"Als arm gilt hierzulande jeder, dem weniger als 60 Prozent des in seiner Region durchschnittlichen Netto- Einkommens zur Verfügung stehen", war gestern im Tagesspiegel zu lesen.
Es geht in dem Artikel des "Tagesspiegel" um eine statistische Korrelation zwischen Armut und Krankheit. Eine Korrelation, die vom Tagesspiegel kühn mit der Feststellung "Armut macht krank" interpretiert wird.
Ich will mich jetzt nicht mit dieser Interpretation einer Korrelation als Kausalzusammenhang befassen (die etwa so zwingend ist wie die bekannte Deduktion: Die Zahl der Storchennester korreliert mit der Zahl der Kinder; also werden die Kinder vom Storch gebracht), sondern mit der Definition der Armut: Arm sei, so besagt es diese Definition, wer weniger als sechzig Prozent des Durchschnittseinkommens verdient.
Um Armut messen und um damit Armutshäufigkeit zählen zu können, braucht man eine operationale Definition von "Armut".
Man könnte qualitative Kriterien verwenden - Mangelernährung, fehlende ärztliche Versorgung, die Abwesenheit von Merkmalen eines auskömmlichen Lebens (livelyhood). Das so zu ermitteln, daß man zu verläßlichen Daten gelangt, ist aber schwierig; von der Problematik eines Teils dieser Kriterien, wie sie im vierten Teil dieser Serie diskutiert wurde, ganz abgesehen.
Also basieren statistische Armutsdaten in der Regel nicht auf solchen qualitativen Kriterien, sondern auf quantitativen Merkmalen, die sich einigermaßen sicher erheben lassen. Dazu gehören zum Beispiel die Lebenserwartung, der Prozentsatz der Analphabeten, die Häufigkeit von Kinderarbeit und dergleichen.
Allerdings gelangt man auch damit noch nicht zu griffigen Aussagen darüber, wieviel Prozent einer Bevölkerung arm sind; denn natürlich korrelieren diese Kriterien nur mäßig miteinander. Im einen Land - sagen wir, Cuba - kann die Alphabetisierung gut sein, aber die Ernährungslage schlecht; anderswo - beispielsweise in einem arabischen Ölstaat - mag es umgekehrt sein. Ganz und gar kann man aufgrund derartiger Merkmale nicht die einzelne Person oder die einzelne Familie als arm klassifizieren, weil es ja häufig der Fall sein wird, daß sie gemäß Kriterium X als arm zu gelten hätte, gemäß Kriterium Y aber nicht.
Folglich wird, wenn man einen Prozentsatz von Armut ermitteln möchte, im allgemeinen die Einkommenshöhe zugrundegelegt. Das ist ein unproblematisches, leicht zu ermittelndes Kriterium.
Wenn man die Grenze, bis zu der jemand als arm betrachtet wird, anhand der Einkommenshöhe bestimmen möchte, dann gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten. Man kann dieses Limit als einen bestimmten Geldbetrag festlegen, oder man kann es auf einen Kennwert beziehen, der auf allen Einkommen basiert. Im ersten Fall definiert man absolute, im zweiten relative Armut.
Ein oft verwendetes absolutes Kriterium habe ich in früheren Teilen der Serie erwähnt: Arm ist, nach der Definition der Weltbank, wer - paritätsbereinigt - weniger als einen Dollar am Tag zum Leben hat (extreme Armut) bzw. weniger als zwei Dollar (mäßige Armut).
Die so operationalisierte Armut ist, wie zum Beispiel hier zu sehen, im Weltmaßstab massiv zurückgegangen; von rund 40 Prozent im Jahr 1981 auf 21 Prozent im Jahr 2001. Allerdings nicht gleichmäßig; im Afrika südlich der Sahara ("Schwarzafrika") hat sie sogar zugenommen.
