7. Dezember 2006

Bekenntnisse eines Killerspielers

Ich war von Kindheit an ein Killer­spieler. Die erste Killer­waffe habe ich als Sieben­jähriger gebaut. Danach wurden die Waffen mir von Erwachsenen geschenkt. Ich habe sie auf andere Menschen gerichtet, Kinder und Erwachsene.

Es begann, als ich in der Nachkriegszeit keinen Zugang zu Waffen hatte. Ich habe mir also meine eigene gebaut, einen Flitzebogen. Entscheidend war die Biegsamkeit des Weiden­astes und das herausgeschnittene Stück aus einem Holunder­ast, das man auf den Pfeil setzen und durch Hin- und Herschieben austarieren mußte.

Damit habe ich auf Bäume, Tiere, Menschen gezielt. Der Pfeil traf selten; aber die Absicht, zu treffen, bestand.

Als ich auf die Grundschule - sie hieß damals Volksschule - kam, erhielt ich meine erste Feuerwaffe. Eine schwarze Pistole, zwar nur aus Plastik, aber sonst sehr realistisch. Sie verschoß Wasser, und ich habe sie mit großer Freude auf Menschen gerichtet. Manchmal quiekte mein Vater, wenn ich ihn wieder einmal getroffen hatte. Mir zuliebe.

Aber sie war stumm, meine Pistole. Also schrie ich immer "bumm!", wenn ich auf jemanden schoß. Und die Betreffenden taten mir oft den Gefallen und schrien zurück: "aua!" Oder sie hielten sich die getroffene Stelle, oder sanken gar, wenn sie mir besonders wohlgesonnen waren, als tot darnieder.



Es fehlte diesen meinen ersten Waffen allerdings nicht nur der Bumm, sondern auch der Geruch.

Dem wurde abgeholfen, als ich meine erste Zünd­plättchen­pistole bekam. Ich mag damals acht oder neun gewesen sein. Diese Pistole war, streng genommen, keine Pistole, sondern ein Revolver. Ein richtiger, schwarzer Revolver aus Metall. Man öffnete, wie das beim Revolver notwendig ist, das Magazin, indem man es seitlich herausklappte. Dann legte man die Zündplättchen ein und schob das Magazin zurück. Wenn man schoß, dann flog zwar keine Kugel aus dem Lauf, aber das Zündplättchen zündete. Und es roch - das war das Wesentliche - nach Pulver. Pulverrauch, echt.

Mit diesem Revolver habe ich auf Menschen gehalten, was das Zeug hielt. Ich hatte ihn im Karneval dabei, mal als Trapper und mal als Cowboy. Der Friseur unseres Städtchens bot zum Karneval einen Sonderservice: Er bemalte die Kinder. Ich bekam Schnurrbart und Kinnbart. Und lief dann zwei oder drei Tage rum, auf alles schießend, was mir vor den Revolver kam.

Das war schön. Oder, in heutiger Sprache: Es war echt geil.



Im Sommer waren wir beim Onkel auf dem Land, einem Landpastor. Wir spielten Indianer, fast immer. Jeder hatte seine Waffen - ich den Revolver wieder, aber auch Pfeil und Bogen. Auch selbstgebastelte Lanzen hatten manche. Die einen waren Winnetou und Intschu Tschuna. Andere nur Blitzmesser oder Old Wabble.

Das wurde ausgefochten, wer wer war; logischerweise. Man ging mit Lanzen aufeinander los. Es wurde auch schon mal jemand am Marterpfahl befestigt.

Kurzum, wir waren Killerspieler, den ganzen Sommer über. Killerspielen, das war unsere Welt. Auch die der Squaws, auch wenn sie weniger aufs Killen aus waren



Etwas später, als ich vielleicht elf war, verbrachten wir den Sommer in der Schweiz, in Morschach ob Brunnen. Damals war ich so killerspielsüchtig, daß ich fast nur als waffenbehangener Indianer herumlief. Einmal stürmte ich, den Kriegsruf ausstoßend (man schreit "hiiiiiii" und haut sich dabei rhythmisch auf den Mund), einen Weg hinunter, den ein starker Schweizer emporklimmte. Er hat mich kurz beiseitegestoßen, und ich landete im Graben. Buchstäblich, ich rollte einen Abhang hinab, meine Lanze schwingend, matter werdende Kriegsrufe ausstoßend.

Auch ein Killerspiel. Allerdings mußte ich zugeben, daß diesmal ich der Gekillte war.

Dann kam die Luftpistole, das Luftgewehr. Meine Luftpistole war eigentlich keine. Sie verschoß die Geschosse dadurch, daß eine Feder gespannt und mit Betätigung des Abschusses plötzlich entspannt wurde. Man verschoß damit eine Art Pfeile mit einer Gummispitze, die sich durch Unterdruck an das Ziel heftete. Mein Freund hatte aber ein wirkliches Luftgewehr, mit dem er mal auf Äste schoß, mal auf Vögel. Ja, auf Vögel. Er war aber kein Krimineller. Er war Sohn eines Physikers, und er hat sich später sehr schön entwickelt.



Danach war es nicht mehr viel mit den Killerspielen. Ich "durchlief" das Gymnasium, wurde irgendwie intellektueller, verlor den Bezug zur Gewalt.

Ich bekam, als ich als Zweitsemester meinen Eltern mitteilte, ich würde den Sommer über in Frankreich per autostop herumtrampen, eine Gaspistole geschenkt; zu meiner Sicherheit. (Man konnte sie damals, 1961, frei kaufen, und meine Mutter begleitete mich ins Waffengeschäft).

Eine Gaspistole - das war im Prinzip eine Pistole, nur nicht durchgebohrt. Ich hatte sie beim Trampen, jede Sommerferien, immer in der linken Brusttasche. Einmal hätte ich fast geschossen. Das war, als mich spätabends jemand in einsamer Gegend mitgenommen hatte und er mir plötzlich sagte, wir würden jetzt in den Wald fahren, weil er mir ein altes Schloß zeigen wollte.

Da hatte ich die Pistole schon entsichert. Aber er wollte mir wirklich nur das Schloß zeigen. Oder vielleicht war ich auch nicht sein Typ.



Blicken wir zurück: Irgendwie habe ich es geschafft, bisher niemanden zu ermorden, obwohl ich mit Killerspielen aufgewachsen bin.

Liegt es daran, daß die Killerspiele meiner Jugend weniger realistisch gewesen waren als die Killerspiele der heute Jungen? Das Gegenteil ist der Fall: Ich habe auf reale Menschen angelegt. Wer heute ein Egoshooter-Spiel spielt, der legt virtuell auf einen virtuellen Gegner an. Weit weniger realistisch also.

Liegt es daran, daß heute die ganze Welt aggressiver geprägt ist als in den Fünfzigern, den Sechzigern? Ich kann das überhaupt nicht sehen. Mein ganzes Leben lang habe ich nicht so viele freundliche, friedliche, liebe Menschen erlebt wie heute.

Wir sind doch auf dem Weg in eine feminisierte Gesellschaft. Schutz und Sicherheit, Pflegen und Hegen allenthalben. Nie war es so sicher, in diesem Land zu leben.

Wir werden behütet und betütelt, daß uns der Atem wegbleibt.



So sehr herrscht überall Sicherheit, daß selbst ein Gymnasiast, der im Web eine kleine Drohung ausstößt, ein ganzes Bundesland in den Ausnahmezustand versetzen kann.

Glückliches Deutschland also? Hm, so ganz sicher bin ich nicht.



Titelvignette: SigP220-Pistole. Autor: Rama. Frei unter Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 France Licence