22. August 2006

Staatsmacht

Angenommen, deutsche Demoskopen würden in einer Erhebung fragen: "Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?", und sie würden diese Frage in zwei Kontexten stellen:

Version A: "Es gab kürzlich einen Störfall in einem schwedischen KKW. Das könnte auch bei uns passieren. Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?"

Version B: "Kürzlich wurden Terroranschläge auf deutsche Eisenbahnzüge versucht. Weitere derartige Anschläge könnten geplant sein. Sollte der Staat mehr für unsere Sicherheit tun?"

Es ist zu erwarten, daß die Antworten auf diese beiden Versionen der Frage unterschiedlich ausfallen würden. Das ist nicht verwunderlich, denn der Kontext hat, wie die Sozialforschung weiß, einen starken Einfluß auf das Antwortverhalten.

Interessanter ist die Frage, was eine Aufschlüsselung der Befragten nach politischer Einstellung ergeben würde. Die Vorhersage ist nicht sehr gewagt, daß Befragte, die den Grünen, der PDS oder dem linken Flügel der SPD nahestehen, auf die Frage in Version A häufiger mit "ja" antworten würden als Befragte, die der CDU oder der CSU zuneigen. Und bei Version B dürfte es genau umgekehrt sein.

Es würde also - das jedenfalls ist meine Vermutung zu diesem kleinen Gedankenexperiment, die ich den folgenden Überlegungen hypothetisch zugrundelegen möchte - das geben, was die Statistik eine Kreuz-Interaktion nennen: In der einen Bedingung (Version A) liegt Gruppe X höher als Gruppe Y. In der anderen Bedingung (Version B) kehrt sich das um.



Ein solches unterschiedliches Antwortverhalten wäre unter mindestens zwei Aspekten interessant:
  • Dem der Sicherheit: Für wie gefährlich man Atomkraftwerke hält und als wie gefährlich man andererseits die Bedrohung durch den Terrorismus wahrnimmt, das ist unter anderem abhängig von der politischen Einstellung. Diesem Aspekt, der zu den Eigenarten der Gefahrenwahrnehmung gehört, will ich jetzt nicht nachgehen.

  • Zweitens drückt sich in einer solchen Kreuz-Interaktion aber auch ein unterschiedliches Vertrauen in den Staat aus, was die beiden Arten der Gefährdung angeht. Und verweist damit auf einen eigenartigen Sachverhalt: Das Vertrauen von Linken einerseits und von Konservativen andererseits in den Staat verhält sich sehr unterschiedlich, je nachdem, welcher Bereich staatlicher Tätigkeit berührt ist.
  • Es verhält sich auf eine sehr seltsame, manchmal nachgerade absurde Weise unterschiedlich.



    "LESS BREAD! MORE TAXES!" sind die Parolen eines Volksauflaufs, mit dessen Schilderung Lewis Carroll seine wunderbare Satire "Sylvie and Bruno" beginnen läßt. Mit dem Verquersten also, das man sich denken kann: Daß das Volk weniger Brot fordert, und mehr Steuern. Denn der Ruf nach weniger Steuern gehört ja, ebenso wie der nach mehr Brot, zu zu dem, was das Volk zu allen Zeiten forderte, wenn es sich erhob. Ein Volk, das mehr Steuern fordert - das war, als Lewis Carroll dieses Buch schrieb, so ungefähr das Absurdeste, was er beschreiben konnte.

    Und heute? Heute ist es keine linke Partei, die sich als "Steuersenkungspartei" zu profilieren trachtet, sondern die FDP. Hingegen hat die große linke Volkspartei gerade den Beschluß zu einer Erhöhung derjeniger Steuer durchgesetzt, die das Volk am unmittelbarsten trifft, der Mehrwertsteuer. Und auch ihre noch linkere Konkurrenzpartei tritt für Steuererhöhungen ein, wenn diese auch freilich die "Reichen" treffen sollen. Daß sie Steuersenkungen fordert, ist mir auch von ihr nicht bekannt.



    Daß linke Parteien heute ein ganz anderes Verhältnis zu Steuern haben als die Revolutionäre vergangener Jahrhunderte, liegt natürlich daran, daß sie ein ganz anderes Verhältnis zum Staat haben. Statt auf sein "Absterben" hinzuarbeiten, haben linke Parteien überall dort, wo sie die Möglichkeit dazu hatten, die Macht des Staats zu erweitern getrachtet.

    Und zwar keineswegs nur die linkstotalitären Parteien. Auch die französischen Sozialisten beispielsweise haben, als sie 1981 an die Macht kamen, alsbald mit einem großen Programm zur Verstaatlichung begonnen. Das betreffende Gesetz, das am 13. Februar 1982 in Kraft trat, erweiterte die wirtschaftliche Macht des französischen Staats drastisch. Zahlreiche Banken und große Konzerne wie Thomson und Rhône-Poulenc wurden enteignet. Bereits 1983 wurde jeder vierte französiche Beschäftigte vom Staat bezahlt.

    In kaum einem demokratischen Land durchdringt der Staat so sehr alle Lebensbereiche wie im sozialdemokratischen Musterland Schweden. Und in einem denkwürdigen Interview hat der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering Ende 2002 die etatistische Haltung der deutschen Sozialdemokratie auf die vielzitierte Formel gebracht "Weniger für den privaten Konsum - und dem Staat Geld geben".



    Was unterscheidet diesen linken Etatismus von dem vieler Konservativer? Man könnte es in einem Bild zusammenfassen: Die Konservativen vertrauen dem Vater Staat, die Linken wollen eine Mutter Staat. Viele Konservative wollen den starken Staat, wie er von der Polizei und den Gerichten symbolisiert wird. Viele Linke wollen den starken Staat, wie er vielleicht am besten durch eine der seltsamsten Kreationen der rotgrünen Regierung repräsentiert wird: Ein veritables Bundesinstitut für Risikobewertung.

    Freilich: Wie in der modernen Familie sind die Rollen von Mutter und Vater nicht mehr klar getrennt. Dieselben Linken, die sich noch vor zwei Jahrzehnten vehement gegen eine Volkszählung gewandt hatten, haben, an die Macht gekommen, 2003 ein "Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit" verabschiedet, das das Bankgeheimnis in weitem Umfang aushebelt. Der mütterliche, seine Bürger schützende, ihnen helfende Staat entwickelt sich auch im Verständnis der Linken immer mehr zu einem Staat, der sie gängelt und ihnen die Ohren langzieht, ganz à la strenger Hausvater.



    Wenn sich viele Linke und viele Konservative zunehmend einig werden, was die Hochschätzung des Staats angeht - liegt das dann vielleicht im Wesen der Sache selbst? Ist dieser zunehmende Etatismus vielleicht ein "Sachzwang", sich ergebend aus der Komplexität der modernen Gesellschaft?

    Überhaupt nicht. Gerade komplexe Systeme eignen sich nicht für eine hierarchische Organisation. Gerade sie verlangen das freie Spiel der Kräfte. Es ist just die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften, die den linken ebenso wie den rechten Etatismus so obsolet macht.

    Wir brauchen weder den Vater Staat noch die Mutter Staat. Wir brauchen überhaupt keine Staatsmacht. Was wir brauchen, das ist der Dienstleister Staat - den Anbieter solcher Dienste, die aus unterschiedlichen Gründen für die Konkurrenz des Marktes ungeeignet sind. Polizei, Justiz, Militär beispielsweise. Zentrale Planungsaufgaben, was die Infrastruktur angeht. Die Setzung und Durchsetzung der Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Wirtschaft, der Kultur, der Wissenschaften.

    Viel mehr eigentlich nicht.