Für Europa, für Nordamerika spielt Armut, so definiert, so gut wie keine Rolle. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in diesem absoluten Sinn arm sind. Dennoch gibt es in den betreffenden Ländern eine lebhafte Armutsdiskussion. Sie beruht darauf, daß Armut anders definiert wird, nämlich relativ. Ob jemand arm ist, wird bei dieser Art von Definition nicht mehr durch das Einkommen dieser Person oder Familie allein bestimmt, sondern wesentlich auch durch das Einkommen der anderen.
Verbreitet sind Festlegungen, die jemanden als arm definieren, wenn er weniger als 50 Prozent oder - das ist die geltende Definition in der EU - weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bezieht. Als "mittleres Einkommen" wird dabei der Median der Einkommen betrachtet, also dasjenige Einkommen, unterhalb und oberhalb von dem jeweils die Hälfte der Einkommen liegen. Manchmal wird aber auch das arithmetische Mittel verwendet. Je nach Schiefe der Verteilung ergibt das etwas abweichende Daten; der Einfachkeit halber verwende ich bei den folgenden Beispielen das geläufigere arithmetische Mittel.
Schaut man sich diese Definitionen von Armut vorurteilsfrei an, dann kommt man zu einem einfachen Ergebnis: Definitionen der Armut als Einkommen unterhalb einer Grenze, die als ein bestimmter Prozentsatzes des durchschnittlichen Einkommens bestimmt wird, sind absurd. Sie sind so erkennbar absurd, daß man sich fragt, wie jemand sie überhaupt vorschlagen, geschweige denn offiziell einführen konnte.
Sie sind absurd aus mindestens zwei Gründen:
Was also soll der Unsinn? Wie kann man mit einem Maß für Armut operieren, das so erkennbar absurd ist?
Nun, es verliert seine Absurdität sofort, wenn man unterstellt, daß es gar nicht um Armut geht, sondern um die Ungleichheit der Einkommen. Das EU-Maß mißt überhaupt nicht, ob jemand in irgendeinem vernünftigen, begründbaren Sinn arm ist. Sondern es mißt, wie stark die Einkommen gespreizt sind.
Für die Spreizung der Einkommen nun allerdings gibt es sehr viel subtilere Maße als das grobschlächtige Armuts-Kriterium der EU. Das geläufigste ist der Gini-Koeffizient.
Hier ist eine Grafik, die für eine Reihe von Ländern die Entwicklung dieses Koeffizienten über die vergangenen Jahrzehnte zeigt. Je niedriger der Koeffizient, umso weniger Ungleichheit der Einkommen gibt es, und damit - definiert man Armut relativ - tendenziell auch umso weniger Armut.
Der Staat in der Grafik, der hiernach im Jahr 2002 die geringste Armut gehabt hätte, ist Bulgarien.
Es geht in dem Artikel des "Tagesspiegel" um eine statistische Korrelation zwischen Armut und Krankheit. Eine Korrelation, die vom Tagesspiegel kühn mit der Feststellung "Armut macht krank" interpretiert wird.
Ich will mich jetzt nicht mit dieser Interpretation einer Korrelation als Kausalzusammenhang befassen (die etwa so zwingend ist wie die bekannte Deduktion: Die Zahl der Storchennester korreliert mit der Zahl der Kinder; also werden die Kinder vom Storch gebracht), sondern mit der Definition der Armut: Arm sei, so besagt es diese Definition, wer weniger als sechzig Prozent des Durchschnittseinkommens verdient.
Um Armut messen und um damit Armutshäufigkeit zählen zu können, braucht man eine operationale Definition von "Armut".
Man könnte qualitative Kriterien verwenden - Mangelernährung, fehlende ärztliche Versorgung, die Abwesenheit von Merkmalen eines auskömmlichen Lebens (livelyhood). Das so zu ermitteln, daß man zu verläßlichen Daten gelangt, ist aber schwierig; von der Problematik eines Teils dieser Kriterien, wie sie im vierten Teil dieser Serie diskutiert wurde, ganz abgesehen.
