12. April 2008

Muß Polygamie eigentlich verboten sein?

In dieser Randbemerkung will ich nicht eine Meinung vertreten, sondern auf etwas aufmerksam machen, das mir als eine Inkonsistenz erscheint: Warum werden eigentlich die diversesten Formen des Zusammenlebens, Alternativen zur klassischen Ehe, in unserer Gesellschaft geduldet, ja zum Teil gefördert - nur nicht die Polygamie? Warum gilt das "Familie ist da, wo Kinder sind" nicht auch für polygame Familien?



In traditionellen Gesellschaften würde allein schon die Frage, welche Formen von Familie erlaubt sein sollten, als absurd betrachtet werden: Sie kennen jeweils nur eine Form. In der traditionellen islamischen Gesellschaft war und ist das die Polygamie. In der traditionellen christlichen Gesellschaft ist es die Monogamie; aber es gibt auch christliche Gruppen - die Mormonen sind die bekannteste -, in denen Polygamie die gesellschaftlich erwünschte Form der Familie ist.

In der heutigen liberalen, offenen Gesellschaft gibt es, im Gegensatz zu den traditionellen Gesellschaften, starke Tendenzen, die Wahl der individuellen Lebensform ("lifestyle") dem Einzelnen zu überlassen.

Nicht nur ein Mann und eine Frau sollen beispielsweise eine Familie gründen können, sondern auch ein Mann und ein Mann oder eine Frau und eine Frau. Es wird sogar gefordert, daß diese alternativen Lebensformen vom Staat nicht nur geduldet werden, sondern daß er sie amtlich als Ehen anerkennt.

Wie bunt in dieser Hinsicht in Europa gegenwärtig das Bild ist, zeigt die Titel- Vignette zu diesem Artikel. Die Bedeutung der Farben findet man in dem Artikel der Wikipedia, dem ich sie entnommen habe. Die Regelungen reichen von der amtlichen Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern (violett) über amtliche Lebenspartnerschaften, die aber nicht der Ehe gleichgestellt sind (blau) bis zum Verbot (rot).

Es geht mir hier, wie gesagt, nicht darum, das Für und Wider dieser unterschiedlichen Regelungen zu diskutieren. Sondern ich möchte darauf hinweisen, daß, wie immer man sich zu ihnen stellt, man damit ja zugleich Stellung dazu nimmt, ob und ggf. wie weit sich der Staat überhaupt in die Gestaltung familiärer Lebensformen einmischen darf.

Seltsamerweise scheint dabei aber die Polygamie ausgeklammert zu werden. Jedenfalls habe ich noch niemanden getroffen, der dafür wäre, daß Bigamie und Polygamie in Deutschland erlaubt werden sollten, daß solche Ehen vor deutschen Standesbeamten geschlossen werden könnten. Auch Menschen scheinen nicht dafür zu sein, die ansonsten ausdrücklich dafür eintreten, daß die Wahl der Familienform Privatsache ist.

Ist das nicht verwunderlich?



Der Anlaß für diesen Artikel ist ein längerer Bericht vergangene Nacht in CNN über die weiter existierende Polygamie im Mormonenstaat Utah (obwohl die Mormonen sie offiziell aufgegeben haben) und vor allem in der Kleinstadt Colorado City in Arizona.

Der Bericht umfaßte unter anderem zwei längere Interviews. Im einen hatte man ein knappes Dutzend Frauen aus polygamen Famlien versammelt, die gemeinsam interviewt wurden. Im anderen traten zwei sogenannte "Sister Wives" auf; so nennen sich Frauen desselben Manns. Sie wurden als Vicki und Valerie X vorgestellt. "X" deshalb, weil Polygamie in den USA strafbar ist und sie deshalb, nun ja, anonym bleiben wollten.

In beiden Interviews äußersten sich die Frauen zufrieden, ja glücklich mit ihren Lebensumständen. Sie lobten vor allem die schwesterliche Freundschaft unter den "Sister Wives" und erklärten, von Eifersucht frei zu sein. Sie hoben die gemeinsame Erziehung der Kinder hervor; deren Aufwachsen in einer großen Familien- Gemeinschaft.

Belastend, sagten Vicky und Valerie, sei es aber, daß sie ihre Lebensform nicht offen leben dürften; daß sie ihren Kindern verbieten müßten, etwas darüber in der Schule zu sagen.

Und als die Frauen in der kleinen Versammlung gefragt wurden, wessen Mann schon einmal wegen Polygamie im Gefängnis gesessen habe, hoben ungefähr ein halbes Dutzend die Hand.



Ist es gerechtfertigt, einen Menschen, wie es in den USA geschieht, ins Gefängnis zu schicken, nur weil er sich im gegenseitigen Einverständnis - "consenting adults" - für diese Lebensform der Polygamie entschieden hat? Brauchen wir in Deutschland den Paragraphen § 1306 BGB, der die Vielehe verbietet, auch wenn ein Verstoß dagegen nicht ins Gefängnis führt, sondern nach § 172 StGB nur als Vergehen geahndet wird?

Ich weiß es nicht; ich habe zu dieser Frage - einer Frage für meinen liberalkonservativen Vermittlungsausschuß - überhaupt keine abgeschlossene Meinung.

Meinungen dazu und ihre Begründungen (warum wird Polygamie anders gesehen als die gleichgeschlechtliche Ehe?) würden mich interessieren. Für Kommentare gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer".