Im Rußland gibt es die Tradition, daß der Widerstand gegen die Diktatur wesentlich von Wissenschaftlern getragen wird; von Menschen wie dem Nuklearphysiker Andrej Sacharow, dem Biologen Jaurès Medwedew, dem Mathematiker Nathan Scharanski.
Unter den heutigen Bedingungen einer Restauration der Diktatur unter Ersetzung der kommunistischen durch eine nationalistische Ideologie lebt diese Tradition wieder auf. Ein Beispiel ist der Physiker und Informatiker Sergej Schpilkin.
Sie haben noch nie von Sergej Schpilkin gehört? Ich auch nicht, bis ich eine Meldung in der gestrigen London Times las, von der man eigentlich erwarten könnte, daß sie auch bei uns Schlagzeilen macht. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, jedenfalls bisher nicht.
Daß Wladimir Putin mit dem Ende seiner zweiten Amtszeit als Staatspräsident die Macht nicht aus der Hand geben würde, habe ich hier seit Februar 2007 immer einmal wieder geschrieben; zuletzt fiel mir zu Putin nur noch ein, Witze über ihn weiterzuerzählen.
Als er sich - was ich für eher unwahrscheinlich gehalten hatte - für den riskanten Weg entschied, einen seiner ihm ergebenen Leute zum Staatspräsidenten zu machen und selbst als Ministerpräsident die Macht weiter zu behalten, da war klar, daß er diesen Dmitri Medwedew auch würde wählen lassen können. Er brauchte ja nur den Apparat, der schon vor den Duma-Wahlen eingerichtet worden war, auf Medwedew umzuprogrammieren.
Daß dabei mit allen Mitteln der Propaganda gearbeitet werden würde, war abzusehen. Nun aber gibt es massive Hinweise darauf, daß die Wahl Medwedews regelrecht gefälscht wurde.
Nicht, daß er nicht auch ohne Fälschungen eine Mehrheit bekommen hätte. Aber sie wäre ohne Wahlfälschungen deutlich geringer ausgefallen. Das jedenfalls sagt Sergej Schpilkin. Der Korrespondent Tony Halpin war für die London Times auf einem Seminar des Carnegie Center, auf dem Schpilkin am Mittwoch seine Ergebnisse vortrug.
Wahlbeobachter der EU waren bekanntlich nicht zugelassen worden. Schpilkin stützte sich überhaupt nicht auf unmittelbare Beobachtungen, die Unregelmäßigkeiten ermittelt hätten. Sondern er analysierte ganz schlicht die offiziellen Wahlergebnisse, wie sie von der Zentralen Wahlkommission auf deren WebSite veröffentlicht worden waren.
Wie kann man es solchen Daten ansehen, ob sie echt oder gefälscht sind?
Wie alle empirischen Daten unterliegen Wahlergebnisse bestimmten mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Fälscher entlarven sich dadurch, daß die veröffentlichten Ergebnisse diesen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gehorchen. Zum Nachweis solcher Abweichungen gibt es verschiedene Methoden, die beispielsweise auch von Rechnungsprüfern verwendet werden; etwa die Anwendung des Benford'schen Gesetzes.
(Ein Beispiel: Versuchen Sie einmal, eine zufällige Buchstabenfolge aufzuschreiben. Sie werden feststellen, daß sie sich deutlich von einer wirklichen Zufallsfolge unterscheidet, wie Sie sie bekommen, wenn Sie aus einem Scrabble- Spiel alle Buchstaben des Alphabets je einmal herausnehmen, sie kräftig mischen und dann - mit Zurücklegen! - echte Zufallsfolgen ziehen).
Welche Verfahren Schpilkin im einzelnen eingesetzt hat, um Fälschungen nachzuweisen und zu einer quantitativen Schätzung ihres Umfangs zu kommen, geht aus dem Bericht in der Times leider nicht hervor. Zwei sehr einfache Verfahren werden dort aber als Beispiele genannt:
Wie er das im Einzelnen gemacht hat, geht, wie gesagt, aus dem Bericht von Tony Halpin nicht hervor; aber Halpin erwähnt zwei weitere Fachleute (Sergej Schulgin, Wahlanalytiker am Institut für Angewandte Ökonomie und Andrej Buzin, Leiter einer regionübergreifenden Vereinigung von Wählern), die Schpilkins Analyse bestätigen.
Wenn sie stimmt, dann lag die Wahlbeteiligung nicht bei den offiziell angegebenen 69,7 Prozent, sondern nur bei 56 Prozent. Und von diesen 56 Prozent stimmten nicht, wie die Zentrale Wahlkommission gemeldet hatte, 70,3 Prozent für Medwedew, sondern nur 63 Prozent.
