23. Oktober 2008

Die soziale Kluft in Deutschland wird immer größer - stimmt's? Über Schlagworte und die Wirklichkeit

Nicht wahr, das haben Sie doch gerade erst gehört und gelesen: "Wachsende soziale Kluft in Deutschland - Reiche werden reicher, Arme bleiben arm". Oder auch: "Tiefe Kluft zwischen Arm und Reich"?

Das bezieht sich doch sicher auf die Untersuchung der OECD, die in diesen Tagen Schlagzeilen macht?

Nein. Beides sind Titel von zurückliegenden Meldungen der Tagesschau. Die erste stammt vom 7. November 2007, die zweite vom 19. Mai 2008. Solche Meldungen wiederholen sich so regelmäßig, wie man uns darüber informiert, daß das Weltklima wärmer wird und daß Paris Hilton einen neuen Lover hat.

Wenn es immer wieder gemeldet wird, dann muß es doch wohl stimmen, daß Deutschland das "Land der Armen" ist, wie die "Frankfurter Rundschau" am Dienstag titelte?

Sehen wir uns eine andere Version dieser Meldung an, die am gleichen Tag die "Welt" unter der Überschrift "Soziale Kluft öffnete sich in Deutschland rasant" brachte:
Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich deutlich stärker geöffnet. Die Einkommensunterschiede und der Anteil armer Menschen an der Bevölkerung nahmen in der Bundesrepublik schneller zu als in den meisten anderen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Dies geht aus der OECD-Studie "Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?" hervor.
Die Hauptergebnisse dieser Untersuchung werden ebenso wie die wichtigsten Ergebnisse zu Deutschland zum Herunterladen angeboten. Auf das, was in diesen beiden PDF- Dateien steht, stütze ich mich im folgenden; sowie auf die hier von der OECD populär zusammengefaßten Ergebnisse.



Was die allgemeinen Daten angeht, so zeigt sich in der Tat für die meisten Länder in Europa eine Zunahme der Ungleichheit in den Einkommen.

Diese wird mit dem Gini- Koeffizienten gemessen, der operationalisiert, wie weit die Verteilung der Einkommen von einer Gleichverteilung abweicht. Ein Gini- Koeffizient null bedeutet, daß alle Dasselbe verdienen. Ein Koeffizient eins wäre erreicht, wenn eine einzige Person alles verdiente und alle anderen nichts.

Ausgedrückt im Gini- Koeffizienten ist die Ungleichheit der Einkommen in den meisten Ländern Europas also gestiegen; allerdings nicht sehr. Der Gini- Koeffizient lag 2005 um sieben bis acht Prozent höher als in der Mitte der achtziger Jahre - er sei "mäßig, aber signifikant" gestiegen, heißt es in dem Bericht. Von - siehe unten - ungefähr 0,29 auf ungefähr 0,31.

Das lag nur zum Teil daran, daß die Einkommen der Besserverdienenden stärker stiegen als die der unteren Einkommensgruppen. Ein entscheidender Faktor war die Zunahme der Arbeitslosigkeit zwischen der Mitte der achtziger Jahre und 2005. Dies traf vor allem die schlecht Qualifizierten, die dadurch als Gruppe hinter der allgemeinen Entwicklung der Einkommen zurückblieben.

Weiterhin erhöhte sich die Zahl der Single- Haushalte, deren Einkommen im Schnitt unter dem von Familienhaushalten liegt. (Die Einkommen werden pro Haushalt und nicht pro Person berechnet).

Und wie sieht es nun in Deutschland aus? Hier sehen Sie die Entwicklung des Gini- Koeffizienten für die gesamte OECD und für Deutschland von der Mitte der achtziger Jahre bis 2005:

Man sieht: Die Werte für Deutschland liegen durchweg unterhalb des Durchschnitts der OECD. Mit anderen Worten, in Deutschland herrscht eine größere Gleichheit der Einkommen als im OECD- Raum als Bezugswert.

Zweitens: Bis ungefähr 2000 sind die Koeffizienten sowohl für die gesamte OECD als auch für Deutschland leicht gestiegen, ohne daß sich aber an diesem Abstand etwas geändert hätte. Deutschland lag sogar 2000 etwas weiter unter dem Durchschnitt als Mitte der achtziger Jahre.

