11. Juni 2008

Anmerkungen zu Sigmund Freud (1): Freud, Marx, Einstein

Sie in einem Atemzug zu nennen ist nachgerade zum Topos geworden.

Die drei genialsten Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts. Alle drei zwar keine religiösen Juden, aber doch in der jüdischen Kultur verwurzelt, so wie alle drei auch in der deutschen Kultur zu Hause waren.

Alle drei hätten, so heißt es, das wissenschaftliche Weltbild radikal verändert, jeder in einem anderen Bereich: Marx das der Sozialwissenschaften, Einstein das der Naturwissenschaften und Freud das der Humanwissenschaften.

Alle drei hätten, so sagt man, unsere Sicht auf den Menschen und die Welt relativiert: Marx, indem er das, was wir für Wahrheit halten, als auf materielle Interessen gegründet entlarvte; Einstein, indem er den Dimensionen der Zeit und des Raums ihren absoluten Charakter nahm; Freud, indem er - so hatte er selbst es formuliert - nachwies, daß unser Ich "nicht Herr im eigenen Haus" ist.



Das ist ja nicht ganz falsch. Aber etwas Entscheidendes wird übersehen, wenn man die drei in dieser Weise nicht nur nebeneinander, sondern auf dieselbe Stufe stellt: Ihr ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Rang.

Einstein war ein schon zu seiner Zeit, erst recht heute, von der Fachwelt anerkannter Ausnahmewissenschaftler. Jemand, dessen Theorien weitgehend die experimentelle Nachprüfung bestanden haben und inzwischen längst in der Technik genutzt wären; GPS zum Beispiel könnte ohne die Berücksichtigung der Allgemeinen Relativitätstheorie gar nicht exakt funktionieren.

Karl Marx andererseits war zu Lebzeiten niemals in der Fachwelt anerkannt; in keiner der zahlreichen Disziplinen, in denen er dilettierte, von der Philosophie, die er zu studieren vorgegeben hatte, über die Jurisprudenz, deren Doktorgrad er von einer Universität erhielt, an der er niemals studiert hatte, bis hin zur Geschichtswissenschaft, zur Nationalökonomie, zur Soziologie, von denen er behauptete, er habe sie auf neue Grundlagen gestellt.

Marx war kein Wissenschaftler. Er war ein in diversen Wissenschaften dilettierender Amateurphilosoph, dessen Philosophie alle Züge einer Erlösungsreligion trug. Insofern kann man ihn als einen Religionsgründer sehen; den Gründer einer vierten großen Offenbarungsreligion, nach Moses, Christus und Mohammed.

Wie in den drei anderen Religionen hat sich um die Schriften und Lehren des Gründers herum auch im Marxismus eine zeitweise bedeutende Gelehrsamkeit entwickelt; was den Eindruck erzeugen kann, auch Marx sei ein Wissenschaflter gewesen. Er war das aber, pointiert gesagt, so wenig wie Mohammed.



Und Freud? Ich habe Einstein und Marx natürlich konstrastiert, um in Bezug auf Freud die Frage zu stellen, um die es mir geht: Ist er, was den wissenschaftlichen Rang angeht, auf dieselbe Stufe zu stellen wie Marx? War er also nur der Gründer einer in diesem Fall nicht Religion, aber doch Sekte? Oder spielt er für die Erforschung der menschlichen Psyche eine ähnliche Rolle wie Einstein für das Verständnis der physischen Welt?

Beide Sichten auf ihn gibt es nicht nur heute, sondern gab es schon zu seinen Lebzeiten.

Freud schaffte es, binnen einiger Jahrzehnte aus den Ideen eines Einzelgängers, der anfangs nur den Psychiater Breuer und den HNO-Arzt Fließ zu Gesprächspartnern gehabt hatte, eine große wissenschaftliche Bewegung zu machen, die an Universitäten in vielen Ländern Fuß fassen konnte. Aber zugleich zog er eine Ablehnung, ja einen Haß auf sich, wie sie kaum ein anderer Wissenschaftler des 19. oder 20. Jahrhunderts erleben mußte.

Das hält bis heute an. Noch immer gibt es "Freudianer", die in Freuds Werken in ähnlicher Weise unumstößliche Wahrheiten finden, wie die Schriften von Marx und Engels für orthodoxe Marxisten den Rang Heiliger Schriften haben. Und noch immer gibt es Stimmen, die in Freud einen Scharlatan sehen, einen Mann, der wie Marx nur vorgab, ein Wissenschaftler zu sein.

Aus meiner Sicht sind diese beiden Positionen ungefähr gleich weit von einer gerechten Beurteilung der Leistungen Freuds entfernt.

Freud ist es nicht gelungen, wissenschaftliche Erkenntnisse von einer ähnlichen Solidität zu finden wie Einstein; nachprüfbar und der Nachprüfung standhaltend. Kaum eine seiner Behauptungen kann heute, nach rund einem Jahrhundert psychoanalytischer Forschung und der Forschung zur Psychoanalyse, als zweifelsfrei bestätigt gelten.

Aber anders als Marx war Freud ein ernsthafter und auch ein großer Wissenschaftler, der sich der Grenzen seiner Methoden bewußt gewesen ist und der seine Theorien immer wieder im Licht neuer empirischer Daten überprüft und modifiziert hat.

Wie paßt das zusammen? Wie kann man jemanden als einen großen Wissenschaftler rubrizieren und zugleich sagen, daß selbst nach hundert Jahren sich keine seiner Behauptungen unanfechtbar bestätigt hätte? Dazu einige Gedanken im zweiten Teil.



Mit Dank an den geschätzten Bloggerkollegen Califax, dessen Kritik an Freud mich zu dieser kleinen Serie angeregt hat. - Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.