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19. Juni 2009

Gedanken zu Frankreich (31): "Ist es absurd, das Unmögliche zu erstreben?" In Frankreich tobt das Abitur. Und Politiker denken mit

Es ist schon Tradition in diesem Blog, auf das französische Abitur aufmerksam zu machen, das Baccalauréat, meist kurz Bac genannt.

Vor zwei Jahren habe ich über den Charakter und den Ablauf dieser feierlichen Prüfung berichtet, die über Tage hinweg eines der Hauptthemen in der französischen Öffentlichkeit ist. Im vergangenen Jahr ging es um die Themen des Aufsatzes in Philosophie. Ihn muß jeder Abiturient - egal welchen Zweiges - schreiben; und er eröffnet traditionell Mitte Juni die schriftlichen Prüfungen. Gestern wurde diese Épreuve écrite de Philosophie geschrieben.

Wie letztes Jahr finde ich die Themen interessant genug, um sie mitzuteilen. Zum einen, weil sie zeigen, welche intellektuellen Ansprüche jeder französische Abiturient erfüllen muß. Ansprüche, von denen ich nicht sicher bin, ob viele deutsche Abiturienten ihnen genügen könnten. Zum anderen, weil einige dieser Fragen ja recht nachdenkenswert sind.

Und drittens, weil eine von ihnen gestern auch einer Reihe von Politikern vorgelegt wurde. Sie brauchten sich freilich nicht an einem Aufsatz abzumühen, sondern sie durften frisch von der Leber weg sagen, was ihnen gerade so einfiel. Aber auch das war zum Teil gar nicht so schlecht.



Ab gestern Morgen um 8 Uhr wurden die Aufsätze geschrieben. Gestern Abend um 17:59 Uhr stellte der Nouvel Observateur die Themen ins Netz; jedenfalls diejenigen des Allgemeinen Abiturs; die des Technologischen Abiturs fehlen noch.

Auf dem Weg zum Allgemeinen Abitur kann man zwischen drei Zweigen wählen: Dem geisteswssenschaftlichen (Série Littéraire), dem naturwissenschaftlichen (Série Scientifique) und dem wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen (Série Economique et Social). Die betreffenden Kandidaten haben im Philosophie- Aufsatz unterschiedliche Themen zur Auswahl; und dessen Ergebnis geht mit unterschiedlichem Gewicht in ihre Abiturnote ein.

Hier sind die diesjährigen Themen:

Geisteswissenschaftlicher Zweig:
  • L'objectivité de l'histoire suppose-t-elle l'impartialité de l'historien?
    Bedingt die Objektivität der Geschichte die Unparteilichkeit des Historikers?

  • Le langage trahit-il la pensée?
    Ist die Sprache eine Verräterin des Denkens?

  • Expliquer un extrait du "Monde comme volonté et comme représentation" de Schopenhauer.
    Erläuterung eines Auszugs aus "Die Welt als Wille und Vorstellung" von Schopenhauer
  • Naturwissenschaftlicher Zweig:
  • Est-il absurde de désirer l'impossible?
    Ist es absurd, das Unmögliche zu erstreben?

  • Y a-t-il des questions auxquelles aucune science ne répond?
    Gibt es Fragen, auf die keine Wissenschaft eine Antwort hat?

  • Expliquer un extrait de "La démocratie en Amérique" d'Alexis de Tocqueville.
    Erläuterung eines Auszugs aus "Über die Demokratie in Amerika" von Alexis de Tocqueville
  • Wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Zweig:
  • Que gagne-t-on à échanger?
    Was gewinnt man durch den Austausch?

  • Le développement technique transforme-t-il les hommes ?
    Verändert die technische Entwicklung die Menschen?

  • Expliquer un extrait de "Essai sur l'entendement humain" de John Locke.
    Erläuterung eines Auszugs aus dem "Versuch über den menschlichenn Verstand" von John Locke.
  • Wie immer wird jedem Zweig also ein fachphilosophisches Thema angeboten - Schopenhauer steht in hohem Ansehen; er war auch letztes Jahr schon mit dabei. Die beiden anderen Themen sind das, was man in Deutschland früher "Besinnungsaufsätze" nannte; meist als Frage formuliert.

