Deutschland im Öko-Würgegriff (19): Was kommt nach dem Glühbirnen-Verbot? "Öko-Design". Die Pläne der Euro-Bürokraten und ihr Hintergrund; ZR vom 6. 9. 2010).

    Selbst unsere Duschköpfe haben die EU-Bürokraten und ihre ökobewegten Verbündeten ins Visier genommen. Guido Kleinhubbert beschreibt das genüßlich:
    Um nebenbei auch Energie für die Warmwasserbereitung zu sparen, wird in Brüssel unter anderem erwogen, künftig nur noch Duschköpfe mit Durchflussbegrenzer auf den Markt zu lassen. Die begnügen sich mit weniger Wasser, pusten dafür aber wie ein Föhn mehr Luft durch die Brause. Der deutsche Verbraucher, der auf Druck der EU gerade Abschied von der alten Glühbirne nehmen muss, wird sich womöglich bald auf das morgendliche Duschen mit schwachem Strahl einstellen müssen.
    Es wird viele von uns nicht jucken. Denn wir sparen ja schon Wasser wie die Weltmeister.

    Wir haben Klos mit Sparspülung, kaufen unsere Waschmaschinen und Geschirrspüler nach dem Kriterium, daß sie möglichst wenig Wasser verbrauchen, und sammeln Regenwasser in Tonnen. Manche bringen ihren Kindern schon bei, beim Zähneputzen den Wasserhahn nicht laufen zu lassen. Und das tägliche Duschen, gar noch das lange und genüßliche, ist längst in Verruf. Vom Vollbad, dieser wohligen Regression, ganz zu schweigen.

    Das alles hat Früchte getragen. In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist in Deutschland der Wasserverbrauch pro Kopf von 147 auf 122 Liter zurückgegangen, schreibt Kleinhubbert.



    Und wozu das alles? Für nichts, buchstäblich nichts.

    Denn in Deutschland gibt es in der Regel keinen Wassermangel. Gerade einmal 2,7 Prozent des reichlich vorhandenen deutschen Wassers werden überhaupt von uns Privaten verbraucht.

    Und den von Dürre bedrohten Gebieten auf der Welt hilft es durchaus nicht, wenn in Deutschland weniger Wasser verbraucht wird. Wir können das bei uns gesparte Wasser so wenig nach Andalusien oder in die Sahel-Zone verfrachten, wie man Sonnenlicht von Andalusien nach Finnland tragen kann, auf daß es den Finnen ihre Depressionen vertreibe.

    Die Schildbürger freilich schaufelten bekanntlich den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Kannen und Töpfe, um ihn so in ihr dunkles, weil fensterloses Rathaus zu tragen.

    Schildbürgerstreiche gehen selten gut aus. Das Wassersparen ist nicht nur nutzlos, was die Umwelt angeht. Sondern es produziert massive Nachteile. Kleinhubbert beschreibt sie:
  • Wegen zu geringer Nachfrage fließt das Wasser vielerorts zu langsam durch das Versorgungssystem. Dadurch "droht das Wasser zu verkeimen; außerdem lagern sich Kupfer, Nickel und Blei ab" (Kleinhubbert).

  • Was kann man dagegen tun? Mitarbeiter der örtlichen Wasserwerke begeben sich beispielsweise zu Hydranten und lassen Wasser ab - nur, damit die erforderliche Fließgeschwindigkeit erreicht wird. Allein in Gelsenkirchen und Umgebung werden rund 800.000 Liter täglich abgelassen. Wasser, das die Gelsenkirchener nicht verbrauchen, weil sie "Wasser sparen".

    Eine andere Möglichkeit ist es, den Durchmesser der Wasserrohre zu verkleinern, damit das Wasser schneller fließt. Auf Kosten der Verbraucher natürlich. Man zahlt mehr, weil man weniger kauft.

  • Ähnlich sieht es beim Abwasser aus. Es gibt dank Wassersparens zu wenig davon. Die Folge beschreibt Kleinhubbert so: "Fett und Essensreste pappen in den Kanälen fest, weil zu wenig Spülwasser durchrauscht. Vielerorts wabert daher in regenarmen Monaten fauliger Gestank aus der Kanalisation durch die Straßen und plagt die Anwohner. So müssen teure Gel-Matten in die Kanalisation gehängt werden, die wie eine Art Deo fürs Stadtviertel wirken".
  • Mehr Wasser zu verbrauchen wäre also vernünftig. Aber können Sie sich vorstellen, daß jemand sich traut, das öffentlich zu propagieren?

    Das müßte schon jemand mit der Unbeirrbarkeit und Charakterstärke eines Thilo Sarrazin sein.



    Viele "Spiegel"-Stories haben so viele Autoren, daß es wenig Sinn macht, wenn sie am Ende des Artikels aufgeführt werden. Man weiß ja in der Regel nicht, wer was beigetragen hat. Besser wäre es dann, die Artikel gar nicht namentlich zu zeichnen, wie es der "Spiegel" lange Zeit tat und wie es auch heute noch der Economist handhabt.

    Manchmal aber freue ich mich doch, daß man dem Leser mitteilt, wer einen Artikel im "Spiegel" geschrieben hat. Wie jetzt bei dem Artikel von Kleinhubbert.

    Über Guido Kleinhubbert erfahren Sie hier allerlei. Er ist, steht da, kein Wein-, sondern ein Biertrinker. Als einen "heimatverbundenen Westfalen" läßt er sich beschreiben.

    Und gelernt hat er nicht bei der "Tageszeitung", sondern als Lokalredakteur. Also dort, wo der Leser dem Schreiber auf die Finger sieht. Wo der Journalist zu berichten hat, was ist; statt den Journalismus als flankierende Maßnahme zur Verbesserung der Welt zu verstehen.

    Erfreulich, daß es zwischen allen den agitatorischen Journalisten beim "Spiegel" auch noch solche wie Kleinhubbert gibt, die Journalismus als Handwerk verstehen und nicht als säkulares Hohepriestertum.



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    Marginalie: Noch nie hatte sich ein Jahr nach einer Wahl die Parteienlandschaft so grundlegend verändert wie jetzt. Versuch einer Erklärung

    Heute vor einem Jahr haben wir den 17. deutschen Bundestag gewählt. Seither hat sich die deutsche Parteienlandschaft so stark verändert wie noch nie innerhalb eines Jahres nach nationalen Wahlen.

    2009 erreichte die FDP mit 14,6 Prozent ihr bestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik, und die Grünen landeten weit dahinter bei 10,7 Prozent. Nach den aktuellen Umfragen liegt die FDP noch zwischen 5 und 6,5 Prozent und ist damit auf ein Drittel bis weniger als die Hälfte ihres damaligen Stimmenanteils abgestürzt; während die Grünen auf 17 bis 20 Prozent geklettert sind. Forsa meldet für sie gar 24 Prozent. Sie haben ihren Anteil also nahezu verdoppelt.

    Gewiß, gewiß: Wir alle haben das im Ohr, was zum Beispiel Helmut Kohl nicht müde wurde zu sagen: Es geht am Ende um Stimmen, nicht Stimmungen. Und doch, solch eine gewaltige Verwerfung innerhalb eines Jahres bedarf der Erklärung.

    Drei Erklärungen können leicht ausgeschieden werden:
  • Es kann nicht an soziologischen Faktoren liegen wie zum Beispiel einer "Verbürgerlichung" der Grünen oder einem Schrumpfen der bürgerlich-liberalen Wählerschichten. Das mag stattfinden; aber es vollzöge sich dann nicht in einem solchen Tempo wie die jetzige Veränderung der Umfragewerte.

  • Personalien scheiden ebenso aus. Weder die Grünen noch die FDP haben im vergangenen Jahr ihre Spitzenleute ausgetauscht. Die Grünen werden von vier alten Bekannten geführt - Künast, Trittin, Roth und Özdemir. An der Spitze der FDP steht weiter jener Guido Westerwelle, dem vor einem Jahr zu Recht ein großer Anteil an dem grandiosen Wahlerfolg attribuiert wurde. Sofern es überhaupt bei der FDP personell Bewegung gegeben hat, sollte sie dem Image der Partei gedient haben: Mit dem neuen Generalsekretär Christian Lindner ist ein Mann mit positiver medialer Wirkung in die Führungsspitze aufgerückt.

  • Auch programmatisch hat sich keine der beiden Parteien im letzten Jahr wesentlich verändert. Die Grünen - die am meisten rückwärtsgewandte Partei Deutschlands - sagen immer noch exakt das, was sie schon vor fünf, zehn, vor zwanzig Jahren gesagt haben. Die FDP steht weiter zu dem, was sie im Wahlkampf propagierte und in den Koalitionsvertrag hat hineinschreiben können.
  • Gewiß, in der Regierung lief in diesem Jahr nicht alles rund, und Guido Westerwelle hat bisher als Außenminister nicht überzeugt. Aber so etwas läßt eine Partei nicht auf fast ein Drittel schrumpfen; und den Höhenflug der Grünen erklärt es schon gar nicht.



    Da diese naheliegenden Erklärungen somit untauglich erscheinen, möchte ich es mit einer anderen These versuchen. Sie ist spekulativ; ich kann überhaupt keine Daten nennen, die sie stützen würden. Und als wenn das nicht genug wäre, ist sie auch noch psychologisierend.

    Mir scheint, daß wir Deutschen uns in unserem politischen Denken zwischen zwei Polen bewegen:

    Wir sind auf der einen Seite Pragmatiker. Wir hängen keinen politischen Utopien an; so, wie das nicht wenige Franzosen tun. Unsere Gewerkschaften stellen selten unerfüllbare Forderungen; unsere Unternehmer lassen mit sich reden.

    Wir mögen den ruhigen, gesetzten, vorsichtigen Politiker. Darum haben wir Konrad Adenauer gewählt, Helmut Schmidt und jetzt Angela Merkel. Da weiß man, was man hat. "Keine Experimente"; damit hat Adenauer 1953 die absolute Mehrheit geholt.

    Aber in uns so pragmatischen Deutschen lauert doch auch etwas Anderes; nennen wir es eine Mischung aus Romantik und Hedonismus.

    Wir haben ein sentimentales Verhältnis zur Natur wie sonst kaum ein Volk auf der Welt. Wandernden Kröten gilt in Deutschland mehr Aufmerksamkeit als schlechten Schulen.

    Und wir haben einen Hang zum Genießen. Nicht auf die lässige Art der Franzosen oder die verspielte der Italiener. Sondern wir Deutschen "leisten" uns - schönes Wort in diesem Zusammenhang - gern etwas Gutes. Wir sind nicht zufällig Weltmeister im Reisen. Lustbarkeiten wie der Kölner Karneval oder jetzt das Münchner Oktoberfest rangieren höher als jeder kirchliche Feiertag.

    Wie bringen wir sie zusammen, diese beiden Seelen in unserer nationalen Brust? Indem wir mal der einen und mal der anderen das Regiment anvertrauen. Auch in der Politik.

    Wenn wir eine Krise spüren, dann sind wir die nüchternen, pragmatischen Deutschen. Dann wählen wir nach Kompetenz; also Adenauer oder Schmidt oder Merkel.

    Dann wählen wir eine Partei wie die FDP, die etwas von der Wirtschaft versteht. Die auf dem Boden der Realität steht; die vor den letzten Wahlen ankündigte, mittels Steuersenkungen die Konjunktur wieder zum Laufen zu bringen (oder die Pferde wieder zum Saufen, wie der Wirtschaftsminister Karl Schiller das einst nannte).

    Wenn wir dann aber raus sind aus der Krise, wenn die Furcht verflogen ist - dann bricht in uns wieder der Romantiker und der Hedonist hervor. Dann wollen wir Gutes tun und uns an etwas Gutem regalieren.

    Dann empfinden wir eine innere Zustimmung zu der Partei, die beides verkörpert: Den sinnlichen Genuß (wir denken an Joschka Fischer und den unvergeßlichen Rezzo Schlauch, beispielsweise), aber auch die romantische Verklärung, bis hinein in Vorstellung, daß sogar Energie "sauber" zu sein hat und die Energiewirtschaft irgendwie "sanft". Die Lust und die Romantik - niemand verkörpert das so rein wie Claudia Roth, die Trash-Version der Evita Perón.

    Vor einem Jahr lebten wir noch in der Angst, die Rezession könne doch noch nicht ausgestanden sein; das dicke Ende könne vielleicht gar noch bevorstehen. Das war die Stunde der FDP. Jetzt weisen alle Indikatoren nach oben. Jetzt können wir wieder romantisch und hedonistisch sein; also Sympathisanten oder gar Wähler der Grünen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.abe

    26. September 2010

    Zitat des Tages: "Merkel a durci son discours sur l'intégration". Die Leser in Paris werden besser über die deutsche Innenpolitik informiert als wir

    MAYENCE, Allemagne (Reuters) - Angela Merkel a durci samedi son discours sur l'intégration des immigrés en Allemagne en exigeant des étrangers qu'ils apprennent la langue et respectent les lois du pays d'accueil. (...) "Quiconque souhaite vivre dans notre pays doit obéir à ses lois, souhaiter apprendre notre langue et accepter les règles de notre société et tous les articles de notre Constitution", a-t-elle martelé sous les acclamations de l'auditoire.

    (Mainz, Deutschland (Reuters) - Angela Merkel hat am Samstag eine härtere Position zur Integration von Einwanderern nach Deutschland eingenommen, indem sie von den Fremden verlangte, daß sie die Sprache des Landes erlernen, welches sie aufnimmt, und dessen Gesetze respektieren. (...) "Wer in unserem Land leben möchte, muß dessen Gesetze achten, das Erlernen unserer Sprache wünschen und die Regeln unserer Gesellschaft und alle Artikel unserer Verfassung akzeptieren", arbeitete sie unter dem Beifall des Publikums heraus.)

    Französische Version einer seit gestern von Reuters verbreiteten Meldung, deren englisches Original Sie hier lesen können. Die französische Version habe ich dem Internetportal des Nouvel Observateur entnommen. In Deutschland wurde die Meldung offenbar nicht verbreitet.


    Kommentar: Hierzu erscheint mir dreierlei bemerkenswert.

    Erstens, daß nicht nur die Reuters-Meldung in Deutschland nicht verbreitet wurde, sondern daß Merkels Rede überhaupt hier im Land kaum Beachtung fand. Von dpa gibt es offenbar nur eine dürre Sechs-Zeilen-Meldung, die - soweit ich das ermitteln konnte - überhaupt nur von der "Frankfurter Rundschau" und dem "Stern" gebracht wurde. In den übrigen großen Medien habe ich sie nicht finden können; mit Ausnahme von "Focus", das sie immerhin um einen eigenen redaktionellen Anteil ergänzte.

