Eine etwas längere Vorbemerkung: Als ich gestern den ersten Teil dieses Beitrags schrieb, war für mich noch nicht das zu sehen, was inzwischen deutlich geworden ist: Es gibt eine ernsthafte, ehrliche und um Genauigkeit bemühte Auseinandersetzung zum Fall Filbinger.
Freilich nicht im TV, auch kaum in den Zeitungen. Es gibt sie in jenem Teil der Blogosphäre, dem ich mich zugehörig fühle und den ich die Blogokugelzone nenne.
Stellvertretend für viele Beiträge und sehr viele Kommentare möchte ich den Artikel von Karsten in B.L.O.G, den von Ingo Way in FdoG und die Kommentare von Oliver Luksic hier nennen.
Sie sind alle anderer Meinung als ich; und sie sind für mich Musterbeispiele für eine faire und produktive Diskussion.
Das ist es, glaube ich, was die liberalkonservative Blogokugelzone auszeichnet: Daß man den Andersdenkenden nicht für den Schlechteren oder Dümmeren hält. Daß zur Sache diskutiert wird, statt daß man die Beurteilung der Sache aus der jeweiligen Ideologie ableitet.
Ich werde auf die Argumente gegen meine Position in den nächsten Tagen eingehen; in Form von Kommentaren in den jeweiligen Blogs oder hier.
Ich will dann versuchen, die einzelnen Fragen (War Filbinger Nazi, Mitläufer, Gegner der Nazis? Hätte er anders handeln können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Hätte er Gröger retten können? War das Urteil gegen Gröger ein Justizmord? usw.) zu trennen und meine jeweilige Beurteilung, wie sie im Augenblick aufgrund meines Informationsstands ist, zu begründen.
Im jetzigen Beitrag geht es darum aber nicht. Er ist der zweite Teil eines gestern geplanten Artikels, der im Begriff gewesen war, zu lang zu werden.
Ich behandle also jetzt das, was ich angekündigt hatte: Eine Sicht auf die Filbinger- Oettinger- Diskussion sozusagen auf der Meta- Ebene. Die Rede ist also nicht von Filbinger und seinem Verhalten, sondern von der momentanen Diskussion über Filbinger und sein Verhalten.
Diese Diskussion erscheint mir wie ein absurdes Theater. Denn Oettinger hat nichts getan als das, was jeder Trauerredner tut: Er hat denjenigen, dem der Nekrolog galt, so freundlich geschildert, wie das denn eben zu rechtfertigen ist.
So sind eben Nekrologe. Niemand beanstandet, daß in einer Trauerrede nicht die schlechten Seiten des Verstorbenen geschildert werden.
Oettinger hat einen Nekrolog gesprochen, und er hat darin etwas gesagt, was mindestens so gut durch Dokumente belegt ist wie andere Meinungen: Daß Filbinger ein Gegner der Nazis war.
Nicht ein Widerstandskämpfer; das hat er natürlich nicht behauptet. Unsachliche Kommentatoren haben insinuiert, er hätte das sozusagen gemeint, nur nicht gesagt.
Oettinger hat mit guten, aber sehr wohl bestreitbaren Gründen gesagt, Filbinger sei ein Gegner der Nazis gewesen. Man mag das mit ebenso guten, vielleicht besseren Gründen anders sehen.
Aber es wurden ja nicht gute Gründe vorgebracht. Sondern es fand eine Hexenjagd statt.
Ich verwende dieses Wort bewußt und nach einiger Überlegung. Denn das Polit- und Medientheater der vergangenen Tage verdient meines Erachtens diesen Namen.
Eine Formulierung, über die man streiten kann, wurde zum schlechthinnigen Übel erklärt. Der Mann, der diese Auffassung geäußert hatte, der Ketzer, wurde in solcher Weise in die Enge getrieben, daß er am Ende abschwor.
Die Art, in der er das tat, ließ erkennen, daß er nicht neue Einsichten gewonnen hatte. Sondern er war eingeknickt.
Oettinger ist gestern so feige gewesen, wie man es Filbinger vorwirft. Er hatte nicht den Mut, nicht die Statur, zu seiner Überzeugung zu stehen.
Er hat abgeschworen wie der Galileo Galilei, nachdem ihm - so heißt es jedenfalls bei Brecht - die Folterwerkzeuge vorgezeigt worden waren.
