Sie ist ein geflügeltes Wort geworden, Kanzler Helmut Schmidts lakonische Bemerkung "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Gehört Frank-Walter Steinmeier also auf die Couch? Eine "Vision vom Jobwunder" attestierte ihm jedenfalls gestern die "Tagesschau". Steinmeier selbst wird mit der Aussage zitiert, für den Weg aus der Krise bedürfe es einer "visionären Politik".
Er hat's mit den Visionen, der Steinmeier. Im April dieses Jahres pries er Barack Obama, weil dieser als sein Ziel eine "Welt ohne Atomwaffen" verkündet hatte: "Das ist Vision und Realismus zugleich".
Steinmeier versucht in seiner Not (letzter Umfragewert für die SPD: 20 Prozent) jetzt augenscheinlich, den erfolgreichen Wahlkampf Barack Obamas zu kopieren.
Dieser war ja sozusagen umschwirrt gewesen von Visionen. Weniger von der Vision einer Welt ohne Atomwaffen - obwohl auch das vorkam, beispielsweise in Obamas Rede in Berlin - als von der Vision eines Amerika, in dem es keine Gegensätze der Rassen, der Religionen, der Weltanschauungen mehr gibt und in dem ein naiver Glauben an die eigene Omnipotenz - "Yes, we can!" - alle Träume wahr machen sollte.
"Kindlich" (childish; was man hier auch mit kindisch übersetzen kann) hat damals Dennis Prager diese Vision einer Volksgemeinschaft genannt, in der alle Gegensätze sich im Wohlgefallen kollektiver Allmachtsphantasien auflösen.
Immerhin, es hat bei Obama funktioniert; ausgezeichnet sogar. Warum soll also nicht auch Steinmeiers Kopie funktionieren?
Erstens, weil Steinmeier kein Obama ist. Zweitens, weil die Deutschen für Visionen weit weniger anfällig sind als die Amerikaner.
Der amerikanische Nationalcharakter ist bestimmt durch ein eigenartiges, in gewisser Weise faszinierendes Nebeneinander eines Down- to- Earth- Pragmatismus und der Bereitschaft, Visionen nicht nur ernstzunehmen, sondern sie auch zur Richtschnur eigenen Handelns zu machen.
Die Väter der amerikanischen Verfassung hatten die Vision einer freien und gerechten Gesellschaft, wie sie die Aufklärung entworfen hatte. Einwanderer kamen ins Land, bestimmt durch die Vision, es vom Tellerwäscher zum Millionär zu bringen. Die Vision von der "Neuen Grenze" leitete den historischen Prozeß, der durch immer weitere Ausdehnung nach Westen aus den dreizehn Gründerstaaten an der Ostküste die heutigen USA machte.
John F. Kennedy hat das aufgegriffen, als er in der Rede, in der er 1960 die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten annahm, von der "New Frontier" sprach - "the frontier of unfulfilled hopes and dreams"; die Grenze der noch nicht erfüllten Hoffnungen und Träume, über die er die USA hinausführen wolle.
Visionen waren ein Thema vieler amerikanischer Präsidenten gewesen; Woodrow Wilsons Vision einer friedlichen Welt, Franklin D. Roosevelts Vision eines New Deal, einer neuen Verteilung der Karten, die jedem Amerikaner seine Chance geben sollte. Lyndon B. Johnsons Vision einer "Great Society"; einer nicht nur großen, sondern vor allem großartigen Gesellschaft. Und jetzt eben Obamas Vision einer Volksgemeinschaft, die alle Gegensätze aufhebt.
Wenn das in den USA so schön funktioniert, warum nicht auch in Deutschland? Weil wir Deutschen überhaupt keinen Sinn für derartige Visionen haben.
Wenn wir einmal in der Politik emotional waren, dann nicht aus "unfulfilled hopes and dreams" heraus, sondern getragen von nationalem Überschwang. Was in den Freiheitskriegen noch halbwegs gut ausging. Was in Gestalt wilhelminischer Ansprüche auf einen "Platz an der Sonne" schon gar nicht mehr gut ausging. Und was in der nationalsozialistischen Travestie in eine nationale Katastrophe führte.
Nach solchen Phasen nationaler Besoffenheit folgte in der deutschen Geschichte meist eine Zeit größter Nüchternheit - das Biedermeier im frühen 19. Jahrhundert, die Zeit der pragmatischen Bonner Republik, dann der Berliner Republik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute.
Eine "skeptische Generation" war 1945 aus dem Krieg zurückgekommen. Skepsis und Nüchernheit sind bis heute Grundzüge der deutschen Befindlichkeit geblieben. Jeder weiß, daß Steinmeier ein Wolkenkuckucksheim verspricht, wenn er angekündigt, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Geht's nicht 'ne Nummer kleiner? denkt da der normale Deutsche, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit steht.
Und dann Steinmeier! Ihn als Wahlkämpfer dem begnadeten Demagogen Barack Obama nacheifern zu sehen, ist ungefähr so erheiternd, wie wenn Sigmar Gabriel eine Karriere als Model für männliche Bademode versuchen würde.
Ausgerechnet dieser dröge, graue Mensch, dem seine Coachs jetzt mühsam wenigstens das Lächeln beigebracht haben, soll uns Deutsche für Visionen begeistern. Eine krassere Fehlbesetzung kann man sich kaum vorstellen.
