11. Juli 2006

Randbemerkung: Das Wort

Zu den kleinen Späßchen, mit denen Thomas Mann in den "Buddenbrooks" den Leser der langen Geschichte bei Laune hält, gehört die Sache mit "dem Wort". Antonie, genannt Tony, hat den Bayern Permaneder geheiratet und zieht folglich zu ihm, ins ferne München. Bald aber ist sie wieder da, zurück im Haus in der Mengstraße, vor ihrem Mann geflohen: Wegen "des Worts", wie sie weinend sagt.

Über mehrere Kapitel erfährt der gespannte Leser nicht, welches fürchterliche Wort denn die eigentlich gar nicht so empfindliche Tony zurück ins Elternhaus getrieben hat. Man kann nur mutmaßen, was denn Permaneder so Entsetzliches gesagt hat, welches denn dieses furchtbare "Wort" gewesen ist.

Es war "Sauluada" gewesen. Als vollständiger Satz gesprochen: "Geh zum Deifi, Sauluada, dreckats!"



In dem Alter, in dem ich die Buddenbrooks das erste Mal las - ich mag sechzehn oder siebzehn gewesen sein - hat diese Episode mein Bild von den Bayern entscheidend bestimmt.

Sie hat mein prägbares Gemüt sozusagen für immer mit einem archetypischen Bayern ausgestattet, wie ihn später dann Mannsbilder wie Franz-Josef Strauß und Beppo Brem aufs Schönste verkörpert haben. Auch wenn ich einmal einen in diesem Stil schimpfenden Bayern gar nicht persönlich kenne, weil er, sagen wir, im Internet seiner Folklore frönt, steht mir alsbald der "Sauluada" schreiende Herr Alois Permaneder vor Augen.

Aber nicht um die Bayern und ihre deftige Sprache soll es hier gehen, sondern eben um "das Wort". Denn in diesen Tagen erleben wir sozusagen eine Wiederkehr der Permaneder-Affäre, und die Rolle der Tony spielt diesmal Zinedine Zidane.



Wie zum Beispiel Spiegel-Online berichtet, spricht vieles dafür, daß sein Kopfstoß, der ihm die rote Karte einbrachte, durch ein Wort ausgelöst worden war, das sein italienischer Kontrahent Materazzi gesprochen hatte. Wie bei Tony muß es irgendetwas Fürchterliches gewesen sein - etwas, das Tony stracks die eheliche Wohnung für immer verlassen ließ; etwas, das Zidane zu einer Tätlichkeit veranlaßte, deren Folgen die Franzosen möglicherweise den Weltmeistertitel gekostet haben.

Und wie der Leser der Buddenbrooks rätselt jetzt der Fußballfreund - rätseln wir also alle -, was denn dieses Wort gewesen sein mag.

Thomas Manns Leser müssen sich geduldig durch einige Kapitel lesen, bis ihre Neugier befriedigt wird. Wir haben es besser, dank der Spezialisten, die es heutzutage für alles gibt. Hier nun sind die Lippenleser gefragt.



Ja, die Lippenleser. Das ist offenbar ein Berufsstand, oder vielleicht ein Spezialgebiet des Berufsstands der Kriminologen. Wahrscheinlich ist auch die Gehörlosenpädagogik irgendwie im Spiel.

Wer auch immer diese Lippenleser sind - Spiegel-Online informiert uns, die Agenturmeldungen verwertend, über ihre vorläufigen Befunde:

  • "Sohn einer Terroristen-Hure" hat Materazzi laut der von der Londoner "Times" beauftragten Lippenleserin gesagt, was diese unter Assistenz eines Dolmetschers herausfand. Was Materazzi seinerseits aber vehement bestreitet, denn für ihn sei "die Mama heilig".

  • Der Lippenleser, dem die französische "L'Équipe" vertraut, hat dagegen kurz und kernig nur "Terrorist" von den Lippen gelesen. Wozu Materazzi anmerkt, das könne gar nicht sein, denn er wisse nicht, was ein Terrorist sei. (Ein kluger Mann also, dieser Verteidiger - denn wer weiß schon, was ein Terrorist ist? Und was vielmehr korrekt als die Tätigkeit von "Aufständischen", "Widerstandskämpfern", "Freiheitskämpfern" zu klassifizieren wäre?)

  • Die brasilianische "Globo" wiederum beruft sich auf Lippenleser, die gelesen hatten, daß Materazzi zweimal die Schwester Zidanes als Hure bezeichnet habe. Eine glaubhafte Version, wenn man weiß, welche Beleidigung unter Angehörigen der mediterranen Kulturen den Beleidigten unweigerlich zur Weißglut bringt.



  • Wir sehen: Die Experten sind sich mal wieder nicht einig. Vielleicht hat ja auch Zinedine Zidane den Materazzi mißverstanden, falls dieser - was aus den mir vorliegenden Agenturmeldungen leider nicht hervorgeht - italienisch geschimpft haben sollte.

    Denn Zidane hat zwar einmal bei Juventus Turin gespielt. Ob ihm aber die Feinheiten des Schimpfens auf italienisch geläufiger sind, als die Feinheiten des Schimpfens auf bayerisch der armen Antonie Permaneder, geschiedene Grünlich, geborene Buddenbrook gewesen waren: Das darf doch füglich bezweifelt werden.



    Üben wir uns also in Geduld. Wie bei Thomas Mann wird sich auch hier alles aufklären. Zidanes Manager Alain Migliaccio hat versprochen, daß dieser "in den nächsten" Tagen enthüllen werde, was das Wort gewesen war.