Der gestrige Tag war damit ein großer Sieg für die deutsche Linke. Sie hat die Meinungsführerschaft, jedenfalls vorübergehend, zurückerobert.
Ihr jahrzehntelanges Thema, vor allem von den Kommunisten immer wieder befördert, lautete: Die konservativen Rechten gehören zum selben Lager wie die Nazis; nur Linke sind also anständig.
Das ist jetzt wieder ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden. Der katholische Konservative Filbinger steht als Nazi da; der Liberalkonservative Oettinger als einer, der einen Nazi "reinzuwaschen" versucht hat.
Angela Merkel, die kühle Strategin, hatte diese Gefahr eines linken Siegs sofort erkannt und sich so rational verhalten, wie sie es immer tut.
Man kann es auch machiavellistisch nennen. Sie hat allerdings - vermute ich - nicht nur die Gefahr für die CDU im Auge gehabt, sondern auch die für das deutsche Ansehen im Ausland.
Sie hat, indem sie Oettinger zum Abschwören zwang, ein Bauernopfer gebracht. Alles andere als sympathisch, aber in gewisser Weise bewundernswert.
Ich möchte jetzt eine Hypothese formulieren. Nicht mehr als eine Hypothese; man kann dergleichen nicht beweisen. Aber mir scheint es die Hexenjagd auf Oettinger zu erklären.
Die Hypothese lautet: Dieses gegenwärtige Empörtheits- Theater ist Teil einer Abwehrschlacht. Einer Abwehrschlacht, die die Linke zu führen versucht, seit auf ihr einst so heiles Weltbild die Schläge nur so einprasseln.
Dieses Weltbild besagte: Der Faschismus war ein Ergebnis des Kapitalismus. "Kapitalismus führt zu Faschismus. Kapitalismus muß weg!" - diese Parole auf unzähligen Demos faßte das griffig zusammen.
Wer einen neuen Faschismus verhindern will, so besagte es dieses Weltbild, der muß also den Kapitalismus bekämpfen.
Kapitalisten, Konservative, Liberale - sie sind alle ebenso der Feind der Menschheit wie die Faschisten. Weil der Faschismus ja nur der besonders brutale Ausdruck der Gesellschaft, der Wirtschaftsordnung ist, die auch sie vertreten.
Humanismus, so lautete das Fazit, ist allein im Sozialismus zu haben. Und bei allen Mängeln ist der real existierende Sozialismus ein Schritt in die richtige Richtung. Die DDR, so sehr man sie kritisieren kann, ist jedenfalls das "bessere Deutschland".
Das war das dominierende Weltbild in vielen Ländern Europas, besonders in Deutschland, in den siebziger und in den achtziger Jahren. Natürlich gab es Gegenmeinungen; aber sie konnten sich nicht annähernd so öffentlich Gehör verschaffen wie dieses dominierende Weltbild.
Einen ersten Schlag erhielt dieses Weltbild, als unübersehbar wurde, daß der real existierende Sozialismus nicht nur "verkrustet" und "ineffizient" war, sondern schlechterdings verbrecherisch.
Daß Humanität wirklich dann Einzug halten würde, wenn der Kapitalismus überwunden sein würde, das wurde zweifelhaft, als sich immer deutlicher zeigte, daß jeder Versuch, den Sozialismus einzuführen, immer nur Inhumanität hervorgebracht hatte.
Als beispielsweise die Blutherrschaft der Kommunisten in Kambodscha bekannt wurde; als sich erwies, daß die chinesische Kulturrevolution kein fröhliches Happening, sondern die barbarische Verfolgung von Millionen Intellektueller gewesen war; als die Verbrechen Stalins, die ja schon lange bekannt gewesen waren, durch Publikationen wie das "Schwarzbuch" endlich in ihrem ganzen Umfang ins öffentliche Bewußtsein rückten.
Der zweite Schlag gegen dieses Weltbild war der Untergang des real existierenden Sozialismus in einem großen Teil seines Herrschaftsbereichs und die Erfahrung, daß ausgerechnet China, in das viele 68er so große Hoffnungen gesetzt hatten, sich auf den Weg in den Kapitalismus machte, wenn auch nicht auf den in einen freiheitlichen Staat.
Der dritte Schlag war weltweit, ganz speziell aber in Deutschland, daß auch die eigene Glanzzeit der 68er und ihrer Nachfolger, also die späten sechziger und die siebziger Jahre, immer mehr von ihrem Glanz verlor.