    Die meisten Berichte zum Landesparteitag der CDU stammen aber erst von heute Nachmittag und berichten von der Wahl der neuen Landesvorsitzenden Klöckner, aber mit keinem Wort von der gestrigen Rede Merkels. Beispiele sind die Meldungen in "Welt-Online" und FAZ.Net.

    Das zweite Bemerkenswerte ist, daß nach Ansicht der Reuters-Journalisten (geschrieben wurde die Meldung von Erik Kirschbaum, redigiert von Noah Barkin; so etwas teilt Reuters dankenswerterweise mit) es bereits das Einnehmen einer "härteren Position" ist, wenn die deutsche Kanzlerin von Einwanderern verlangt, daß sie die Landessprache erlernen und die Gesetze achten. Merkel "a durci sa position", heißt es in der französischen Version; im englischen Original steht "Merkel takes tough line on integration", sie schlägt eine harte Linie zur Integration ein.

    So sieht man das im Ausland; so kann man es jedenfalls dort sehen. Was in Frankreich und im Vereinigten Königreich gegenüber den dortigen Einwanderern selbstverständlich ist, das wird als das Einschlagen einer harten Linie wahrgenommen, wenn es die deutsche Kanzlerin fordert. Kein Wunder, da ja Deutschland bisher als ein Land galt, das an Einwanderer gar keine Forderungen stellt.



    Und das dritte Bemerkenswerte an der Meldung im Nouvel Observateur ist die Reaktion der Kommentatoren.

    Der Nouvel Observateur ist ein linkes Blatt, das beispielsweise immer Allianzen zwischen Sozialisten und Kommunisten unterstützt hat. Und wie kommentieren dessen Leser? So (Orthographie und Interpunktion wie im Original):
  • Il est normal de demander Le respect des lois que ce soit par les habitants du cru ou les etrangers. (LOUPGLOUPPOLICE)

    Es ist normal, daß die Achtung der Gesetze verlangt wird, von den Einheimischen ebenso wie von den Fremden

  • ---en FRANCE aussi il est impératif que l'intégration doit passer par " savoir parler français et le pratiquer " ensuite épouser nos coutumes, nos lois et leur apprendre que "sa liberté" s'arrete là ou commence celle d'autrui (ARTEL08)

    --- auch in FRANKREICH ist es unbedingt erforderlich, daß die Integration vom "Französisch sprechen können und das auch tun" zur Übernahme unserer Gebräuche und unserer Gesetze geht und man ihnen beibringt, daß ihre "Freiheit" dort endet, wo die anderer beginnt

  • Quel durcisssement ? Les demandes de Mme Merkel constituent le minimum de ce que les étrangers doivent accepter pour vivre à nos côtés. (Charles57)

    Welche härtere Position? Die Forderungen von Merkel stellen ein Minimum dessen dar, was Fremde akzeptieren müssen, um an unserer Seite zu leben

  • Enfin. L'europe s'éveille et ouvre les yeux, esperons que ce ne soit pas trop tard...

    Endlich. Europa wacht auf und öffnet die Augen, hoffen wir, daß es nicht zu spät ist ...


  • Das sind nicht Äußerungen auf einer liberalen oder konservativen WebSite, sondern wie gesagt beim linken Nouvel Observateur.

    Drei Beiträge enthalten auch Kritik an Merkel und Deutschland, aber nur einer weist alle Verantwortung der deutschen Regierung zu:
    Les responsables Allemands ont contribue a former des ghettos,n ont encourage aucune perspective pour l integration,et aujourd hui pour des raisons electoralistes,on crie au loup.

    Die Verantwortlichen in Deutschland haben dazu beigetragen, daß diese Ghettos entstanden, haben keinerlei Perspektive für eine Integration gefördert, und jetzt schlagen sie aus wahltaktischen Gründen Alarm
    Und wer hat das geschrieben? Jemand mit dem Nick "hermann", also sehr wahrscheinlich ein deutscher Leser des Nouvel Obs'.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

    25. September 2010

    Die sensationellen Deutschen

    Der moderne skeptische Zeitgenosse hat ja schon Mühe, dem lieben Gott noch Wunder zuzutrauen, um wieviel weniger den Deutschen. Und doch scheinen wenigstens diese immer noch dazu fähig zu sein, wenn man Roger Köppel folgen möchte.

    Eigentlich, so meint er in der Weltwoche, ist es eine Sensation, was die deutsche Volkswirtschaft leistet, wenn man sich vor Augen führt, mit welchen Einschränkungen, Abgaben, Steuern, Betriebsräten, Gewerkschaften und Regulierungen die Unternehmen belastet werden. (...) Kündigungen sind kaum möglich, der Staat verhindert betriebliche Anpassungen im Krisenfall nach Kräften. (...) Das enorm produktive Bundesland Baden-Württemberg etwa hat mit 5,6 Prozent eine nur knapp über dem Schweizer Durchschnitt liegende Arbeitslosigkeit, obwohl auch die Süddeutschen die Nachteile des deutschen Etatismus voll zu spüren bekommen.

    Als Deutscher staunt man da gerne mit und geniesst voll Freude Köppels Erwägung, was wir ohne die Nachteile des Etatismus alles leisten könnten.

    Leute, die in diesem wirtschaftsfeindlichen Klima exzellente Leistungen vollbringen, sind, wenn sie in die Schweiz kommen, wie Sprinter, denen man endlich die Bleiweste abnimmt.

    Wie sich das konkret auswirkt, zeigt Köppel zuvor schon am Beispiel der deutschen Einwanderer in die Schweiz:

    Nehmen wir die Gastronomie: Wurden wir früher von mürrischen Osteuropäern bedient, stossen wir heute auf die zackige Freundlichkeit des überwiegend aus Deutschland rekrutierten Personals. Der Aargauer Nationalrat und Ausländerexperte Philipp Müller hielt fest, dass in der Gastrobranche ein regelrechtes «crowding out» stattgefunden habe zugunsten der Deutschen – mit eindeutig positiven Folgen für die Wertschöpfung.

    Donnerwetter!



    An dieser Stelle könnte man den Popperschen Gedanken der Falsifikation ins Feld führen. Wird ein Vorgang als sensationell beschrieben, dann sind möglicherweise die Prämissen nicht ganz in Ordnung: die Unerklärlichkeit eines Sachverhalts erklärt sich nämlich oft ganz gut durch die Falschheit irgendeiner Annahme. Beispielsweise kann das überraschende Erlebnis, um 5 Uhr morgens ohne Weckergeläute bereits hellwach zu sein, darin seine Erklärung finden, dass es bereits 10 Uhr und nur der Wecker stehengeblieben ist. Unzählige weitere derartige Beispiele lassen sich aus dem Leben greifen.

    Vielleicht also hat der deutsche Etatismus am Ende jene Nachteile im Vergleich zur freien Schweiz gar nicht, die den Erfolg der Deutschen so staunenswert erscheinen lassen. Sind die Deutschen, und vor allem die Schwaben, so enorm produktiv nicht trotz, sondern vielleicht sogar ein stückweit wegen dieses deutschen Etatismus? Dieser im übrigen rein hypothetischen Betrachtung soll jetzt noch ein wenig nachgegangen werden.

    Womöglich, so liesse sich weiterspekulieren, laufen die Deutschen ja gerade erst im Ringen mit den zahllosen Einschränkungen und Regulierungen zur Höchstform auf. Wer wird sich schon auf Dauer anstrengen, wenn ihm der Staat die wohlverdienten Fränkli zum Grossteil in der Tasche lässt? Und zu welcher Ingeniosität muss man sich erheben um gegen den deutschen Fiskus zu bestehen? An widrigen Umständen entfaltet sich erst das Genie und aus den rauhesten Gegenden kommen die härtesten Kämpfer.