Tatsächlich verringert hat sich aber der Abstand zwischen 2000 und 2005 - also während der Regierungszeit von Rotgrün.

Das ist kein Wunder, denn in dieser Zeit stieg die Arbeitslosigkeit und stagnierte die Wirtschaft. Als Rotgrün abgewählt wurde, war Deutschland von der Konjunktur- Lokomotive der EU zum Schlußlicht bei vielen ökonomischen Indizes geworden. Wenn der allgemeine Wohlstand sinkt, dann trifft das immer besonders die Geringerverdienenden. Die schlechte Wirtschaftspolitik unter Rotgrün traf, wie auch anders, vor allem die sozial Schwachen.

Der Bericht der OECD beschreibt diesen Zusammenhang in klaren Worten:
Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985 – 2000). Die steigende Ungleichheit ist arbeitsmarktinduziert. Einerseits nahm die Spreizung der Löhne und Gehälter seit 1995 drastisch zu – notabene nach einer langen Periode der Stabilität. Andererseits erhöhte sich die Anzahl der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen auf 19% – den höchsten Wert innerhalb der OECD. Ebenso ist der Anstieg der Ungleichheit auf Änderungen in der Haushaltsstruktur zurückzuführen, wie etwa die Zunahme von Single-Haushalten und Alleinerziehenden.
Und wie hat sich der Gini- Koeffizient entwickelt, seit Rotgrün abgewählt wurde? Dazu heißt es:
Die vergleichenden Ergebnisse der OECD Studie beziehen sich auf den Zeitraum 1985 – 2005. Neuere nationale Ergebnisse, die auf derselben Datenquelle beruhen (SOEP), zeigen auf, dass sich der Trend zu einer ungleicheren Einkommensverteilung 2006 fortgesetzt hat, 2007 allerdings zu einem vorläufigen Ende gekommen ist.
Mit der zu erwartenden Verzögerung wirkt sich also der Aufschwung, der mit dem Ende von Rotgrün (und zuvor schon durch die Agenda 2010) eingeleitet wurde, so aus, wie es zu erwarten gewesen war: Arbeitslose kehrten in eine Beschäftigung zurück, und damit stieg ihr Einkommen.



Bleibt das Thema Armut. Der Anteil der Armen liegt nach der Berechnung der OECD in Deutschland in der Tat hoch - bei 11 Prozent.

Wie es mit der Aussagekraft dieses Werts steht, erhellt daraus, daß er, nach derselben Methode berechnet, in Ungarn mit 7,1 Prozent weit niedriger als in Deutschland liegt! (Gapminder Graphs anklicken).

Wie kann es sein, daß es im armen Ungarn prozentual weniger Arme gibt als im reichen Deutschland? Das liegt an der Definition von Armut. Arm ist in der Defintion der OECD jede Familie, deren Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens (Median aller Einkommen) beträgt. Verdienen viele Menschen relativ wenig, dann liegt dieser Durchschnitt niedrig, und es gibt folglich wenige Arme. Geht es allen ungefähr gleich schlecht, dann gibt es nach der Definition der OECD so gut wie keine Armen.

Ausführlich diskutiert habe ich den Widersinn dieses Index für Armut im Mai dieses Jahres anläßlich des Armutsberichts der Bundesregierung und zuvor schon einmal innerhalb einer kleinen Serie über Armut; dort vor allem in der vierten und der fünften Folge.



Das sind die Fakten; die wichtigsten jedenfalls. Und die Schlagzeilen dazu lauten "Deutschland - Land der Armen", ""Soziale Kluft öffnete sich in Deutschland rasant".

Wie nicht anders zu erwarten, hat "Spiegel- Online" wieder einmal den Vogel abgeschossen. Die Fakten, die ich genannt habe, werden dort so interpretiert:
Die Kluft zwischen Arm und Reich reißt in Deutschland immer weiter auf. Einer neuen OECD-Studie zufolge haben sich Einkommensunterschiede und Armutsquote drastisch verschlimmert - schneller als in den meisten anderen Industrieländern der Welt.
Berichterstattung? Agitprop.



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