9. August 2008

Der Ossetienkrieg als postkolonialer Konflikt. Nebst einer Zusammenfassung der Ereignisse, die zu diesem Krieg führten

Wenn Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen werden, dann führt das häufig zu postkolonialen Konflikten; manchmal zu blutigen Kriegen wie denen in Indien nach dem Abzug der Briten und im Kongo nach demjenigen der Belgier. Die Gründe sind vielfältig; aber zwei Ursachen lassen sich fast immer konstatieren.

Zum einen wurden ethnische Konflikte durch die Kolonialmacht unterdrückt, so wie sie auch in multiethnischen, undemokratischen Staaten wie Jugoslawien unterdrückt wurden. Was sich an Konfliktstoff angestaut hatte, macht sich Luft, sobald dieser Druck nicht mehr da ist.

Da Kolonialherren und Diktaturen in der Regel wenig dazu tun, einen nationalen Konsensus wachsen zu lassen, werden ethnische Konflikte virulent, sobald die übermächtige Staatsgewalt wegfällt, die sie latent gehalten hatte.

Zweitens sind ethnische Feindschaften aber oft auch selbst ein Resultat des Prozesses der Entkolonialisierung. Denn dieser geht meist mit dem Erwachen nationaler Gefühle einher.

Unter günstigen Bedingungen entsteht dabei ein gemeinsamer Nationalismus des gesamten unabhängig gewordenen Gebiets. Oft aber zerlegt sich dieser Nationalismus in einzelne ethnische Nationalismen. Sie, die zunächst gemeinsam gegen den Kolonialherren gerichtet gewesen waren, wenden sich nun gegeneinander, sobald dieser Kolonialherr das Feld geräumt hat.



Besonders schwierig wird diese generelle Situation, wenn noch ein Spezifikum hinzukommt, das für Osteuropa und die Staaten der einstigen UdSSR typisch ist: Wie bei der russischen Puppe leben innerhalb des unabhängig gewordenen Gebiets, in dem eine ethnische Minderheit siedelt, wiederum ethnische Minderheiten. Und nicht selten gibt es noch die Puppe in der Puppe in der Puppe - Minderheiten innerhalb der Minderheiten, die in dem unabhängig gewordenen Land leben.

Die obige Karte illustriert das für Südossetien.

Die kleine Karte links zeigt Georgien, die russische Kolonie, die mit der Auflösung der UdSSR ihre Selbständigkeit erlangte. Dunkler eingezeichnet ist dort Südossetien, das auf der Hauptkarte zu sehen ist. Das ist im Groben das Siedlungsgebiet der ethnischen Ossetier, eines mit den Persern verwandten Stamms, der aus Zentralasien zunächst in das Gebiet um den Don eingewandert war und der sich im Mittelalter unter dem Druck der Mongolen in diesem Teil Georgiens angesiedelt hatte.

Auf der Karte sieht man dunkel schraffierte Gebiete im Westen, im Südosten und in der südöstlichen Mitte Südossetiens. Das ist die Puppe in der Puppe in der Puppe: Siedlungsgebiete von ethnischen Georgiern innerhalb des Siedlungsgebiets der ethnischen Osseten innerhalb des Staats Georgien. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Südossetiens ist seit der Volkszählung 1939 erstaunlich stabil geblieben: Ungefähr zwei Drittel Osseten, zwischen 25 und 30 Prozent ethnische Georgier und ungefähr zwei Prozent ethnische Russen.



Die postkoloniale Geschichte dieses Gebiets ist kompliziert; man kann sie in diesem, in diesem und ganz aktuell in diesem Artikel der Wikipedia nachlesen, der bereits den gestern ausgebrochenen Krieg behandelt.

Nach vielen Konflikten und Kompromissen, Friedensschlüssen und erneuten Konflikten war es 2007 zu einem leidlich friedlichen Zustand gekommen, in dem die beiden Verwaltungen der separatistischen "Republik Südossetien" und des georgischen "Provisorischen Verwaltungsgebiets Südossetien" nebeneinander ihre jeweiligen Gebiete kontrollierten, überwacht von georgischen und russischen Friedenstruppen.

Anfang Juli dieses Jahres kam es aber wieder zu Scharmützeln, von denen, wie üblich, unklar ist, wer angefangen hat und ob es sich um eskalierende lokale Vorfälle handelte oder um ein von der einen oder anderen Seite geplantes Vorgehen. Jedenfalls ging die Eskalation, international kaum bemerkt, zügig voran.

Russische Flugzeuge überflogen Südossetien und drangen nach Georgien ein. Georgien zog daraufhin seinen Botschafter aus Moskau ab.

Am 15. Juli tauchten Meldungen auf, wonach die Republik Südossetien erwäge, sich der Union aus Rußland und Weißrußland anzuschließen, was die endgültige Abtrennung von Georgien bedeutet hätte. Zugleich spitzte sich die Diskussion über einen Beitritt Georgiens zur Nato zu.



Dem gestern ausgebrochenen Krieg - man wird ihn so nennen müssen; es werden bereits 1400 Todesopfer gemeldet - gingen vermehrte Zwischenfälle in den ersten Augusttagen voraus.

Zunehmend griffen reguläre georgische Truppen ein. Vorgestern Abend verkündete der georgische Präsident Saakaschwili einen Waffenstillstand, der aber nur wenige Stunden hielt. In der Nacht zu gestern begann ein breit angelegter Angriff georgischer Streitkräfte, der sich auch gegen die russische Militärbasis in Zchinwali richtete. Ungefähr zeitgleich begann Rußland einen massiven Angriff, vor allem mit Panzern der 58. Armee.

Der russische Sender Russia Today berichtet seit gestern rund um die Uhr fast nur noch über diesen Krieg. Die Sondersendungen tragen Titel wie "THE WAR" und "On War". Wie zu erwarten, wird ausschließlich die russische Perspektive dargestellt. Es wird von Grausamkeiten des georgischen Militärs berichtet. Es werden Statements von Bewohnern gezeigt, die den russischen Truppen für ihr Eingreifen danken.

Wenn man Russia Today öfter sieht und dessen langsame, unaktuelle Berichterstattung kennt, dann fällt auf, wie perfekt und detailliert (einschließlich Hintergrundberichten, Grafiken, speziellen Sendungslogos) schon wenige Stunden nach Ausbruch dieses Kriegs berichtet wurde. Zumindest scheint die Redaktion von den Ereignissen nicht überrascht worden zu sein.

Aus Peking wurde Putin zugeschaltet, der sagte, wie empört er darüber sei, daß Georgien am Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele den olympischen Frieden gebrochen hätte.



Die Abbildung ist der Wikipedia entnommen. Sie ist unter GNU-Lizenz freigegeben. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.