25. April 2007

Murat Kurnaz, Filbinger, RAF - wozu die Aufregung? Eine These.

Seit einigen Jahren ist das Klima der politischen Auseinandersetzung in Deutschland durch viel Emotionalität geprägt. Es wird selten analysiert, viel öfter moralisiert. Immer geht es gleich um's Große Ganze.

Der Einzelfall wird nicht um seiner selbst willen so heftig debattiert, sondern er steht als pars pro toto. Es wird überhöht, aufgeplustert, ins Bedeutend- Allgemeine gehoben, daß es nur so seine Art hat. Einige Beispiele:
1. Die Diskussion um den Irak ist jetzt etwas stiller geworden. Aber ungefähr drei Jahre lang beherrschten Meldungen aus Bagdad beispielsweise die Aufmacher bei "Spiegel Online". Jeder Bombenanschlag im Irak war einen solchen Aufmacher wert, während das Massensterben in Darfur, die Hunderttausende von Toten im kongolesischen Bürgerkrieg, die Opfer von terroristischer Gewalt weltweit es kaum auf einen Dreizeiler brachten.

Und meist ging es - explizit oder implizit - nicht nur um Berichterstattung, sondern um Anklage. Die Anklage gegen die USA; oft bis zur Empörung über die USA.

2. Ein türkischer islamistischer Extremist, Murat Kurnaz, wurde fast so beliebt wie der Eisbär Knut. Er sei jahrelang "gefoltert" worden, habe ich noch vor ein paar Tagen in einer Kultursendung des öffentlich- rechtlichen deutschen Fernsehens gehört.

Vom wirklichen Foltergefängnis Guantánamo freilich erfährt kein deutscher TV-Zuschauer, kaum ein deutscher Zeitungsleser etwas. Oder von den ständigen Menschenrechtsverletzungen in China und Vietnam.

3. Die Trauerrede eines Ministerpräsidenten, der den Verstorbenen pries und entschuldigte, so wie das Trauerredner immer und überall tun, wurde zum Gegenstand einer Hexenjagd, an deren Ende der Autor der verunglückten Rede abschwor.

Eine linke Kampagne gegen einen Konservativen. Aber auch der Zentralrat der Juden in Deutschland hat dabei - leider - keine glückliche Rolle gespielt.

Während Stellungnahmen zu dem wirklichen, dem immer mehr links geprägten und immer gefährlicheren Antisemitismus in Deutschland (siehe dazu zum Beispiel den ausgezeichneten Artikel von Susanne Urban) wie auch sonst in Europa (siehe heute den ebenfalls hervorragenden Artikel von Jürgen Krönig in der "Zeit") vielleicht doch etwas Substantielleres getroffen hätten als diese Kritik an dem harmlosen Nekrolog eines Mannes wie Oettinger, dem Antisemitismus völlig fremd ist.

4. Seit Wochen findet in Deutschland eine heftige Diskussion um eine politisch motivierte Mörderbande statt, die vor ungefähr dreißig Jahren in unserem Land ihr Unwesen getrieben hatte. Die Täter der RAF wurden größtenteils gefaßt und verurteilt. Jetzt sind sie ungefährlich; man wird sie so behandeln, wie andere Mörder auch.

Was aber in aller Welt rechtfertigt es, um ihr Schicksal ein solches Aufsehens zu machen, wie das gegenwärtig passiert?

Was ist denn berichtenswert daran, daß ein Mörder wie Christian Klar, der sich dem Ende seiner Mindest- Strafzeit nähert, jetzt Hafterleichterungen bekommt? Was macht den Mann so interessant, daß dieser banale Umstand sowohl im ZDF als auch in der ARD gestern ganz vorn in den Abendnachrichten mitgeteilt und kommentiert wurde? Daß sogar die kluge Sandra Maischberger sich gestern Abend wieder mit dem Fall befaßte?



Was ist da los? Ich möchte eine These zur Diskussion stellen, die ich schon in früheren Beiträgen angedeutet habe: Hinter diesen politischen Tagesdebatten steht ein Ringen um Meinungsdominanz. Und dieses Ringen ist bei uns im Augenblick deshalb so heftig, weil die Dominanzverhältnisse instabil geworden sind.


Die Dominanzverhältnisse können sehr unterschiedlich sein. Manchmal ist die Dominanz bestimmter politischer Vorstellungen ausgeprägt; das sind gewissermaßen steady states, politisch relativ stabile, wenn auch nicht unbedingt ruhige Zeiten. Und es gibt andere Zeiten, in denen eine dominierende Meinung in Frage gestellt wird, in der es vorübergehend ein Schwanken, ein Hin und Her gibt, bis eine neue Meinung dominant geworden ist.

Vielleicht kann es auch längere Phasen eines, sagen wir, dynamischen Gleichgewichts geben.

