30. Oktober 2006

Ein Blick zurück auf Rotgrün

Geht es Ihnen auch so? Gut ein Jahr ist das Ende von Rotgrün erst her - und doch erscheinen diese sieben Jahre schon wie ferne Vergangenheit. Schröder, dieser jetzt in allen Kanälen wieder zu besichtigende glanzvolle Verkäufer, dieser Beau Brummel, der vor Pracht nich loofen kann - der soll einmal unser Kanzler gewesen sein? Ts, ts.

Nein, ich glaube nicht, daß diese seltsame Ferne, in die die rotgrüne Epoche so schnell gerückt ist, an der Person von Gerhard Schröder liegt. Selten hat ja ein Kanzler seine Regierungszeit so wenig geprägt wie Schröder, der immer nur die Resultante des gerade existierenden politischen Kräfteparallelogramms dargestellt hat; "dargestellt" im Wortsinn.

Es liegt vielmehr, glaube ich, daran, daß schon mit dem Abstand nur eines Jahres sichtbar wird, wie seltsam unwirklich, wie nachgerade gespenstisch diese sieben Jahre gewesen sind. Eine Zeit der Restauration, am besten vielleicht dem Frankreich der Zeit nach dem Wiener Kongreß vergleichbar, als die Bourbonen in Gestalt Ludwigs des Achtzehnten, Bruder des geköpften Sechzehnten, auf den französischen Königsthron zurückgekehrt waren und versuchten, dort weiterzumachen, wo sie 1789 hatten aufhören müssen.

Ähnlich machten die 1998 an die Macht Gewählten mit dem weiter, womit die sozialliberale Epoche 1982 zu Ende gegangen war. Freilich wollten sie nicht nur diesen Weg weitergehen, sondern sie wollten auf ihm nach links abbiegen.

Sie hatten fast alle ihre prägenden Erfahrungen in der Zeit der Achtundsechziger Revolte und in dem anschließenden Jahrzehnt erfahren - sei es als Jusos wie Schröder, Lafontaine und Wieczorek-Zeul, sei es als Straßenkämpfer wie Fischer, sei es als Mitglieder kommunistischer Parteien wie Ulla Schmidt und Jürgen Trittin, sei es als Anwalt der RAF wie Otto Schily. Sie hatten dann alle ihre politische Heimat bei der SPD und den Grünen gefunden. Dort waren sie schnell aufgestiegen; der Lange Marsch durch die Institutionen hatte geklappt.



Jedenfalls zunächst. Dann aber stockte er. Denn als sie zum Sprung an die Macht bereit waren - Anfang der achtziger Jahre -, da endete die sozialliberale Regierungszeit. Kohl kam an die Macht und regierte und regierte und regierte, volle sechzehn Jahre.

Sie wurden alt darüber, warten und warten zu müssen, diese Achtundsechziger in der SPD, bei den Grünen. Einige wichen in die Landespolitik aus. Sie waren damit erst recht fern der politischen Entwicklung; der nationalen und ganz und gar der internationalen. Wie die französischen Royalisten in der Vendée, wo sie auf ihren Schlössern saßen und auf bessere Zeiten hofften.

Dann kam für diese Achtundsechziger die Wende von 1998. Sie kam sozusagen über sie. Es ging ihnen wie den Bourbonen 1814: Unversehens waren sie doch noch an die Macht gekommen. Den Kopf voll Ideen aus ihrer Jugend. Blind für das, was inzwischen politisch auf der Tagesordnung stand: Die Globalisierung, das Ende des Sozialstaats, die Bewältigung des demographischen Wandels, die Anpassung an die Dritte Technologische Revolution, an die Erfordernisse der Dienstleistungsgesellschaft.



Das war nicht ihre Gedankenwelt. Das war für sie alles nur Propaganda des Kapitals und seiner Diener; durchsichtige Manöver im Klassenkampf. Sie wollten - so, als lebte man noch im Jahr 1975 - stattdessen den "ökologischen Umbau der Industriegesellschaft". Sie wollten den Sozialstaat nicht ab-, sondern weiter ausbauen. Sie wollten "emanzipatorische" Wissenschaft und nicht den Ausbau der Naturwissenschaften, den Deutschland dringend benötigt hätte. Sie sahen hinter der Computertechnologie den "Schnüffelstaat". Sie waren in ihrer Jugend von Wasserwerfern naßgespritzt worden, als sie gegen AKWs "demonstrierten", und jetzt genossen sie den Triumph, die Atomindustrie kirre machen zu können und sie zum "Ausstieg" zu "zwingen". "Zwingen" - ein Lieblingswort von Jürgen Trittin, der doch noch seinen Lebenstraum sich realisieren sah, über den Klassenfeind zu obsiegen.



Also legte man los, sofern das Leute in ihren späten Fünfzigern noch konnten.

Die zaghaften Ansätze aus den letzten Kohl-Jahren zur Modernisierung Deutschlands wurden zurückgenommen - die Rentenreform, die einen demographischen Faktor eingeführt hatte (laut Schröder "unanständig"); die Lockerung des Kündigungsschutzes; die Erleichterungen der Selbständigkeit. Stattdessen ging es mit Elan vorwärts in die Vergangenheit: Erweiterung des Betriebsverfassungsgestzes (zB Freistellung schon ab 200 Beschäftigten), Gesetz gegen die "Scheinselbständigkeit", Steuer- und Abgabenpflicht bei Geringfügiger Beschäftigung (also die faktische Ausheblung des 630-Mark-Gesetzes), und so weiter und so weiter.

Wenn man sich ein Bild vom Ausmaß dieser Restauration machen will, dann werfe man einen Blick in diesen Bundestagsbericht über ein Gesetzgebungsvorhaben von 1998:
Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte

Vorgangstyp: Gesetzgebung

Inhalt: (...) Aussetzung des durch das Rentenreformgesetz 1999 eingeführten demographischen Faktors und der Verschlechterungen bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, Aussetzung der erhöhten Altersgrenze für Schwerbehinderte, Erleichterung der Erfassung scheinselbständiger Arbeitnehmer in der Sozialversicherung durch Einführung eines Kriterienkatalogs aus vier Tatbestandsmerkmalen; (...) Verbesserung des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer durch Herabsetzung des Schwellenwerts für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes von zehn auf fünf Arbeitnehmer sowie Aufhebung der Auswahlrichtlinienkompetenz des Arbeitgebers bei Kündigungen; Wiederherstellung der hundertprozentigen Lohnfortzahlung bei Krankheit; Aufhebung der Befristung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes(...)

Es war der Versuch einer Restauration, und es war damit eine so offensichtliche Traumtänzerei, daß sich schon Anfang 1999 bei mir dieser Eindruck des Unwirklichen einstellte, der sich dann immer mehr verstärkte.

Ein Mehltau lag bald über dem Land. Und es war ja nicht nur die Wirtschaftspolitik, die diesen seltsam abgehoben Touch hatte. Eines der ersten Gesetze, die die neue rotgrüne Regierung einbrachte, sah eine "Entkriminalisierung" des Ladendiebstahls vor. Dieser sollte nicht mehr als Vergehen gelten, sondern nur noch eine Ordnungswidrigkeit sein. Während man in den USA und ringsum in Europa die Notwendigkeit erkannt hatte, den Jugendlichen und Heranwachsenden wieder bindende Werte zu vermitteln, wollten die Nostalgiker, die nun Deutschland regierten, ihnen per Gesetzgebung die Botschaft vermitteln, daß ein Diebstahl nicht schlimmer sein müsse als Falschparken.



Nun, es ist vorbei. Auch die heutige SPD ist ja nicht mehr die der rotgrünen Zeit. Selbst die Grünen beginnen erwachsen zu werden. Deutschland nähert sich wieder dem Rest Europas an.

Und deshalb ist es wohl so seltsam gespenstisch, wenn jetzt der Protagonist von Rotgrün - wenn auch nicht dessen Spiritus Rector -, der (welch passende Bezeichnung!) "Altkanzler", wieder ins Rampenlicht tritt.

Er erinnert mich sehr an Dirk Bogarde als Gustav von Aschenbach in Viscontis "Tod in Venedig". Seine Zeit ist vorbei, aber er hat sich noch einmal herausgeputzt und jugendlich geschminkt, ein leichtfüßiger Greis.