    Obwohl es sich um Themen von allgemeinem Interesse handelt, geht man auf die Spezialisierungen in dem jeweiligen Zweig ein. Die Naturwissenschaftler werden meist nach einem philosophischen Aspekt der Wissenschaft gefragt; bei den Sozialwissenschaftlern geht es oft um gesellschaftliche Themen im weiteren Sinn.



    Das also erregt in Frankreich die Öffentlichkeit in diesen Juni- Wochen. Wenn ich in der Überschrift sage, daß das Abitur "tobt", dann ist das nur wenig übertrieben. Die linke Tageszeitung Libération hatte gestern ein ganzes Dossier zu diesem Thema. Und einer der vielen Blogs zum Abitur, Mention très bien bei der Tageszeitung Le Monde, berichtete über den Vorabend des Philosophie- Aufsatzes: "chacun 'retenait son souffle'"; jeder hielt den Atem an.

    Bei soviel nationalem Interesse an einem Thema kann natürlich auch die Politik nicht schweigen. Der Nouvel Observateur hat einer Reihe von Politikern die Frage vorgelegt: "Ist es absurd, das Unmögliche zu erstreben?".

    Der Sozialist François Hollande, einst Lebensgefährte von Ségolène Royal und selbst als Kandidat für die Präsidentschaft gehandelt, meinte, nein, das sei nicht absurd - "Mais à une condition, réussir le possible"; aber nur unter der Bedingung, daß man das Mögliche erreicht. Naja.

    Schon deutlich philosophischer antwortete François Bayrou, der auch einmal Präsident hatte werden wollen und der jetzt der kleinen liberalen Partei MoDem vorsteht: " ... c'est purement et simplement la vie des hommes. C'est cela qui fait l'humanité. Ce n'est donc pas absurde : c'est vital!" - das Unmögliche zu erstreben, das sei schlicht und einfach das Leben des Menschen. Dies sei es, was das Menschsein ausmache. Es sei also nicht absurd - es sei lebensnotwendig.

    Die dümmste Antwort gab, wen wundert's, der Vertreter der Parti de Gauche, des französischen Franchise- Partners der deutschen Partei "Die Linke". Dieser Jean- Luc Mélenchon also antwortete: "... vivre est absurde, selon Camus et tant d'autres. On doit donc imaginer Sisyphe heureux. Ce serait ça, mon plan". Leben sei, laut Camus und so vielen anderen, absurd. Man müsse sich also Sisyphus als glücklich vorstellen. Das wäre, sagte der Vorsitzende Mélenchon, "sein Plan".

    Warum diese Antwort die dümmste sei, fragen Sie, lieber Leser? Denken Sie darüber nach! Sie müssen ja nicht gleich einen Philosophie- Aufsatz schreiben.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

    25. Juni 2008

    Gedanken zu Frankreich (24): Sartre, Schopenhauer, Kant. Was französische Abiturienten wissen müssen

    In diesem Blog gab es schon einmal, als im vergangenen Jahr die Prüfungen liefen, einen Artikel über das Abitur in Frankreich. Jetzt ist wieder die Zeit des Baccalauréat gekommen. Ich möchte das zum Anlaß nehmen, über die Themen der diesjährigen Aufsätze in Philosophie zu berichten.

    Warum? Weil mir das ein Licht darauf zu werfen scheint, was man in Frankreich an Kenntnissen und vor allem an Fähigkeiten zur Reflexion und zur Argumentation von Abiturienten erwartet.

    Hier also die Liste der Themen für den Philosophie- Aufsatz. Philosophie ist in Frankreich Pflichtfach an allen Gymnasien. Die Themen sind verschieden für die Zweige der Oberstufe, zwischen denen man sich in Frankreich entscheiden muß. Aus den drei Themen für jeden Zweig wählt der Kandidat eines aus.