Diejenigen, die das nicht mehr selbst erlebt hatten, stellten an ihre Eltern just die Art von Frage, die diese an ihre eigenen Eltern gestellt hatten: Wie konntet ihr das zulassen? Wie konntet ihr mit dem Massenmörder Mao sympathisieren, wie konntet ihr Castro, den Führer einer erbärmlichen Diktatur, zu eurem Helden erwählen, gar Sympathie für die RAF-Mörder haben?
Diejenigen, die zuvor fast immer in der Defensive gewesen waren - die Freunde der USA, Israels, des Kapitalismus, der Freiheit - haben begonnen, das Meinungs- Klima zu bestimmen. Gerade die Diskussion über die RAF, über die Freilassung von RAF- Verbrechern in den letzten Wochen hat das deutlich gemacht.
Kurz, in den letzten Jahren hat - jedenfalls in Deutschland - die Linke ihre moralische Dominanz verloren. Daß man den Kapitalismus beseitigen muß, um humane Verhältnisse zu schaffen, glaubte ihr kaum noch jemand. Das einzige scheinbare Argument dafür - der Nationalsozialismus, der in einer kapitalistischen Gesellschaft die Macht erobert hatte - war in der Erinnerung verblaßt.
Und nun hat sich eine Konstellation ergeben, die gewissermaßen die siebziger Jahre wiedererstehen läßt: Ein Rechter - Filbinger -, dem man zuschreiben kann, ein Nazi gewesen zu sein. Ein Liberalkonservativer - Oettinger -, dem man zuschreiben kann, Sympathie für einen Nazi zu haben. In die Nazi- Ecke gerückt, gewissermaßen qua Ansteckung.
Nein, ich vertrete keine Verschwörungstheorie. Ich glaube allerdings schon, daß die deutsche Linke darunter litt und leidet, durch die geschilderten Entwicklungen in die Defensive geraten zu sein. Und der "Fall Oettinger" war halt ideal für einen Befreiungs- Schlag.
Noch einmal gesagt: Die Fragen, die man in Bezug auf Filbinger ernsthaft diskutieren kann und sollte (und die ja Teil der allgemeinen Frage sind, was man von Menschen erwarten darf, die in einer Diktatur leben müssen), sind von diesen Überlegungen unberührt.
Sie verdienen eine ernsthafte, auch ernste Diskussion. Aber die Art, wie Oettinger in den letzten Tagen Opfer einer Hexenjagd wurde, verdient - aus meiner Sicht - nur Erschrecken darüber, daß so etwas in unserem Land möglich ist.
Freilich nicht im TV, auch kaum in den Zeitungen. Es gibt sie in jenem Teil der Blogosphäre, dem ich mich zugehörig fühle und den ich die Blogokugelzone nenne.
Stellvertretend für viele Beiträge und sehr viele Kommentare möchte ich den Artikel von Karsten in B.L.O.G, den von Ingo Way in FdoG und die Kommentare von Oliver Luksic hier nennen.
Sie sind alle anderer Meinung als ich; und sie sind für mich Musterbeispiele für eine faire und produktive Diskussion.
Das ist es, glaube ich, was die liberalkonservative Blogokugelzone auszeichnet: Daß man den Andersdenkenden nicht für den Schlechteren oder Dümmeren hält. Daß zur Sache diskutiert wird, statt daß man die Beurteilung der Sache aus der jeweiligen Ideologie ableitet.
Ich werde auf die Argumente gegen meine Position in den nächsten Tagen eingehen; in Form von Kommentaren in den jeweiligen Blogs oder hier.
Ich will dann versuchen, die einzelnen Fragen (War Filbinger Nazi, Mitläufer, Gegner der Nazis? Hätte er anders handeln können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Hätte er Gröger retten können? War das Urteil gegen Gröger ein Justizmord? usw.) zu trennen und meine jeweilige Beurteilung, wie sie im Augenblick aufgrund meines Informationsstands ist, zu begründen.
Im jetzigen Beitrag geht es darum aber nicht. Er ist der zweite Teil eines gestern geplanten Artikels, der im Begriff gewesen war, zu lang zu werden.
Ich behandle also jetzt das, was ich angekündigt hatte: Eine Sicht auf die Filbinger- Oettinger- Diskussion sozusagen auf der Meta- Ebene. Die Rede ist also nicht von Filbinger und seinem Verhalten, sondern von der momentanen Diskussion über Filbinger und sein Verhalten.
