11. April 2008

China und Olympia: Warum jetzt diese Aufgeregtheit?

Am Mittwoch machte die Hauptausgabe der "Tagesschau" mit so etwas wie einer minutenlangen Nicht- Meldung auf: Berichtet wurde aus San Francisco, daß es nichts zu berichten gebe. Daß nämlich, wenn auch unter etwas ungewöhnlichen Vorkehrungen, die Olympische Flamme heil ihren Weg genommen hatte.

Das ist bezeichnend für eine Situation, die mir zunehmend absurd vorkommt. Es herrscht weltweit Aufregung. Es herrscht Empörung über China. Aber was genau wirft man eigentlich den Chinesen vor? Was rechtfertigt eigentlich diese Aufgeregtheit?



In Tibet hat es Unruhen gegeben. Niemand weiß, was passiert ist, denn die Kommunisten schafften es, binnen kürzester Zeit das Land (die Autonome Region Tibet, in ihren Augen) so gut wie vollständig zu isolieren; so, wie das eben nur ein perfekter Polizeistaat kann.

Ob die Niederschlagung der Aufruhr in Tibet angemessen gewesen ist, oder ob es übertriebene Härte gegeben hat - wer weiß es?

Kürzlich habe ich in einer Diskussion des französischen Nachrichtensenders LCP einen Vertreter Chinas sagen hören: Ganz genau so, wie sich China verhalten habe, würde sich jeder Rechtsstaat verhalten haben, wenn es in Städten zu Plünderungen und Aufruhr gekommen wäre. Frankreich hätte es doch nicht anders gemacht, kürzlich bei den Unruhen in der Banlieue der Großstädte, merkte er an.

Hat er Recht? Ich weiß es nicht, und ich bezweifle, daß irgendwer es weiß.



Einer der letzten Journalisten, die nach Beginn der Unruhen Lhasa verließen, war James Miles vom Economist. Am 20. März sagte er im Interview mit CNN über den Beginn der Ereignisse:
What I saw was calculated targeted violence against an ethnic group, or I should say two ethnic groups, primarily ethnic Han Chinese living in Lhasa, but also members of the Muslim Hui minority in Lhasa. And the Huis in Lhasa control much of the meat industry in the city.

Those two groups were singled out by ethnic Tibetans. They marked those businesses that they knew to be Tibetan owned with white traditional scarves. Those businesses were left intact. (...)

Almost every other business was either burned, looted, destroyed, smashed into, the property therein hauled out into the streets, piled up, burned. It was an extraordinary outpouring of ethnic violence of a most unpleasant nature to watch.

Was ich sah, war kalkulierte, gezielte Gewalt gegen eine ethnische Gruppe, oder vielmehr zwei ethnische Gruppen, nämlich vor allem die ethnischen Han- Chinesen, die in Lhasa wohnen, aber auch Angehörige der Minderheit der moslemischen Hui in Lhasa. Und die Huis in Lhasa kontrollieren einen großen Teil der Fleischindustrie in der Stadt.

Diese beiden Gruppen haben sich die ethnischen Tibetaner herausgegriffen. Geschäfte, von denen bekannt war, daß sie Tibetern gehörten, wurden mit weißen traditionellen Schals gekennzeichnet. (...)

Diese Geschäfte wurden unzerstört gelassen. Nahezu jedes andere Geschäft wurde angezündet, geplündert, zerstört, eingeworfen; der darin befindliche Besitz wurde auf die Straße gezerrt, auf Haufen geworfen und angezündet. Es war ein außerordentlicher Ausbruch ethnischer Gewalt, äußert unangenehm zu beobachten.
Und über die anfängliche Reaktion der chinesischen Behörden:
The rioting rapidly spread from Beijing Road, this main central thoroughfare of Lhasa, into the narrow alleyways of the old Tibetan quarter. But I didn't see any attempt in those early hours by the authorities to intervene. (...)

Die Aufruhr breitete sich von der Peking- Straße, dieser Haupt- Verkehrsstraße von Lhasa, schnell in die engen Gassen des alten tibetanischen Viertels aus. Aber ich sah in diesen ersten Stunden keinen Versuch der Behörden, einzuschreiten.
Später wurden dann Truppen eingesetzt; nach den Beobachtungen von Miles nicht nur Polizei und Miliz, sondern auch reguläre Truppen der Armee. Über ihr Vorgehen konnte er nichts berichten, denn er mußte Lhasa verlassen.