    Ferner folgt aus der sehr grundlegenden Einsicht, wonach ein jedes Ding seine Kehrseite habe, dass es sich bei der Kehrseite der Nachteile eben um die Vorzüge handelt, die den Deutschen aus ihrem Etatismus erwachsen.

    Johan Norberg hat einmal argumentiert, es komme gar nicht darauf an, ob der Staat viel oder wenig Steuern einkassiere, sondern ob die Gegenleistung in Form kostenloser öffentlicher Güter in einem günstigen Verhältnis dazu stehe. Ist demnach das Preis/Leistungsverhältnis Baden-Württembergs so gut wie das der Schweiz, brauchte man sich trotz höherer Steuern über die guten Wirtschaftsdaten der Schwaben gar nicht mehr so sehr zu wundern. (Wobei Ähnliches wie für die Steuern auch für die Regulierungen gelten dürfte.)



    Es steht nicht gut um die Überzeugungskraft des Köppelschen Wirtschaftsdenkens, wenn er Verhältnisse, die den Etatisten vollkommen normal und kaum erklärungsbedürftig erscheinen, nämlich dass viel Staat viel Wohlstand bringt, als eine Sensation bezeichnet, auf die er sich folgerichtig keinen rechten Reim machen kann.

    Letztlich verweist Köppels Staunen über die Deutschen auf eine Schwierigkeit, welche die Verbreitung liberaler Ansichten in den modernen Gesellschaften generell behindert: dass der Augenschein gegen sie spricht.

    In den letzten 200 Jahren, am dramatischsten in der Zeitspanne zwischen 1850 und 1970, wandelten sich die europäischen Armuts- in Wohlstandsgesellschaften um. Dieser überaus erfreuliche Vorgang war von zwei weiteren aussergewöhnlichen Umwälzungen begleitet: einer immensen Dynamik der privaten Wirtschaftstätigkeit und einer präzedenzlosen Ausweitung der Staatsbürokratie.

    In der ersten Hälfte des 20. Jh. war der Gedanke populär, das Privateigentum an den Produktionsmitteln sei ein Hemmnis der Entwicklung und der Wohlstandsgewinn würde sich durch die Überwindung des Privatkapitalismus beschleunigen lassen. Das wurde versucht und erwies sich als trügerisch. Wie steht es dann aber um den entgegengesetzten Gedanken, wonach die Beseitigung oder wenigstens radikale Verkleinerung der Staatstätigkeit die Produktivität beschleunigen würde wie den Sprinter, der die Bleiweste ablegt? Er trifft natürlich auf Zweifel.

    Denn die pure Erfahrung zeigt einfach, dass Privateigentum und Bürokratismus Hand in Hand mit jener Wohlstandsrevolution gegangen sind, deren Früchte wir heute geniessen. Will man jemanden also davon überzeugen, dass nur einer dieser Faktoren für den Erfolg ursächlich sind, während der andere ihn gehemmt hat, braucht man eine erklärende Theorie; die es ja auch gibt, und sogar mehrere! Aber sich von einer Theorie zu überzeugen, die dem Augenschein widerspricht ist nun einmal viel schwieriger als das System insgesamt zu akzeptieren, erfreulich wie es im Ganzen nun einmal ist.

    Was die ökonomischen Laien vom Liberalismus überzeugen könnte, ist daher wohl nicht so sehr der Wert liberaler Wirtschaftsideen, sondern eher das Pathos der individuellen Freiheit. Zum Unglück der Freiheitsfreunde lieben die Deutschen heute jedoch das Pathos weniger als die handfesten Resultate, und auch das tut ihnen am Ende alles in allem gut.



    © Kallias. Den Hinweis auf Köppels Artikel verdanke ich Calimero. Für Kommentare bitte hier klicken.

    Zitate des Tages: "3. Oktober 2010: Hauptsache es knallt!" Über Haß im Internet

    Unser Anliegen besteht darin, die Einheitsfeier zu einem Desaster zu machen! (...) Die wesentlichen Eckpunkte des Kampangenentwurfes [sic] "Hauptsache es knallt" sind folgende:
    1. Imagebeschmutzung: Rücken wir die Veranstaltung in der öffentlichen Wahrnehmung verstärkt in der Zusammenhang mit zu erwartenden Ausschreitungen, Störaktionen und nervigen Diskussionen über Nationalismus und Rassismus. (...)

    2. Sachschaden: Farbe, Glasbruch, Buttersäure... wer/welche knackt den Jackpott? "1,7 Millionen Euro plus X" - die Spiele sind eröffnet. Extrapunkte gibt es für Interventione und Sabotageakte, die direkt in Vorbereitung und Infrastruktur des Festes eingreifen. (...)

    3. Kennzeichnung politisch Verantwortlicher: Neben dem Fest-Chefplaner der Bremer Wirtschaftsförderung Klaus Sondergeld und dem Schirmherren der Veranstaltung, Bürgermeister und Bundesratsvorsitzenden, Jens Böhrnsen wirken eine ganze Reihe von Einzelpersonen und Firmen an Vorbereitung und Umsetzung der Einheitsfeier mit; diese haben Namen, Adressen und oft auch schicke Autos vor der Tür!

    4. unkontrollierte Verhältnisse eingehen/schaffen: "Hauptsache es knallt!" ist ein Mitmachkonzept für das es keine weitere Koordination im Sinne festgelegter Zeiten und Treffpunkte für Blockaden geben wird. Bremen ist eine kleine Stadt und der richtige Ort um Randale zu machen kann praktisch (fast) überall sein.
    Aus einem Artikel mit der Überschrift "3. Oktober in Bremen: Hauptsache, es knallt", der gegenwärtig auf der linksextremen WebSite "Indymedia" zu lesen ist.


    Im Bundesrat ist das Vorhaben der Bundesregierung, Hass im Internet stärker zu bekämpfen, in der ersten Plenarsitzung nach der Sommerpause am heutigen Freitag auf keine Bedenken gestoßen.

    Aus einer gestrigen Meldung des Informationsdienstes "Heise Online".


    Kommentar: Wunderbar, meinen Sie, dann werden ja Haßausbrüche wie die in dem Text, dem ich das erste Zitat entnommen habe, künftig im Internet nicht mehr erlaubt sein?

    Sie irren. Denn weiter heißt es in der Meldung von "Heise Online":
    Das Bundeskabinett hatte im August zwei Gesetzentwürfe zur Ratifizierung und Umsetzung des umstrittenen Zusatzprotokolls zur Cybercrime-Konvention des Europarats von Anfang 2003 beschlossen. Es sieht eine Kriminalisierung "rassistischer und fremdenfeindlicher Handlungen" vor, die über Computersysteme begangen werden. (...)

    Nach den Bestimmungen muss jeder Mitgliedstaat die öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine "Gruppe" von Personen, die nach den Kriterien der "Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft" definiert ist, oder gegen ein einzelnes Mitglied einer solchen Einheit unter Strafe stellen.
    Während damit rechtsextremen Haßpredigern das Handwerk gelegt werden soll (über die rechtsstaatliche Bedenklichkeit solcher gesetzlicher Regelungen wäre getrennt zu diskutieren), haben linksextreme Haßprediger wie die (anonymen) Autoren, die den Text bei "Indymedia" verfaßt haben, weiter freie Bahn.

    Sie dürfen nicht nur Haß predigen; sondern es scheint, daß sie sogar unbeanstandet offen zu Straftaten aufrufen können.

    Jedenfalls steht der Text seit dem 22. August bei "Indymedia". Und wie sieht ihn die dortige Redaktion, genannt "Moderationsgruppe"?

    Sie hat dem Artikel einen Vorspann vorgeschaltet. Distanziert sie sich darin zumindest von den Aufrufen zur Sachbeschädigung und zum Landfriedensbruch? Keineswegs. Die "Moderationsgruppe" schreibt:
    Trotz der Bitte, de.indymedia.org zum Veröffentlichen von eigenen Berichten und selbst recherchierten Reportagen zu nutzen, wurde hier ein Termin, ein Aufruf, die Einladung zu einer Veranstaltung oder die Ankündigung einer Aktion reinkopiert. Es ist nicht das Ziel von Indymedia, ein möglichst umfassendes Infoportal incl. Terminkalender anzubieten. Indymedia will eine Plattform für engagierte MedienmacherInnen und ihren eigenen Inhalte bieten. Das Veröffentlichen von Terminen, Aufrufen und Einladungen gehört nicht zu den Zielen des Projektes. Mehr Informationen, warum sich Indymedia nicht zum Veröffentlichen von Terminen eignet, findest Du hier [Link; Zettel]. Bitte nutze stattdessen die verlinkten Terminkalender-Seiten.
    Ende des Vorspanns. Kein Wort der Distanzierung von den Aufrufen zur Begehung von Straftaten.

    Es wird - und nicht zu Unrecht - von der Justiz der Weimarer Republik gesagt, sie sei "auf dem rechten Auge blind" gewesen. Muß man, was die beabsichtigte Verschärfung des Internet-Strafrechts angeht, nicht konstatieren, daß sie auf dem linken Auge blind ist?



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an monty und an Nola. - Ich distanziere mich von dem hier dokumentierten Aufruf zur Begehung von Straftaten.

    24. September 2010

    Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (4): Demographische Entwicklung und Geburtenziffer von Einwanderern - Teil 2: Sarrazins Zahlen

    Viele von Ihnen werden inzwischen das Buch Sarrazins kennen. Sie wissen also, daß er nicht biologistisch argumentiert, daß er kein Rassist und schon gar nicht ein Antisemit ist. Und Sie wissen, daß sein Thema auch nicht die Integration ist, sondern die Zukunft Deutschlands, die wesentlich von der Demographie abhängen wird.

    Sarrazins Aussagen zur Demographie sind massiv angegriffen worden. Wenn ich sie jetzt auf den Prüfstand stelle, dann tue ich das auf der Grundlage dessen, was ich im ersten Teil dargelegt habe und was Sie vielleicht - falls nicht schon geschehen - zunächst lesen sollten:

    Aussagen der Demographie können in Statistiken, in Prognosen und in Szenarien bestehen. Statistiken müssen daraufhin geprüft werden, ob sie stimmen; Prognosen darauf, ob sie durch die existierenden Daten abgedeckt sind; und Szenarien darauf, ob sie plausibel sind.

    Überwiegend befaßt sich Sarrazin mit Szenarien, die er "Modellrechnungen" nennt. Sie basieren auf den gegenwärtig verfügbaren Statistiken, machen aber zusätzliche Annahmen; exakt so, wie (siehe den ersten Teil) Klimamodelle auf gegenwärtigen Meßwerten beruhen, aber zusätzliche Annahmen z.B. über den künftigen CO2-Ausstoß enthalten.

    Zentral geht es Sarrazin um die Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts - zunächst um die absoluten Zahlen; dann aber auch um die Zusammensetzung hinsichtlich Alter, sozialer Schicht und Herkunft. Die Diskussion in der Öffentlichkeit betrifft fast ausschließlich den Faktor Herkunft.

    Wie ich es am Ende des ersten Teils beschrieben habe, sind die vier Schlüsselgrößen für die demographische Entwicklung die Geburtenziffer, die Sterbeziffer, die Einwanderungs- und die Auswanderungsquote. Im Mittelpunkt der Szenarien, die Sarrazin diskutiert, stehen die Geburtenziffer und die Einwanderungsquote.

    Hier setzte folglich die Kritik an. In der Regel wurde und wird in dieser Kritik jedoch nicht, wie es erforderlich wäre, zwischen Statistiken, Prognosen und Szenarien unterschieden.

    Sarrazin wird vorgehalten, er mache falsche "Vorhersagen", wo er nur Szenarien entwirft. Prognosen spielen in Sarrazins Buch faktisch keine Rolle (es sei denn, er zitiert diejenigen anderer - beispielsweise die der UNO für Deutschland).

    Vor allem aber wird bei der Kritik an Sarrazin nicht zwischen Statistiken und Szenarien unterschieden. Es wird ihm vorgeworfen, er verwende falschen Zahlen, obwohl er in seine Szenarien nur andere Schätzwerte einsetzt als diejenigen, die seine Gegner für plausibel halten.

    Zu beantworten sind also zwei Fragen: Erstens, stimmen Sarrazins Zahlen, was die Statistik angeht, also die Daten für die Gegenwart? Zweitens - eine ganz andere Frage, um das noch einmal hervorzuheben -, macht Sarrazin plausible Annahmen für seine Szenarien?

    Mit Sarrazins Zahlen befasse ich mich in diesem jetzigen zweiten Teil. Im dritten Teil, der zugleich diese Serie abschließen wird, geht es dann um Sarrazins Szenarien.



    Statistiken. Sarrazin zieht fast ausschließlich statistisches Material aus überaus seriösen Quellen heran: Vom Statistischen Bundesamt, dem Berlin-Institut für Bevölkerungsentwicklung, der UNO (Population Division of the Department of Social and Economic Affairs of the United Nationas Secretariat); aus Werken von wissenschaftlich ausgewiesenen Demographen wie Herwig Birg.

    Soweit ich sehe, wirft niemand ihm vor, daß er diese Daten falsch wiedergegeben hätte. Kritisiert wird aber, daß

  • er eine wichtige Untersuchung nicht berücksichtigt hätte (die von 2009 für die DIK),


  • es seit langem bekannt sei, daß sich die Geburtenziffern von Einwanderern an die der einheimischen Bevölkerung anglichen,


  • und daß insbesondere eine neue Untersuchung vorläge (die von Milewski 2010), die Sarrazin widerlegen würde.

  • Bei allen drei Vorwürfen geht es um die Geburtenziffer von moslemischen Einwanderern. Für seine Szenarien setzt Sarrazin eine Geburtenziffer in dieser Bevölkerungsgruppe von rund 2,0 als den gegenwärtigen Wert an, den er auch in seine Szenarien einsetzt (Seite 359 seines Buchs; siehe den folgenden dritten Teil).

    Es geht also zum einen - auf der Ebene der Statistik - darum, ob dieser Wert für die Gegenwart zutrifft. Das wird bestritten, zum Teil sehr polemisch bestritten; und mit dieser Kritik befasse ich mich jetzt.

    Eine weitere, davon zu trennende Frage ist, ob Sarrazins Annahme - auf der Ebene von Szenarien - plausibel ist, daß auch in den kommenden Jahrzehnten diese Geburtenziffer von 2,0 annähernd konstant sein wird. Damit befasse ich mich erst im dritten Teil.



    Die Untersuchung für die DIK. Der erste Kritikpunkt wurde in der Titelgeschichte des "Spiegel" 36/2010 vom 6. 9. 2010, S. 27, formuliert:
    Im Kern stützt sich Sarrazin auf die Angaben des Mikrozensus, und darin liegt schon der erste Fehler: Es gibt in Deutschland viele Studien zu Bevölkerung und Ausländern, aber nur eine, die sich wirklich umfassend mit "Muslimischem Leben in Deutschland" (so der Titel) befasst. Sie wurde im Sommer 2009 vorgelegt, erstellt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und sie ergibt ein wesentlich differenzierteres Bild mit Licht und Schatten.
    Sie können sich die 452 Seiten dieser Untersuchung, die für die Deutsche Islam-Konferenz (DIK) erstellt wurde, hier als PDF-Datei herunterladen.

    Wenn Sie das lesen, werden Sie erstaunt sein. Über die Geburtenziffer als solche gibt diese Untersuchung nämlich überhaupt keine Auskunft. Sie wurde gar nicht erhoben. Allerdings gibt es eine Passage (S. 131) über die Größe der Haushalte, die gewisse Rückschlüsse auf die Geburtenziffer erlaubt:
    Die Befragten aus muslimisch geprägten Ländern leben in Haushalten mit durchschnittlich 3,6 Personen. Die Haushalte sind damit deutlich größer als bei der Gesamtbevölkerung mit einer durchschnittlichen Größe von 2,1 Personen im Jahr 2006 (Statistisches Bundesamt 2008c: 45). Unter den Befragten sind die Haushalte der muslimischen Befragten mit im Durchschnitt 3,9 Mitgliedern wiederum größer als die Haushalte der Angehörigen sonstiger Religionen, die 3,2 Personen umfassen. (...)

    Bei der Kinderzahl im Haushalt zeigen sich ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen Muslimen und Angehörigen sonstiger Religionen. Besonders auffällig ist die hohe durchschnittliche Kinderzahl der Muslime aus Zentralasien sowie auch aus dem sonstigen Afrika, aus Süd-/Südostasien und dem Nahen Osten. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Zahl der im Haushalt lebenden Kinder nicht der Fertilität entspricht, da erwachsene, bereits ausgezogene Kinder nicht mit berechnet werden; über sie liegen keine Informationen vor.
    Mit anderen Worten: In den Haushalten von Moslems leben durchschnittlich knapp vier Menschen, also in der Regel wohl die Eltern und zwei Kinder. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Kindern, die bereits ausgezogen sind.

    Sofern die Untersuchung für die DIW hierzu überhaupt brauchbare Daten liefert, weisen diese somit auf eine noch höhere Geburtenziffer hin als die Zahl 2,0, die Sarrazin für seine Szenarien annimmt. Von einer Widerlegung kann keine Rede sein. Es scheint, daß die "Spiegel"-Autoren die Untersuchung, die sie zitieren, überhaupt nicht gründlich gelesen haben.



    Die Kritik von Volker Eichener. Der zweite Einwand wurde wiederholt vorgetragen; zuletzt in einem vor wenigen Tagen erschienen, äußerst polemischen ("Manipulation und Fälschung") Artikel des Politologen Volker Eichener (Professor an einer Bochumer Fachhochschule; Arbeitsgebiete: Immobilienmarkt, Stadtentwicklung und Verwandtes). Dort heißt es über die Geburtenziffer von Einwanderern:
    So ist die Fruchtbarkeitsziffer der türkischen Migrantinnen in Deutschland zwischen 1975 und 1993 von 4,3 auf 2,5 Kinder zurückgegangen, bei Türkinnen in der Türkei im gleichen Zeitraum von 5,1 auf 2,8 Kinder.
    Wo hat Eichener diese Zahlen her? Er gibt als seine Quelle die Dissertation von Nadja Milewski an, auf die ich gleich kommen werde. Auf der von Eichener angegebenen Seite 59 dieser Arbeit stehen aber nicht etwa eigene Daten von Milewski, sondern diese zitiert ihrerseits Daten, die B. Nauck bereits 1997 zusammengestellt hatte - nicht eben der allerneueste Stand der Forschung.

    Nach Nauck nun lag die Geburtenziffer eingewanderter Türken im Jahr 1993 deutlich über dem von Sarrazin für seine Berechnungen angenommenen Wert von zwei Kindern pro Elternpaar.

    Eichener aber veranlassen diese Daten aparterweise zu der Behauptung: "Dass Sarrazin keine 'Daten und Fakten' zitiert, hat seinen Grund: Die Daten stützen seine These nämlich nicht".

    Es handelt sich, wie Sie jetzt wissen, nicht um eine "These", sondern um eine Annahme für eine Szenario. Sarrazin zitiert überreichlich Daten und Fakten. Und wenn überhaupt, dann weisen die Zahlen von Nauck darauf hin, daß Sarrazin eine zu niedrige Geburtenziffer türkischer Einwanderer annimmt; nämlich 2,0 statt 2,5.

    Nach einigen Absätzen schließt Eichener seine eigenartigen Betrachtungen mit einer nicht weniger verwunderlichen Folgerung:
    Die Migrantinnen, auch diejenigen aus der Türkei, haben ihr generatives Verhalten bereits binnen einer einzigen Generation weitgehend an das der Deutschen angepasst und werden es weiter annähern, bis keine Unterschiede mehr feststellbar sind.
    Die Geburtenziffer liegt für Einheimische in Deutschland bei ungefähr 1,4 (Daten des Statistischen Bundesamts; siehe Teil 1). Eichener gibt für die moslemischen Einwanderer eine Geburtenziffern von 2,5 an. Bedeutet das eine "weitgehende Anpassung" an das generative Verhalten der Deutschen? Es bedeutet das Gegenteil.

    Eine Geburtenziffer von 1,4 besagt, daß die Bevölkerung in jeder Generation auf rund 70 Prozent der vorausgehenden Generation schrumpft. Eine Geburtenziffer von 2,5 bedeutet, daß sie in jeder nachfolgenden Generation auf rund 125 Prozent der vorausgehenden Generation wächst. Das hat zur Folge, daß es im ersten Fall nur noch halb so viele Enkel wie Großeltern gibt. Im zweiten Fall gibt es eineinhalb mal mehr Enkel als Großeltern.

    Um das etwas genauer zu erläutern: Stellen wir uns zwei Bevölkerungsgruppen vor, die beide je 50 Prozent Anteil an einer Gesamtbevölkerung haben. Dies sei die Generation der Großeltern. Gruppe A hat eine Geburtenziffer von 1,4; Gruppe B eine Geburtenziffer von 2,5.

    In der Generation der Kinder hat Gruppe A noch einen Anteil von 35,9 Prozent und Gruppe B einen Anteil von 64,1 Prozent. In der Generation der Enkel beträgt der Anteil von Gruppe A bereits nur noch 23,8 Prozent und derjenige der Gruppe B schon 76,2 Prozent. So geht es weiter, von Generation zu Generation. Sie können leicht selbst ausrechnen, wie die Anteile nach vier oder fünf Generationen verteilt sein werden.

    So extrem wirken sich die unterschiedlichen Geburtenziffern aus, die laut Eichener bedeuten, daß die moslemischen Einwanderer sich der deutschen Geburtenziffer "weitgehend angepaßt" hätten! Seine Behauptung, daß sich die Geburtenziffern dann gar noch weiter annähern würden, "bis keine Unterschiede mehr feststellbar sind", ist völlig aus der Luft gegriffen und entbehrt jeder empirischen Grundlage.



