26. Oktober 2008

Zitat des Tages: "In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht". Hans-Werner Sinn über Antisemitismus damals, Ressentiments gegen Manager heute

"In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken", sagte er dem Tagesspiegel. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 "hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager".

Der "Tagesspiegel" in seiner morgen erscheinenden Ausgabe über ein Gespräch mit dem Chef des Ifo-Instituts Hans- Werner Sinn.

Kommentar: Es gibt Vergleiche, die empörend sind. Das Wort "Hühner-KZ" ist ein Beispiel. Es ist empörend, wenn fanatische Vegetarier von einem "Holocaust auf deinem Teller" schwadronieren, oder wenn ein Führer der Hamas es als einen "wirklichen Holocaust" bezeichnet, wenn Israel die Überweisung von Steuermitteln an eine Hamas- Regierung einstellt.

Ebenso abwegig ist es, die Flucht von Palästinensern mit dem Holocaust auf eine Stufe zu stellen oder andere Vergleiche mit dem Holocaust vorzunehmen, wie man sie zum Beispiel in einem lesenswerten Artikel in "Liza's Welt" vom Juli vergangenen Jahres zusammengestellt findet.



Dies vorweg, um klarzustellen, wie ich zu solchen Vergleichen stehe; auch um Beifall von der falschen Seite gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Dieser könnte mir drohen, weil ich jetzt die Äußerung von Hans- Werner Sinn verteidigen möchte. Sie verteidigen möchte in dem Sinn, daß ich das, was er sagt, für zutreffend halte. Ich halte es allerdings für falsch, daß er es in dieser Form gesagt hat.

Sinn hat dem "Tagesspiegel" ein Interview gegeben. Aber es wird dort nicht als Interview gedruckt, sondern es werden einzelne Äußerungen herausgegriffen. Ob sie repräsentativ sind für das, was Sinn zur jetzigen Finanzkrise zu sagen hatte, kann der Leser folglich nicht beurteilen.

Soweit man es dem Artikel im "Tagesspiegel" entnehmen kann, ging es Sinn um die Ursachen für diese Krise und um einen Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise von 1929:
Niemand habe damals an einen "anonymen Systemfehler" glauben wollen, der die Krise ausgelöst habe, befand Sinn. Zugleich bezeichnete er das 480- Milliarden- Euro- Rettungspaket für die Banken als richtig. Sonst hätte es wie 1929 "dramatische Folgen" gegeben. "Eine Kernschmelze im Finanzsystem, Massenarbeitslosigkeit, die Radikalisierung der Länder der westlichen Welt, am Ende eine Systemkrise der Marktwirtschaft. Die deutsche Geschichte ist hier ja ganz klar."
In diesem Zusammenhang wies Sinn darauf hin, daß es damals wie heute die Tendenz gab und gibt, nicht objektive Ursachen für die Krise zu sehen, sondern sie Personen als den vermeintlich Schuldigen zuzuschreiben. Das seien damals "die Juden" gewesen, so wie heute "die Manager".

Dieser Vergleich ist, so scheint mir, zutreffend.

Der Antisemitismus ist ja, anders als der Holocaust, nicht etwas in vieler Hinsicht Singuläres. Er ist - leider - etwas, das sich in den unterschiedlichsten Formen in vielen Ländern findet und fand, das freilich hinter diesen vielen Erscheinungsformen wenige, identifizierbare Motive hat. Dazu gehört die Ablehnung von Fremdem, dazu gehört Neid, dazu gehört eine Neigung zu Verschwörungstheorien, und dazu gehört eben auch der Versuch, Personen oder Personengruppen für das verantwortlich zu machen, was einem selbst an Negativem widerfährt.

Dieser letzte Punkt ist es, den Sinn mit seinem Vergleich anspricht. Denn eine solche Zuschreibung geschieht auch jetzt, wenn "die Gier der Manager" für die jetzige Finanzkrise verantwortlich gemacht wird.

Das ist sozusagen an der Oberfläche die Analogie; die zutreffende Parallele. Man könnte diese darüber hinaus genauer verfolgen und fragen, wieweit der damalige gegen "das Finanzjudentum", gegen die amerikanische "Ostküste" sich richtende Antisemitismus zum Teil auf demselben antikapitalistischen Ressentiment basierte wie heute der Haß auf die "gierigen Manager"; wieweit da dieselben Klischees wirksam sind.

Nicht ohne Grund hat ja der FAZ-Journalist Peter Richter einen Auftritt des Kandidaten Sodann, der gern Josef Ackermann verhaften möchte, so kommentiert: "Von einer NPD-Versammlung unterscheidet sich diese Veranstaltung im Grunde nur dadurch, dass NPD-Mitglieder wenigstens wissen, dass sie rechtsradikal und ressentimentgetrieben sind".



Also, in der Sache hat Sinn aus meiner Sicht Recht: Damals wie heute werden Personengruppen als "Schuldige" für etwas angeprangert, das in Wahrheit auf ein Zusammenwirken zahlreicher objektiver Ursachen zurückgeht. Und zweitens - das sagt Sinn nicht; es ist meine Meinung -: Die Ressentiments, die dem zugrundeliegen, gehen zum Teil auf dieselbe antikapitalistische Haltung zurück.

Aber es ist eine ganz andere Frage, ob es geschickt war, eine solche von der Sache her berechtigte Parallele in der Form zu ziehen, in der Sinn das getan hat.

Sie nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung über die Ursachen der beiden Krisen zu ziehen, sondern in einem Zeitungs- Interview. Einem Interview, das diese Zeitung noch dazu nun gar nicht abgedruckt, sondern aus dem sie nur ein paar Sätze, ja Satzteile zitiert. Bisher jedenfalls. Kein Wunder, daß das zu falschen Deutungen dessen einlädt, was Sinn meinte.

Hans-Werner Sinn dachte gewiß nicht im Traum daran, zu bestreiten, daß der damalige Antisemitismus zu unvergleichbar schlimmeren Folgen geführt hat, als sie jetzt jemals von dem Ressentiment gegen Manager zu erwarten sind. Eine solche Parallele auch nur zu erwägen wäre dermaßen absurd, daß einem rational denkenden Mann wie Sinn gar nicht bewußt gewesen sein dürfte, daß man so etwas auch nur vermuten würde können.

Aber wenn zwei Phänomene auch unvergleichbar verschiedene Folgen haben, dann können sie ja doch - in diesem Fall partiell - auf dieselben Ursachen zurückgehen. Darauf hat Sinn aufmerksam gemacht.



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