Also basieren statistische Armutsdaten in der Regel nicht auf solchen qualitativen Kriterien, sondern auf quantitativen Merkmalen, die sich einigermaßen sicher erheben lassen. Dazu gehören zum Beispiel die Lebenserwartung, der Prozentsatz der Analphabeten, die Häufigkeit von Kinderarbeit und dergleichen.
Allerdings gelangt man auch damit noch nicht zu griffigen Aussagen darüber, wieviel Prozent einer Bevölkerung arm sind; denn natürlich korrelieren diese Kriterien nur mäßig miteinander. Im einen Land - sagen wir, Cuba - kann die Alphabetisierung gut sein, aber die Ernährungslage schlecht; anderswo - beispielsweise in einem arabischen Ölstaat - mag es umgekehrt sein. Ganz und gar kann man aufgrund derartiger Merkmale nicht die einzelne Person oder die einzelne Familie als arm klassifizieren, weil es ja häufig der Fall sein wird, daß sie gemäß Kriterium X als arm zu gelten hätte, gemäß Kriterium Y aber nicht.
Folglich wird, wenn man einen Prozentsatz von Armut ermitteln möchte, im allgemeinen die Einkommenshöhe zugrundegelegt. Das ist ein unproblematisches, leicht zu ermittelndes Kriterium.
Wenn man die Grenze, bis zu der jemand als arm betrachtet wird, anhand der Einkommenshöhe bestimmen möchte, dann gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten. Man kann dieses Limit als einen bestimmten Geldbetrag festlegen, oder man kann es auf einen Kennwert beziehen, der auf allen Einkommen basiert. Im ersten Fall definiert man absolute, im zweiten relative Armut.
Ein oft verwendetes absolutes Kriterium habe ich in früheren Teilen der Serie erwähnt: Arm ist, nach der Definition der Weltbank, wer - paritätsbereinigt - weniger als einen Dollar am Tag zum Leben hat (extreme Armut) bzw. weniger als zwei Dollar (mäßige Armut).
Die so operationalisierte Armut ist, wie zum Beispiel hier zu sehen, im Weltmaßstab massiv zurückgegangen; von rund 40 Prozent im Jahr 1981 auf 21 Prozent im Jahr 2001. Allerdings nicht gleichmäßig; im Afrika südlich der Sahara ("Schwarzafrika") hat sie sogar zugenommen.
Für Europa, für Nordamerika spielt Armut, so definiert, so gut wie keine Rolle. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in diesem absoluten Sinn arm sind. Dennoch gibt es in den betreffenden Ländern eine lebhafte Armutsdiskussion. Sie beruht darauf, daß Armut anders definiert wird, nämlich relativ. Ob jemand arm ist, wird bei dieser Art von Definition nicht mehr durch das Einkommen dieser Person oder Familie allein bestimmt, sondern wesentlich auch durch das Einkommen der anderen.
Verbreitet sind Festlegungen, die jemanden als arm definieren, wenn er weniger als 50 Prozent oder - das ist die geltende Definition in der EU - weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bezieht. Als "mittleres Einkommen" wird dabei der Median der Einkommen betrachtet, also dasjenige Einkommen, unterhalb und oberhalb von dem jeweils die Hälfte der Einkommen liegen. Manchmal wird aber auch das arithmetische Mittel verwendet. Je nach Schiefe der Verteilung ergibt das etwas abweichende Daten; der Einfachkeit halber verwende ich bei den folgenden Beispielen das geläufigere arithmetische Mittel.
Schaut man sich diese Definitionen von Armut vorurteilsfrei an, dann kommt man zu einem einfachen Ergebnis: Definitionen der Armut als Einkommen unterhalb einer Grenze, die als ein bestimmter Prozentsatzes des durchschnittlichen Einkommens bestimmt wird, sind absurd. Sie sind so erkennbar absurd, daß man sich fragt, wie jemand sie überhaupt vorschlagen, geschweige denn offiziell einführen konnte.
