4. Juni 2007

Wir Achtundsechziger (1): Wie alles anfing

Wie peinlich mag das jemandem erschienen sein, der zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre alt ist?

Das "Philosophische Quartett" des ZDF befaßte sich gestern mit den Achtundsechzigern. Vier alte Männer, die in Früherem schwelgten, nach dem Motto: Weißt du noch, wie verrückt wir damals waren?

Freilich kluge alte Männer. Der sehr kluge Rüdiger Safranski, der sehr kluge Volker Schlöndorff. Und noch zwei andere, die auch das eine oder andere zu sagen hatten.

Es war also nicht nur das "Wißt ihr noch?", schenkelklatschend. Sondern es gab schon Überlegungen, Analysen vielleicht.

Locker-flockig freilich. Ein Geplauder in der heiteren Atmosphäre von Leuten, die prima aus dem allen herausgekommen sind, die sich ihre Ironie und Unverbindlichkeit bewahrt haben.



Mich hat das veranlaßt, über meine eigenen Erinnerungen an diese Zeit nachzudenken. Es wird wohl eine kleine Serie werden.

Unser Thema heute lautet: "Wie alles anfing".

Es fing keineswegs 1968 an, auch nicht 1967. Es fing - jedenfalls in meiner Sicht - 1962 an. Nämlich mit der "Spiegel"-Affäre".



Ich habe die Adenauerzeit nicht als die "bleierne Zeit" erlebt, als die sie auch meine diskutierenden vier Generationsgenossen im "Philosophischen Quartett" wieder einmal geschildert haben.

Gewiß, es gab ein Ausmaß öffentlicher Kontrolle über das Leben des Einzelnen, wie es sich heute Sozialisten erträumen.

Man konnte "erledigt" sein, wenn man ein uneheliches Kind bekam. Homosexuelle standen mit einem Bein im Gefängnis.

Meine Mutter, die Gerichtsgutachterin war, hatte eine Frau zu begutachten, die der "Kuppelei" angeklagt war. Sie hatte es nicht verhindert, daß ihr Enkel mit einem Mädchen gemeinsam in ihrer Wohnung übernachtete. Darauf stand Gefängnis.

Von meiner Schule wurde ein Schüler verwiesen - consilium abeundi mit dem Verbot, ihn in irgendein Gymnasium des Bundeslandes aufzunehmen -, weil er Aktfotos in die Schule mitgebracht hatte.

Arno Schmidt wurde im Land Rheinland- Pfalz der "Gotteslästerei und Pornographie" angeklagt, wegen "Seelandschaft mit Pocahontas", einem seiner frühen Meisterwerke.



Aber verurteilt wurde er nicht, Arno Schmidt. Er zog nach Darmstadt, Hessen. Und er bekam ein Gutachten des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hermann Kasack, das nicht ehrender hätte ausfallen können. Damit war sein Freispruch klar.

So war das generell, in dieser heute so oft negativ dargestellten Adenauerzeit: Es gab ein Maß an "Gegenöffentlichkeit", von dem wir heute nur träumen können.

In Bonn herrschten die Schwarzen, das ist wahr.

Aber in vielen Ländern - im Hessen von Georg August Zinn, im Niedersachsen von Hinrich Wilhelm Kopf, im Berlin von Ernst Reuter, Luise Schröder, Willy Brandt zum Beispiel - herrschten ebenso unangefochten die Linken.

Der Geist stand links. Der "Spiegel" war das einzige Nachrichtenmagazin; mit einer Macht, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die Verlage, die meisten Zeitungen, das gesamte Geistesleben waren fest in linker Hand.

Die "Gruppe 47", eine Vereinigung von fast ausschließlich linken Schriftstellern, hatte ein Monopol, wie es heute niemand mehr aufbauen kann.

Wer dort durchfiel, der war erledigt. Wer die Protektion von Heinz Werner Richter genoß, der hatte es geschafft; wer nicht, der hatte es schwer. Koeppen und Schmidt haben das zu spüren bekommen; Grass und Böll wurden hochgeschrieben.



Das alles war also schön im Gleichgewicht. Die Macht Adenauers in der Politik, die von Pferdmenges in der Wirtschaft. Die von Augstein (und vielen anderen Linken und Liberalen) in der Publizistik. Die von Rowohlt und Unseldt in den Verlagen. Die von Richter, bald auch Grass, Enzensberger, Böll im "Geistesleben".

Aus den Fugen geriet das 1962 mit der "Spiegel"-Affäre: Die Politik versuchte dieses Gleichgewicht zu beseitigen, indem sie das wichtigste Presseorgan zu vernichten trachtete.

Ich habe damals an meiner ersten Demonstration teilgenommen. Ich habe damals - was mir zuvor ganz ferngelegen hatte - zum ersten Mal den Verdacht gehabt, daß einige unserer Politiker keine Demokraten sein könnten.

Franz-Josef Strauß war, so sehe ich es heute, ein Demokrat. Aber ihm fehlte der Sinn für Maß und Proportionen. Er wollte den persönlichen Gegner fertigmachen, Rudolf Augstein. (Der das umgekehrt auch mit Strauß vorhatte).



Also, so schlimm war das im Grunde nicht, 1962. Aber für uns, die jungen Leute von damals, war es ein Wendepunkt.

Die "Spiegel-Affäre" war, aus meiner heutigen Sicht, das Ereignis, das zu den Verirrungen, zu den Maßlosigkeiten, zu den Dummheiten vieler Achtundsechziger führte. Damals begannen wir das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat zu verlieren.