    Literarischer Zweig (Série L):
  • La perception peut-elle s'éduquer?
    Kann die Wahrnehmung sich ausbilden?

  • Une connaissance scientifique du vivant est-elle possible?
    Ist eine wissenschaftliche Erkenntnis des Lebendigen möglich?

  • Expliquer un extrait des "Cahiers pour une morale" de Sartre
    Kommentierung eines Auszugs aus den "Cahiers pour une morale" (Notizhefte zu einer Moral) von Sartre.

  • (Natur-)wissenschaftlicher Zweig (Série S):
  • L'art transforme-t-il notre conscience du réel?
    Verändert die Kunst unser Bewußtsein von der Wirklichkeit?

  • Y a-t-il d'autres moyens que la démonstration pour établir une vérité?
    Gibt es andere Mittel als die experimentelle Demonstration, um eine Wahrheit zu beweisen?

  • Expliquer un extrait de "Le monde comme volonté et comme représentation" de Schopenhauer
    Kommentierung eines Auszugs aus "Die Welt als Wille und Vorstellung" von Schopenhauer

  • Wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Zweig (Série ES)
  • Peut-on désirer sans souffrir?
    Kann man wünschen, ohne zu leiden?

  • Est-il plus facile de connaître autrui que de se connaître soi-même?
    Ist es leichter, einen anderen zu erkennen als sich selbst?

  • Expliquer un extrait de "De la démocratie en Amérique" de Alexis de Tocqueville
    Kommentierung eines Auszugs aus "De la démocratie en Amérique" (Über die Demokratie in Amerika) von Alexis de Tocqueville

  • Technologischer Zweig (Série T)
  • Peut-on aimer une œuvre d'art sans la comprendre?
    Kann man ein Kunstwerk lieben, ohne es zu verstehen?

  • Est-ce à la loi de décider de mon bonheur?
    Ist es Sache des Gesetzes, über mein Glück zu entscheiden?

  • Répondre à des questions d'après un texte de Kant
    Beantwortung von Fragen zu einem Text von Kant.

  • Ich bin nicht auf dem Laufenden, was im Augenblick in den einzelnen deutschen Ländern von Abiturienten im Fach Philosophie bzw. im wohl teilweise vergleichbaren Aufsatz in Deutsch verlangt wird. Es würde mich aber sehr wundern, wenn irgendwo auch nur annähernd das Niveau dieser Themen im französischen Baccalauréat erreicht werden würde.

    Aber vielleicht irre ich mich ja.



    Links zu den früheren Folgen dieser Serie findet man hier. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    3. Juli 2007

    Gedanken zu Frankreich (16): Concours, Abitur, Datenschutz

    Frankreich ist kein Land des freien Wettbewerbs, aber es ist ein Land der Concours. Ein Wort mit derselben lateinischen Wurzel wie "Konkurrenz". Aber die Konkurrenz, die die Franzosen so sehr schätzen, ist nicht die auf einem freien Markt, sondern die um Ehren, Titel, Zulassungen.

    Ein Concours im engeren Sinn ist der Wettbewerb um einen von einer begrenzten Zahl von Plätzen. Jede der Grandes Écoles - der Elite- Hochschulen - hat zum Beispiel pro Jahrgang eine bestimmte Zahl von Studienplätzen zu vergeben. Es findet ein Auswahlverfahren in Gestalt mehrtägiger Prüfungen statt, als dessen Ergebnis eine Rangreihe der Kandidaten erstellt wird. Die Plätze werden gemäß dieser Ränge vergeben.

    Das Baccalauréat, umgangssprachlich Bachot oder kurz Bac, ist, streng genommen, kein Concours, denn die Zahl der Erfolgreichen ist nicht vorgegeben.

    Jedenfalls nicht formal. De facto ist die Erfolgsrate Jahr für Jahr ziemlich exakt dieselbe.