Das scheint in den USA seit den achtziger Jahren der Fall zu sein; wo es gewissermaßen immer noch "unentschieden" steht steht zwischen dem liberal- konservativen Gesellschafts- Modell von Reagan bis Bush und dem links- reformistischen von Carter bis (im Augenblick) Barack Obama und Hillary Clinton. Natürlich ist das auch ein Ringen zwischen dem klassischen, traditionellen, angelsächsisch geprägten Amerika - Middle America ja auch im geographischen Sinn - und dem Amerika der urbanen Küsten im Osten und im Westen, der Minderheiten, der Intellektuellen, des rasanten sozialen Wandels.



In der Bundesrepublik Deutschland hat es hingegen bis in die Gegenwart hinein fast immer eine deutliche Meinungsdominanz gegeben. Von der Gründung der Bundesrepublik an bis Ende der sechziger Jahre dominierte das christdemokratische Gesellschaftsmodell, das Adenauer und Erhard verkörperten. Nach einer kurzen Umbruchszeit ging in den siebziger Jahren die Dominanz über an das linke - das sozialdemokratische, das sozialistische, ein manchmal auch ein wenig linksliberales - Modell, für das Willy Brandt stand.

Die Dominanz dieses linken Gesellschaftsmodells blieb auch erhalten, nachdem die Linke Anfang der achtziger Jahre die politische Macht im Bund verloren hatte. Es gehört zu den großen Leistungen Helmut Kohls, gegen eine ihm überwiegend feindlich gesonnene Öffentliche Meinung so lang erfolgreich regiert zu haben.

Nach der Wiedervereinigung festigte sich noch einmal diese Dominanz der Linken; und sie kulminierte in der rotgrünen Regierungszeit, in der - abgesehen von den konservativen Bundesländern im Süden - die Linke eine fast unbegrenzte Macht erreicht hatte; eine freilich schon gespenstisch unzeitgemäße. Sie beherrschte die Öffentliche Meinung, sie wurde unterstützt von den meisten Künstlern und Wissenschaftlern, sie war an der Regierung.

Sie war damit in einer stärkeren Dominanz- Position als selbst Adenauer, der immerhin das intellektuelle Deutschland gegen sich gehabt hatte.



Nur ist die Linke halt immer und überall nur solange erfolgreich, wie sie nicht regiert. Die klugen Entwürfe, die humanitären Ideen, das wunderschöne Gesellschaftsmodell - sie enden regelmäßig entweder mit einem Kladderadatsch, wie 1938 und dann wieder 1984 in Frankreich, wie 1998 und vermutlich jetzt bald wieder in Italien. Und wie 2005 in Deutschland, als die Regierung Schröder in sich zusammensackte wie ein mißglücktes Soufflé.

Ein Wechsel in der Meinungsdominanz wäre daraus eigentlich die folgerichtige Konsequenz.

Ein Wechsel weg vom linken Antiamerikanismus und linken Antisemitismus; hin zu einer transatlantischen Ausrichtung Deutschlands, die auch Israel als einen wichtigen Teil unserer westlichen Kultur sieht, als unseren natürlichen Bundesgenossen.

Weg von der Verteufelung alles Konservativen, von dem Versuch, Konservative in dasselbe Lager wie die Nazis zu stellen. Stattdessen die Anerkennung einer demokratischen, staatstreuen, liberalen und konservativen Rechten, wie sie in allen alten Demokratien selbstverständlich ist.

Weg von der Glorifizierung der Revoluzzerei der sechziger und siebziger Jahre; hin zu der Einsicht, daß es keine Entschuldigung dafür gibt, in einem demokratischen Rechtsstaat Menschen zu ermorden, nur weil sie eine andere politische Meinung haben.



Zusammengefaßt: Meine These ist, daß Themen wie die eingangs genannten deshalb so viele Emotionen, so viele Aufregung auslösen, weil sich an ihnen allgemeine Aspekte dieses gegenwärtigen Kampfs um Meinungsdominanz konkretisieren.

Der Irak-Krieg, der sich an ihn knüpfende linke Antiamerikanismus und Antisemitismus treffen die klassischen linken Themen - der barbarische Kapitalismus ("Blut für Öl"), der "Neokolonialismus", für den der jüdische Staat in linker Sicht steht.

Der "Fall Oettinger" eignet sich zur Konkretisierung eines zentralen Themas der linken Propaganda - Konservative wie Oettinger und die Nazis gehören zum selben Lager; Kapitalismus führt zu Faschismus.

Und die RAF? Da scheint mir ein Interesse auf beiden Seiten vorzulegen, anhand dieses Themas den Kampf um Meinungsdominanz zu führen. Aus liberal- konservativer Sicht wird es Zeit, daß endlich dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte so aufgearbeitet wird wie der Nazismus und die DDR.

Aber immer mehr scheint mir, daß die Linke das Thema auch pflegen möchte. In der Hoffnung vielleicht, das schon begrabene Thema "Kampf gegen den Kapitalismus" wieder aus seiner Gruft zu heben.

Gewiß, man distanziert sich von der "Militanz" der RAF. Aber daß "Kapitalismus- Kritik" auf einmal wieder ein Thema ist, das freut sie offensichtlich doch, die Linke.