Sie sind absurd aus mindestens zwei Gründen:
Erstens implizieren sie, daß die Armen einfach dadurch aus ihrer Armut befreit werden können, daß man die Einkommen der Reichen reduziert.
Nehmen wir den folgenden fiktiven Fall: In einem Land X verdient das unterste Quintil (die untersten zwanzig Prozent) 1.000 Dollar, das nächste Quintil 2.000 Dollar, das dritte 5.000, das vierte 10.000 und das oberste Quintil 50.000 Dollar. Das Durchschnittseinkommen beträgt somit 13.600 Dollar. Jemand, der 6.000 Dollar verdient, liegt bei weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, ist also gemäß der EU-Definition arm.
Wie befreit man ihn aus seiner Armut? Nichts einfacher als das: Die Einkommen des obersten Quintils werden radikal besteuert, so daß deren Durchschnitt auf 30.000 Dollar absinkt. Das mittlere Einkommen liegt dann nur noch bei 9.600 Dollar, und unser Einkommensbezieher ist mit seinen 6.000 Dollar aus seiner Armut erlöst.
Es geht ihm zwar nicht besser als zuvor. Bei seinem Einkommen, bei Einkommen seiner Nachbarn und seiner Bekannten hat sich ja nichts geändert. Nur diejenigen, deren Einkommen sich auf seine Lebensqualität überhaupt nicht auswirkt, sind in ihrem Einkommen beschnitten worden. Aber schwupp! - der zuvor Arme ist nicht mehr arm.Die zweite Absurdität ist noch offensichtlicher. Wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens "seiner Region" bezieht, sei nach EU-Definition arm, so heißt es in der eingangs zitierten Passage aus dem "Tagesspiegel".
Ja, was ist das denn, "seine Region"? Seine Gemeinde, sein Bundesland, sein Kanton oder sein Département? Seine Nation? Oder die EU? Jemand kann von Arm zu Reich, wieder zu Arm und wieder zu Reich wechseln, so wie Alice durch das Knabbern am Pilz mal schrumpfte und mal wuchs, je nachdem, was man als "Region" zu definieren beliebt. Ein Bauer mag der Reichste in seinem Dorf sein - als Luxemburger ist er vielleicht arm. Und als EU-Europäer wieder weit davon entfernt, arm zu sein. Viele Einwohner der DDR, die - in der "Region" DDR - alles andere als arm gewesen waren, wurden - jetzt in der "Region" Bundesrepublik Deutschland - mit dem Tag der Wiedervereinigung zu Armen. Auch wenn es ihnen von diesem Tag an besser ging.
Was also soll der Unsinn? Wie kann man mit einem Maß für Armut operieren, das so erkennbar absurd ist?
Nun, es verliert seine Absurdität sofort, wenn man unterstellt, daß es gar nicht um Armut geht, sondern um die Ungleichheit der Einkommen. Das EU-Maß mißt überhaupt nicht, ob jemand in irgendeinem vernünftigen, begründbaren Sinn arm ist. Sondern es mißt, wie stark die Einkommen gespreizt sind.
Für die Spreizung der Einkommen nun allerdings gibt es sehr viel subtilere Maße als das grobschlächtige Armuts-Kriterium der EU. Das geläufigste ist der Gini-Koeffizient.
Hier ist eine Grafik, die für eine Reihe von Ländern die Entwicklung dieses Koeffizienten über die vergangenen Jahrzehnte zeigt. Je niedriger der Koeffizient, umso weniger Ungleichheit der Einkommen gibt es, und damit - definiert man Armut relativ - tendenziell auch umso weniger Armut.
Der Staat in der Grafik, der hiernach im Jahr 2002 die geringste Armut gehabt hätte, ist Bulgarien.