    Anders als ein deutscher Abiturient, der das Abitur in der Regel so gut wie in der Tasche hat, wenn er es erst einmal bis dahin geschafft hat, hat der französische Schüler, der sich um das Bachot bemüht, eine sozusagen ausgezeichnete Chance, durchzufallen.

    Sie hängt von der jeweiligen Spezialisierungsrichtung ab. Wie man aktuell in der Internetausgabe des "Nouvel Observateur" lesen kann, nahmen an der jetzt beendeten Prüfung exakt 498 497 Kandidaten und Kandidatinnen teil. Die Erfolgsquote liegt traditionell zwischen ungefähr 75 Prozent für das Allgemeine Bac und weniger als 60 Prozent für das in Technologie. (Es gibt etliche weitere Spezialisierungen).



    So weit, so gut - sieht man davon ab, daß deutsche Abiturienten angesichts solcher Durchfall- Quoten vermutlich erbleichen würden wie der Herr Keuner. Für deutsche Maßstäbe wirklich erstaunlich ist aber die Öffentlichkeit, in der sich das alles abspielt.

    Die Namen der in die Grandes Écoles Aufgenommenen werden Jahr für Jahr in der überregionalen Presse veröffentlicht - in Le Monde, im Figaro.

    Nun gut, sie waren erfolgreich, sie sind die zukünftige Elite des Landes. Warum soll nicht das ganze Land erfahren, wer sie sind. Aber öffentlich gemacht werden auch die Ergebnisse des Bac.



    Anfang der achtziger Jahre habe ich es an einer deutschen Uni erlebt, daß sich die Teilnehmer eines Seminars weigerten, auch nur ihre Namen in eine Teilnehmerliste einzutragen. Damit, so argumenierten sie, wolle die Uni sie nur in ein starres Curriculum zwingen. Allenfalls waren sie bereit, mir ihren Vornamen zu verraten.

    Das war auf dem Höhepunkt einer Datenschutz- Hysterie, die ein paar Jahre später - 1987 - noch einmal darin gipfelte, daß etwas so Harmloses wie eine Volkszählung zu einer aberwitzigen Kampagne führte, in der Ziviler Ungehorsam propagiert wurde, so als seien Faschisten dabei, die Macht in der Bundesrepublik zu übernehmen.

    Fragebögen wurden öffentlich verbrannt; ein ganzes Netzwerk des "Widerstands" wurde organisiert - nur, weil die Behörden wissen wollten, wieviele Personen in einem Haushalt lebten und dergleichen.

    Die Gemüter haben sich inzwischen beruhigt, aber noch immer ist Deutschland ein Land mit einem extremen Verständnis von Datenschutz. In Unis beispielsweise dürfen noch nicht einmal die Namen derer ans Schwarze Brett geheftet oder ins Web gestellt werden, die eine Klausur bestanden haben; nur die Matrikel- Nummern.

    Wie anders ist das in Frankreich! Die Ergebnisse des Bac werden veröffentlicht - mit Namen und Geburtsdatum der Kandidaten; auch wenn sie durchgefallen sind. Hier ist ein beliebig herausgegriffenes Beispiel; die Kandidaten aus dem Schulbezirk Besançon.



    PS: Wenn man ein wenig in dieser Liste blättert, dann wird man sehen, daß etliche der Kandidaten Vornamen wie Laila, Fatima, Tahmina, Azziz haben.

    Entgegen einem in Deutschland weitverbreiteten Vorurteil, das sich aus den aufgeplusterten Berichten über "Unruhen in der Banlieue" speist, sind moslemische Einwanderer in Frankreich überwiegend besser integriert als in Deutschland. Viele machen das Abitur und studieren; ganz anders als in Deutschland.

    Nur erfährt man halt von denen, die auf die Gymnasien gehen, das Abitur machen, studieren, kaum etwas. Während diejenigen, die Präsident Sarkozy zu Recht als Gesindel bezeichnet hat, mit ein wenig Randale sofort Schlagzeilen machen.

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