Es ist gut möglich, vielleicht wahrscheinlich, daß nach der Ausweisung aller ausländischer Journalisten diese Truppen brutal gegen die Aufständischen vorgingen. Es gibt auch Hinweise darauf, daß jetzt eine Art Gehirnwäsche versucht wird, um Tibet wieder in den Würgegriff Pekings zu bekommen.

Nur - in diesem Würgegriff befindet es sich seit dem Jahr 1950, als der chinesische Überfall auf Tibet stattfand. Seitdem betreibt die Kolonialmacht China nicht nur die übliche Politik jeder Kolonialmacht, sondern sie versucht eine Assimilation der Tibeter und die Überfremdung des Landes mit chinesischen Kolonisatoren. Den Tibetern soll ihre eigene Identität genommen und ein chinesisches Nationalbewußtsein oktroyiert werden.

Und brutal ist dieses Regime immer vorgegangen, wenn es seine Macht auch nur im Geringsten bedroht sah. Nicht nur, als hunderte, vielleicht mehrere tausend Demonstranten im Juni 1989 zusammengeschossen wurden. Sondern auch die inneren Unruhen, die es ständig im kommunistischen China gibt, werden durchweg mit brutaler Gewalt unterdrückt.

Hier findet man eine Liste von Vorfällen allein aus dem Jahr 2005. Im April beispielsweise eine Aufruhr von 20.000 Bauern in der Provinz Zhejiang; sie verjagen 1000 Sicherheitspolizisten. Im Juli Unruhen in der Inneren Mongolei; 400 Arbeiter blockieren eine Fabrik, mehrere Verletzte. Ebenfalls im Juli gewaltsame Zusammenstöße zwischen 1.500 aufgebrachten Bauern und 500 bewaffneten Polizisten in der Provinz Guangdong; Dutzende Verletzte. Im Dezember Zusammenstöße zwischen 300 Bauern und der Polizei in der Provinz Guangdong; mindestens zwanzig Bauern kommen ums Leben. Und so fort.



Das alles war bekannt. Eine kommunistische Dikatur ist nun einmal eine kommunistische Diktatur. Was ihr sehr zu Recht vorzuwerfen ist, das war ihr auch schon vor den Unruhen in Tibet vorzuwerfen.

Man hat es nicht getan; jedenfalls nicht offiziell und nicht laut. Als die Kanzlerin im vergangenen Jahr den Mut und die Standfestigkeit hatten, den Dalai Lama ins Kanzleramt einzuladen, war in der "Zeit" von einem "Spiel mit dem Feuer" die Rede.

China wird hofiert, weil es auf dem Weg ist, zur zweiten Weltmacht zu werden. Es bekam die Spiele so, wie Hitler sie 1936 bekommen hat, wie sie die Sowjetunion sie 1980 bekommen hat: Im vollen Bewußtsein dessen, daß sie in einem Land stattfinden, in dem eine brutale Dikatur herrscht.

Nichts hat sich seit der Vergabe an Peking geändert. Tibet wird kolonisiert wie eh und je. Das chinesische Regime unterdrückt jeden Protest wie eh und je. Vermutlich hatte man in Lhasa sogar bessere Gründe, das zu tun, als in vielen anderen Fällen.

Warum also jetzt die Aufgeregtheit?

Je länger dieses Spektakel der Behinderung des Stapellaufs mit der Flamme dauert, umso mehr werden die Chinesen ins Recht gesetzt: Sie haben nun einmal die Spiele; also haben sie auch das Recht auf eine geordnete Abwicklung.

Statt Krawall zu machen, sollten diejenigen, die etwas gegen die kommunistische Herrschaft tun wollen, in Peking offen und öffentlich ihre Meinung sagen. Sie werden als Teilnehmer der Olympischen Spiele keine Nachteile davon haben.

Und sie werden sich dann, anders als die jetzigen Krawallbrüder, die den Fackellauf zu stören versuchen, im Recht befinden.



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