Ach, jehn Se mir doch wech, sagt in einem solchen Fall der Berliner.
Er hat's mit den Visionen, der Steinmeier. Im April dieses Jahres pries er Barack Obama, weil dieser als sein Ziel eine "Welt ohne Atomwaffen" verkündet hatte: "Das ist Vision und Realismus zugleich".
Steinmeier versucht in seiner Not (letzter Umfragewert für die SPD: 20 Prozent) jetzt augenscheinlich, den erfolgreichen Wahlkampf Barack Obamas zu kopieren.
Dieser war ja sozusagen umschwirrt gewesen von Visionen. Weniger von der Vision einer Welt ohne Atomwaffen - obwohl auch das vorkam, beispielsweise in Obamas Rede in Berlin - als von der Vision eines Amerika, in dem es keine Gegensätze der Rassen, der Religionen, der Weltanschauungen mehr gibt und in dem ein naiver Glauben an die eigene Omnipotenz - "Yes, we can!" - alle Träume wahr machen sollte.
"Kindlich" (childish; was man hier auch mit kindisch übersetzen kann) hat damals Dennis Prager diese Vision einer Volksgemeinschaft genannt, in der alle Gegensätze sich im Wohlgefallen kollektiver Allmachtsphantasien auflösen.
Immerhin, es hat bei Obama funktioniert; ausgezeichnet sogar. Warum soll also nicht auch Steinmeiers Kopie funktionieren?
Erstens, weil Steinmeier kein Obama ist. Zweitens, weil die Deutschen für Visionen weit weniger anfällig sind als die Amerikaner.
Der amerikanische Nationalcharakter ist bestimmt durch ein eigenartiges, in gewisser Weise faszinierendes Nebeneinander eines Down- to- Earth- Pragmatismus und der Bereitschaft, Visionen nicht nur ernstzunehmen, sondern sie auch zur Richtschnur eigenen Handelns zu machen.
Die Väter der amerikanischen Verfassung hatten die Vision einer freien und gerechten Gesellschaft, wie sie die Aufklärung entworfen hatte. Einwanderer kamen ins Land, bestimmt durch die Vision, es vom Tellerwäscher zum Millionär zu bringen. Die Vision von der "Neuen Grenze" leitete den historischen Prozeß, der durch immer weitere Ausdehnung nach Westen aus den dreizehn Gründerstaaten an der Ostküste die heutigen USA machte.
John F. Kennedy hat das aufgegriffen, als er in der Rede, in der er 1960 die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten annahm, von der "New Frontier" sprach - "the frontier of unfulfilled hopes and dreams"; die Grenze der noch nicht erfüllten Hoffnungen und Träume, über die er die USA hinausführen wolle.
Visionen waren ein Thema vieler amerikanischer Präsidenten gewesen; Woodrow Wilsons Vision einer friedlichen Welt, Franklin D. Roosevelts Vision eines New Deal, einer neuen Verteilung der Karten, die jedem Amerikaner seine Chance geben sollte. Lyndon B. Johnsons Vision einer "Great Society"; einer nicht nur großen, sondern vor allem großartigen Gesellschaft. Und jetzt eben Obamas Vision einer Volksgemeinschaft, die alle Gegensätze aufhebt.
Wenn das in den USA so schön funktioniert, warum nicht auch in Deutschland? Weil wir Deutschen überhaupt keinen Sinn für derartige Visionen haben.
Wenn wir einmal in der Politik emotional waren, dann nicht aus "unfulfilled hopes and dreams" heraus, sondern getragen von nationalem Überschwang. Was in den Freiheitskriegen noch halbwegs gut ausging. Was in Gestalt wilhelminischer Ansprüche auf einen "Platz an der Sonne" schon gar nicht mehr gut ausging. Und was in der nationalsozialistischen Travestie in eine nationale Katastrophe führte.
Nach solchen Phasen nationaler Besoffenheit folgte in der deutschen Geschichte meist eine Zeit größter Nüchternheit - das Biedermeier im frühen 19. Jahrhundert, die Zeit der pragmatischen Bonner Republik, dann der Berliner Republik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute.
Eine "skeptische Generation" war 1945 aus dem Krieg zurückgekommen. Skepsis und Nüchernheit sind bis heute Grundzüge der deutschen Befindlichkeit geblieben. Jeder weiß, daß Steinmeier ein Wolkenkuckucksheim verspricht, wenn er angekündigt, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Geht's nicht 'ne Nummer kleiner? denkt da der normale Deutsche, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit steht.
Und dann Steinmeier! Ihn als Wahlkämpfer dem begnadeten Demagogen Barack Obama nacheifern zu sehen, ist ungefähr so erheiternd, wie wenn Sigmar Gabriel eine Karriere als Model für männliche Bademode versuchen würde.
Ausgerechnet dieser dröge, graue Mensch, dem seine Coachs jetzt mühsam wenigstens das Lächeln beigebracht haben, soll uns Deutsche für Visionen begeistern. Eine krassere Fehlbesetzung kann man sich kaum vorstellen.
Ach, jehn Se mir doch wech, sagt in einem solchen Fall der Berliner.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.