    Die Dissertation von Nadja Milewski. Als dritte vorgebliche Widerlegung von Sarrazins Aussagen zur Geburtenziffer wird die Dissertation zitiert, mit der Nadja Milewski kürzlich an der Universität Rostock zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Sie erarbeitete sie als Doktorandin an einer hervorragenden Forschungseinrichtung, dem Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock.

    Nadja Milewski erhielt für diese Arbeit einen Förderpreis der Universität Rostock. In einer Pressemitteilung der Universität Rostock vom 2. Juli 2010 heißt es:
    Dr. rer. pol. Nadja Milewski überzeugte die Jury mit ihren Forschungen zum Thema Fertility of Immigrants and Their Descendants in West Germany – An Event-history Approach. (...) Frau Dr. Milewski konnnte nachweisen, dass Migrantinnen der ersten Generation eine erhöhte Fruchtbarkeit haben. Die Migrantinnen der zweiten Generation unterschieden sich im Fertilitätsverhalten, mit Ausnahme von Frauen mit türkischem Hintergrund, kaum von der westdeutschen Population.
    Man kann sich diese Dissertation herunterladen. Über die eigenen Analysen von Frau Milewski gibt das dritte Kapitel Auskunft.

    Frau Milewski hat keine eigenen Daten erhoben, sondern sie analysiert mit aufwendigen mathematischen Methoden bereits vorliegende Daten, und zwar diejenigen aus dem SOEP (Sozioökonomischen Panel, in englischsprachigen Publikationen als GSOEP bezeichnet).

    Dabei handelt es sich um eine Längsschnittbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), in der seit 1984 über 12.000 Privathaushalte in Deutschland jährlich befragt werden. Erhoben wurden und werden vielerlei Daten, die gesellschaftlich und ökomisch interessant sein könnte; darunter auch Geburten. Ein Teil dieser Stichprobe, die über die Jahre immer wieder befragt wird, sind Familien von Einwanderern.

    Deren Reproduktionsverhalten - wann kommt es zu einer Geburt, wann ggf. zu einer zweiten, einer dritten usw.? - hat Frau Milewski untersucht. Sehr sorgfältig und auf hohem wissenschaftlichen Niveau; sie hat den Förderpreis verdient.

    Bevor Sie die folgende Zusammenfassung lesen, sollten Sie noch wissen, daß nur die maximal dritte Geburt erfaßt wurde; alle Unterschiede, die auf die Geburt von mehr als drei Kindern zurückgehen, fanden also keine Berücksichtigung.

    Nadja Milewski faßt die für unsere Frage relevanten Ergebnisse so zusammen (Seite 148):
    After controlling for compositional differences, we find evidence for the impact of early socialization. On the one hand, birth risks of each parity are much more similar between second-generation immigrants and West German women than they are between the second and the first generations. On the other hand, fertility differences occur by country background, i.e., first-generation immigrants from Turkey have higher transition rates to a second and third child than women from Southern and Southeastern European countries, which is also true for the third child for the second generation of Turkish descent.

    Nach Kontrolle [d.h. dem Herausrechnen; Zettel] von Unterschieden in der Zusammensetzung [der Gruppen; Zettel] finden wir Belege für die Wirkung der frühen Sozialisation. Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit einer Geburt in jeder Vergleichsgruppe zwischen Einwanderern der zweiten Generation und westdeutschen Frauen viel ähnlicher als zwischen der zweiten und der ersten Generation [der Einwanderer; Zettel]. Andererseits gibt es Unterschiede in der Fertilität aufgrund des Herkunftslandes. Das heißt, daß Einwanderer der ersten Generation aus der Türkei eine größere Wahrscheinlichkeit haben, ein zweites und ein drittes Kind zu bekommen, als Frauen aus südlichen und südöstlichen Ländern Europas. Dies gilt auch für das dritte Kind in der zweiten Generation türkischer Herkunft.
    Ein Hauptbefund dieser Dissertation ist also, daß türkische Frauen sich in ihrem Gebärverhalten gerade nicht einheimischen Deutschen und Einwanderern aus Europa angleichen; auch nicht in der zweiten Generation. Sie bekommen deutlich mehr Kinder.

    Und wie berichtete "Spiegel-Online" über diese Arbeit? So:
    Frauen mit ausländischer Herkunft bekommen nicht mehr Kinder als deutsche Frauen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forschungsarbeit, über die die Universität Rostock am Dienstag berichtete. "Frauen der zweiten Migrantengeneration haben sich dem Geburtenverhalten von deutschen Frauen nahezu angepasst", fand die Soziologin Nadja Milewski heraus. Sie untersuchte das Geburtsverhalten von Zuwanderinnen aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, Italien und Spanien.
    Kein Wort in dem ganzen Artikel von dem massiv abweichenden Gebärverhalten der Türkinnen.

    Und so wandern die Ergebnisse dieser Dissertation, die Sarrazins Annahme für seine Szenarien aufs Beste stützen, durch die Presse und die Blogs und werden als angebliche "Widerlegung" von Sarrazin verkauft.

    Ein Beispiel mag genügen. Ausgerechnet in Scienceblogs - Blogs über Wissenschaft und oft von Wissenschaftlern - schrieb eine Andrea Thum (Selbstkennzeichnung: "berichtet und erklärt die Verwendung von Statistik in Nachrichten und überall sonst"):
    Zum Glück gibt es ein bisschen was Handfestes (und nicht nur wilde Behauptungen) durch eine Studie, von der im Spiegel Online berichtet wird. Demnach gleicht sich die Geburtenrate der Migranten in zweiter Generation an die deutsche an, womit ... [Sarrazins; Zettel] Behauptung widerlegt wird.
    Nein, Sarrazins Zahlen werden durch die Dissertation von Nadja Milweski nicht nur nicht widerlegt. Sie werden durch sie bestätigt.

    Im dritten Teil befasse ich mich mit Sarrazins Szenarien für die künftige demographische Entwicklung Deutschlands. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Mit Dank an der Berliner für den Hinweis auf den Artikel von Eichener, an Popeye für den Hinweis auf den Blogeintrag von Andrea Thum und an Pisaner für den Link zum Text der Dissertation von Nadja Milewski.

    23. September 2010

    Marginalie: Obamas Gesundheitspolitik und die Folgen. Ein Beispiel

    Amerikanische Krankenversicherungen bieten meist auch einen "child-only"-Tarif an; eine Versicherung nur für die Kinder, wenn die Eltern beispielsweise bereits über den Arbeitgeber versichert sind.

    Als Teil der Obama'schen Gesundheitsreform werden die Versicherer nun verpflichtet, Kinder unabhängig von ihrem Gesundheitszustand aufzunehmen. Es findet also keine Untersuchung vor der Aufnahme statt, und kein Kind kann wegen einer bestehenden Krankheit abgelehnt werden.

    Gut gemeint, aber wie stellt sich das aus Sicht der Versicherungen dar? Eltern könnten ihr Kind unversichert lassen, bis es einmal ernsthaft krank wird. Dann könnten sie es versichern - die Versicherungen müßten das Kind aufnehmen - und die Versicherung wieder kündigen, sobald das Kind gesund ist.

    Wie man sich denken kann, rechnet sich das nicht für die Versicherungen. Wie reagieren sie also? Das konnte man am Dienstag in der Internetausgabe der Los Angeles Times lesen: Große amerikanische Versicherer wie Anthem Blue Cross, Aetna Inc. und andere werden den "child-only"-Tarif komplett abschaffen.