Keine dramatischen Fälschungen also. Aber wenn man die beiden jeweiligen Werte kombiniert, dann ergibt sich, daß nicht, wie offiziell behauptet, 49 Prozent aller Wahlberechtigten für Medwedew gestimmt hatten, sondern nur ein gutes Drittel (35,3 Prozent).
Es ist sicher wünschenswert, daß die Berechnungen von Schpilkin von anderen Mathematikern überprüft werden; die zugrundeliegenden Zahlen sind ja öffentlich zugänglich.
Setzen wir einmal voraus, daß Schpilkins Arbeit der Nachprüfung standhält: Wie kann man so etwas verstehen? Warum wurde im großen Stil gefälscht, obwohl doch Medwedew überhaupt keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten hatte; obwohl doch seine Wahl auch ohne Fälschungen festgestanden hätte?
Vielleicht fallen Ihnen, lieber Leser, bessere Erklärungen ein als die, die ich jetzt nenne:
Unter den heutigen Bedingungen einer Restauration der Diktatur unter Ersetzung der kommunistischen durch eine nationalistische Ideologie lebt diese Tradition wieder auf. Ein Beispiel ist der Physiker und Informatiker Sergej Schpilkin.
Sie haben noch nie von Sergej Schpilkin gehört? Ich auch nicht, bis ich eine Meldung in der gestrigen London Times las, von der man eigentlich erwarten könnte, daß sie auch bei uns Schlagzeilen macht. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, jedenfalls bisher nicht.
Daß Wladimir Putin mit dem Ende seiner zweiten Amtszeit als Staatspräsident die Macht nicht aus der Hand geben würde, habe ich hier seit Februar 2007 immer einmal wieder geschrieben; zuletzt fiel mir zu Putin nur noch ein, Witze über ihn weiterzuerzählen.
Als er sich - was ich für eher unwahrscheinlich gehalten hatte - für den riskanten Weg entschied, einen seiner ihm ergebenen Leute zum Staatspräsidenten zu machen und selbst als Ministerpräsident die Macht weiter zu behalten, da war klar, daß er diesen Dmitri Medwedew auch würde wählen lassen können. Er brauchte ja nur den Apparat, der schon vor den Duma-Wahlen eingerichtet worden war, auf Medwedew umzuprogrammieren.
Daß dabei mit allen Mitteln der Propaganda gearbeitet werden würde, war abzusehen. Nun aber gibt es massive Hinweise darauf, daß die Wahl Medwedews regelrecht gefälscht wurde.
Nicht, daß er nicht auch ohne Fälschungen eine Mehrheit bekommen hätte. Aber sie wäre ohne Wahlfälschungen deutlich geringer ausgefallen. Das jedenfalls sagt Sergej Schpilkin. Der Korrespondent Tony Halpin war für die London Times auf einem Seminar des Carnegie Center, auf dem Schpilkin am Mittwoch seine Ergebnisse vortrug.
Wahlbeobachter der EU waren bekanntlich nicht zugelassen worden. Schpilkin stützte sich überhaupt nicht auf unmittelbare Beobachtungen, die Unregelmäßigkeiten ermittelt hätten. Sondern er analysierte ganz schlicht die offiziellen Wahlergebnisse, wie sie von der Zentralen Wahlkommission auf deren WebSite veröffentlicht worden waren.
Wie kann man es solchen Daten ansehen, ob sie echt oder gefälscht sind?
Wie alle empirischen Daten unterliegen Wahlergebnisse bestimmten mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Fälscher entlarven sich dadurch, daß die veröffentlichten Ergebnisse diesen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gehorchen. Zum Nachweis solcher Abweichungen gibt es verschiedene Methoden, die beispielsweise auch von Rechnungsprüfern verwendet werden; etwa die Anwendung des Benford'schen Gesetzes.
(Ein Beispiel: Versuchen Sie einmal, eine zufällige Buchstabenfolge aufzuschreiben. Sie werden feststellen, daß sie sich deutlich von einer wirklichen Zufallsfolge unterscheidet, wie Sie sie bekommen, wenn Sie aus einem Scrabble- Spiel alle Buchstaben des Alphabets je einmal herausnehmen, sie kräftig mischen und dann - mit Zurücklegen! - echte Zufallsfolgen ziehen).