    Das kann ihnen das Gesetz nicht verbieten. Noch nicht. Denn natürlich ist der nächste logische Schritt, daß man die Versicherungen zwingt, einen "child-only"-Tarif anzubieten. Es ist der immer gleiche bürokratische Zyklus: Es wird reguliert. Die Regulierung erweist sich nicht als praktikabel. Also wird noch mehr reguliert.

    In Kalifornien liegt ein solches Gesetz bereit unterschriftsreif auf dem Schreibtisch von Gouveneur Schwarzenegger. Wer keinen "child-only"-Tarif anbietet, der soll in diesem Staat überhaupt keine Versicherungen an Private mehr verkaufen dürfen.

    Zunächst für fünf Jahre. Danach, so rechnen die kalifornischen Gesetzgeber offenbar, wird die betreffende Versicherung schon zur Räson gebracht sein.



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    Zettels Meckerecke: "Die angekündigte Sarrazin-Replik entfällt daher". Wie die "Zeit" ihre Leser veräppelt. Nebst einem Nachtrag

    Am Sonntag habe ich in diesem Artikel unter anderem auf die Art aufmerksam gemacht, wie der SPD-Vorsitzende Gabriel in einem Artikel in der "Zeit" auf Thilo Sarrazin losging, indem er aus dem Zusammenhang gerissene Zitate böswillig interpretierte.

    Gegen Ende meines Artikels stand dies zu lesen:
    Nun war von Gabriel nichts anderes zu erwarten; wer noch eine gewisse Achtung vor diesem Mann gehabt hatte, der dürfte sie nach der Lektüre dieses Artikels eingebüßt haben. Das Überraschende, das wirklich Überraschende ist nicht Gabriels Text, sondern der redaktionelle Fußtext: "Eine Entgegnung Thilo Sarrazins auf Sigmar Gabriel erfolgt an gleicher Stelle". (...)

    Ich bin jedenfalls gespannt, was kommende Woche in der "Zeit" stehen wird und ob die Redaktion tatsächlich so liberal sein wird, Sarrazins Entgegnung unredigiert und ohne distanzierenden Vor- oder Nachspann zu bringen.
    Meine Skepsis hat sich als begründet erwiesen. Heute findet man auf Seite 2 der "Zeit" (Nummer 39/2010 vom 23. 9. 2010) diese Meldung:
    Ohne Sarrazin

    In unserer vorigen Ausgabe trug SPD-Chef Sigmar Gabriel seine Argumente für einen Parteiausschluss von Thilo Sarrazin vor ("Anleitung zur Menschenzucht", ZEIT Nr. 38/10, Seite 4). Wir hatten Thilo Sarrazin angeboten, eine Woche später an gleicher Stelle und in gleicher Länge zu antworten, er nahm das Angebot an. Danach jedoch hat er sich entschlossen, eine kurze Entgegnung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu veröffentlichen - er habe, so Sarrazins Begründung, auf Gabriels Stellungnahme schnell reagieren müssen. Die angekündigte Sarrazin-Replik in der ZEIT entfällt daher.
    Seltsam, nicht wahr? Wieso "entfällt" Sarrazins ausführliche Entgegnung auf den langen Artikel von Gabriel "daher"?

    Die "Zeit" veräppelt ihre Leser.

    Seit wann kann ein Autor nicht mehr in zwei Zeitschriften oder Zeitungen zu denselben Vorwürfen Stellung nehmen; das eine Mal knapp, dann ausführlich? Wieso zieht die "Zeit" ihre Zusage, eine Replik Sarrazins "an gleicher Stelle und in gleicher Länge" zu bringen, nun auf einmal zurück?

    Man darf raten.

    Vielleicht hat jemand in der Redaktion inzwischen das Buch von Sarrazin gelesen und weiß, daß dieser Gabriels Anwürfe mühelos Punkt für Punkt hätte entkräften können?

    Im Grunde hätte er nur den Kontext mitzuteilen brauchen, aus dem Gabriel die "Zitate" jeweils herausgelöst hatte, um sie zum Bild eines Menschenzüchters zu montieren.

    Das freilich konnte Sarrazin nicht in der kurzen Replik in der FAZ. Dazu hätte er den ihm zugesagten Raum in der "Zeit" benötigt. Er hätte dort Passage für Passage zeigen können, wie ihm Gabriel buchstäblich das Wort im Mund herumdrehte.

    Das "entfällt" jetzt; jedenfalls für das Lesepublikum, das Gabriels Montage lesen durfte. Die "Zeit" hat ihre Zusage zurückgezogen wie der billige Jakob ein Lockangebot, wenn es jemand wirklich wahrnehmen will.

    Vielleicht ist die Redaktion auch zu der Auffassung gelangt, daß es nun doch liberal, allzuliberal gewesen war, jemandem die Spalten der "Zeit" zu öffnen, dem man doch gerade erst bescheinigt hatte, eine "Anleitung zur Menschenzucht" geschrieben zu haben?

    Weiche, Satanas, Leibhaftiger, aus den heiligen Hallen der "Zeit"!

    Jener "Zeit", in der einst freie Geister wie Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer schrieben. Heute in weiten Teilen (einige Lichtblicke und Ausnahmen gibt es noch; Fossile aus besseren Tagen) herabgesunken zum Zentralorgan des "Linksliberalismus".



    Nachtrag um 20.56 Uhr: In Zettels kleinem Zimmer hat sich inzwischen der "Zeit"-Redakteur Jörg Lau zu diesem Artikel zu Wort gemeldet und geschrieben:
    Das ist leider eine Verschwörungstheorie. Natürlich hätten wir gerne Sarrazins Entgegnung gedruckt. Er hat sich anders entschieden, vermutlich erbost wegen der Härte der Kritik seines Vorsitzenden. Die Replik sofort in der FAZ zu veröffentlichen, ist eine de facto Absage an die ZEIT, wie jeder weiß, der etwas von den Gesetzen der Aktualität und der Konkurrenz im Zeitungsgewerbe versteht. Simple as that.
    Die Gesetze der Aktualität sind ja nun so: Eine Tageszeitung ist eine Tageszeitung ist eine Tageszeitung und eine Wochenzeitschrift ist eine Wochenzeitschrift ist eine Wochenzeitschrift.

    Welche "Gesetze der Aktualität und der Konkurrenz" es der Wochenzeitschrift verboten haben sollten, eine ausführliche Replik (ungefähr 2200 Wörter, wenn sie so lang geworden wäre wie der Artikel von Gabriel) zu bringen, weil eine Tageszeitung bereits eine kurze Richtigstellung (ungefähr 550 Wörter) gebracht hatte - ich fürchte, daß sich das mir nicht erschließt.

    Mir will im Gegenteil scheinen, daß es der "Zeit" auch wirtschaftlich keineswegs geschadet hätte, wenn die versprochene Replik von Sarrazin erschienen wäre.

    Mag sein, daß sie inzwischen viele Leser hat, die nur die eine, kanonische Wahrheit lesen wollen; die lesen, um in ihren Überzeugungen bestärkt zu werden und nicht, um sie an Informationen kritisch zu prüfen.

    Aber es gibt doch wahrscheinlich auch manche Leser der "Zeit", die gern gewußt hätten, was Sarrazin zu Gabriels Vorwürfen zu sagen hat. Leser, die sich über die jetzige redaktionelle Entscheidung ihre Gedanken machen werden.



    Siehe auch die Beiträge von Thomas Pauli, R.A., Gorgasal und C., die in Zettels kleinem Zimmer auf die Stellungnahme von Lau geantwortet haben und denen ich für diesen kleinen Kommentar Anregungen verdanke.



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