Welche Verfahren Schpilkin im einzelnen eingesetzt hat, um Fälschungen nachzuweisen und zu einer quantitativen Schätzung ihres Umfangs zu kommen, geht aus dem Bericht in der Times leider nicht hervor. Zwei sehr einfache Verfahren werden dort aber als Beispiele genannt:
Dies sind elementare Aspekte gefälscher Daten, die für sich genommen sicher nicht ausreichten, um das zu tun, was Schpilkin machte: Die Fälschungen aus den Ergebnissen herauszurechnen.Überzufällig häufig endeten die Ergebnisse für Medwedew, die aus den einzelnen Wahllokalen gemeldet wurden, mit der Ziffer 5 oder der Ziffer 0. Der so ungefähr plumpste Hinweis auf eine Fälschung, den man sich vorstellen kann. Die Verteilung der Ergebnisse folgt normalerweise einer Gauss'schen Kurve (siehe Titelvignette). Schpilkin fand für Fälschungen charakteristische Abweichungen von einer derartigen Verteilung.
Wie er das im Einzelnen gemacht hat, geht, wie gesagt, aus dem Bericht von Tony Halpin nicht hervor; aber Halpin erwähnt zwei weitere Fachleute (Sergej Schulgin, Wahlanalytiker am Institut für Angewandte Ökonomie und Andrej Buzin, Leiter einer regionübergreifenden Vereinigung von Wählern), die Schpilkins Analyse bestätigen.
Wenn sie stimmt, dann lag die Wahlbeteiligung nicht bei den offiziell angegebenen 69,7 Prozent, sondern nur bei 56 Prozent. Und von diesen 56 Prozent stimmten nicht, wie die Zentrale Wahlkommission gemeldet hatte, 70,3 Prozent für Medwedew, sondern nur 63 Prozent.
Keine dramatischen Fälschungen also. Aber wenn man die beiden jeweiligen Werte kombiniert, dann ergibt sich, daß nicht, wie offiziell behauptet, 49 Prozent aller Wahlberechtigten für Medwedew gestimmt hatten, sondern nur ein gutes Drittel (35,3 Prozent).
Es ist sicher wünschenswert, daß die Berechnungen von Schpilkin von anderen Mathematikern überprüft werden; die zugrundeliegenden Zahlen sind ja öffentlich zugänglich.
Setzen wir einmal voraus, daß Schpilkins Arbeit der Nachprüfung standhält: Wie kann man so etwas verstehen? Warum wurde im großen Stil gefälscht, obwohl doch Medwedew überhaupt keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten hatte; obwohl doch seine Wahl auch ohne Fälschungen festgestanden hätte?
Vielleicht fallen Ihnen, lieber Leser, bessere Erklärungen ein als die, die ich jetzt nenne:
Das sind, wie gesagt, Vermutungen. Ich kann das nicht beweisen. Von besseren Erklärungen lasse ich mich gern überzeugen.In vielen Dikaturen ist es für den verantwortlichen Funktionär persönlich vorteilhaft, ein möglichst "gutes" Wahlergebnis aus seinem Bereich zu melden. Das bedeutete zu Sowjet- und DDR- Zeiten ein Signal an seine Oberen, daß er seine Leute im Griff hatte; ob nun in einem Wohnbezirk oder - was auch jetzt noch in Rußland üblich ist - beim geschlossenen Abstimmen innerhalb von Fabriken, Kasernen usw. Es dürfte auch im heutigen Rußland noch Ähnliches bedeuten. Zweitens: Man kann nie wissen. Geheimdientler wie Putin sind von einem Kontrollwahn besessen; bei Mielke war das ähnlich. Es könnte ja sein, daß das Volk doch renitenter ist, als man es eingeschätzt hat. Also ist eine Sicherheitsmarge in Gestalt von gefälschten Stimmzetteln oder gefälschten Ergebnislisten immer gut. Sodann brauchte Putin nicht nur einfach den Wahlsieg für Medwedew, sondern ein möglichts hohes Ergebnis. Erst das bestätigte, daß er die Machtfülle eines Zaren oder eines KP-Generalsekretärs erreicht hat: Er kann irgendeine beliebige Person bestimmen, und die Russen werden sie gehörsam mit großer Mehrheit wählen. Und viertens schließlich darf man nicht die, sagen wir, Lust am Fälschen als Selbstzweck unterschätzen. Dem Kontrollwahn korrespondiert bei solchen machtsüchtigen Geheimdienstlern - sozusagen als dessen operatives Gegenstück - die Willkür. Ein Wahlergebnis hinnehmen, wie es der Wähler nun einmal liefert - das ist in ihren Augen unwürdig; ein Zeichen von Schwäche. Nur wer nach Belieben fälschen kann, und alle müssen es schlucken, ist in ihren Augen wirklich mächtig. Nur er ist der Selbstherrscher.
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