Diese Diskussion erscheint mir wie ein absurdes Theater. Denn Oettinger hat nichts getan als das, was jeder Trauerredner tut: Er hat denjenigen, dem der Nekrolog galt, so freundlich geschildert, wie das denn eben zu rechtfertigen ist.
So sind eben Nekrologe. Niemand beanstandet, daß in einer Trauerrede nicht die schlechten Seiten des Verstorbenen geschildert werden.
Oettinger hat einen Nekrolog gesprochen, und er hat darin etwas gesagt, was mindestens so gut durch Dokumente belegt ist wie andere Meinungen: Daß Filbinger ein Gegner der Nazis war.
Nicht ein Widerstandskämpfer; das hat er natürlich nicht behauptet. Unsachliche Kommentatoren haben insinuiert, er hätte das sozusagen gemeint, nur nicht gesagt.
Oettinger hat mit guten, aber sehr wohl bestreitbaren Gründen gesagt, Filbinger sei ein Gegner der Nazis gewesen. Man mag das mit ebenso guten, vielleicht besseren Gründen anders sehen.
Aber es wurden ja nicht gute Gründe vorgebracht. Sondern es fand eine Hexenjagd statt.
Ich verwende dieses Wort bewußt und nach einiger Überlegung. Denn das Polit- und Medientheater der vergangenen Tage verdient meines Erachtens diesen Namen.
Eine Formulierung, über die man streiten kann, wurde zum schlechthinnigen Übel erklärt. Der Mann, der diese Auffassung geäußert hatte, der Ketzer, wurde in solcher Weise in die Enge getrieben, daß er am Ende abschwor.
Die Art, in der er das tat, ließ erkennen, daß er nicht neue Einsichten gewonnen hatte. Sondern er war eingeknickt.
Oettinger ist gestern so feige gewesen, wie man es Filbinger vorwirft. Er hatte nicht den Mut, nicht die Statur, zu seiner Überzeugung zu stehen.
Er hat abgeschworen wie der Galileo Galilei, nachdem ihm - so heißt es jedenfalls bei Brecht - die Folterwerkzeuge vorgezeigt worden waren.
Der gestrige Tag war damit ein großer Sieg für die deutsche Linke. Sie hat die Meinungsführerschaft, jedenfalls vorübergehend, zurückerobert.
Ihr jahrzehntelanges Thema, vor allem von den Kommunisten immer wieder befördert, lautete: Die konservativen Rechten gehören zum selben Lager wie die Nazis; nur Linke sind also anständig.
Das ist jetzt wieder ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden. Der katholische Konservative Filbinger steht als Nazi da; der Liberalkonservative Oettinger als einer, der einen Nazi "reinzuwaschen" versucht hat.
Angela Merkel, die kühle Strategin, hatte diese Gefahr eines linken Siegs sofort erkannt und sich so rational verhalten, wie sie es immer tut.
Man kann es auch machiavellistisch nennen. Sie hat allerdings - vermute ich - nicht nur die Gefahr für die CDU im Auge gehabt, sondern auch die für das deutsche Ansehen im Ausland.
Sie hat, indem sie Oettinger zum Abschwören zwang, ein Bauernopfer gebracht. Alles andere als sympathisch, aber in gewisser Weise bewundernswert.
Ich möchte jetzt eine Hypothese formulieren. Nicht mehr als eine Hypothese; man kann dergleichen nicht beweisen. Aber mir scheint es die Hexenjagd auf Oettinger zu erklären.
Die Hypothese lautet: Dieses gegenwärtige Empörtheits- Theater ist Teil einer Abwehrschlacht. Einer Abwehrschlacht, die die Linke zu führen versucht, seit auf ihr einst so heiles Weltbild die Schläge nur so einprasseln.
Dieses Weltbild besagte: Der Faschismus war ein Ergebnis des Kapitalismus. "Kapitalismus führt zu Faschismus. Kapitalismus muß weg!" - diese Parole auf unzähligen Demos faßte das griffig zusammen.
Wer einen neuen Faschismus verhindern will, so besagte es dieses Weltbild, der muß also den Kapitalismus bekämpfen.
Kapitalisten, Konservative, Liberale - sie sind alle ebenso der Feind der Menschheit wie die Faschisten. Weil der Faschismus ja nur der besonders brutale Ausdruck der Gesellschaft, der Wirtschaftsordnung ist, die auch sie vertreten.
Humanismus, so lautete das Fazit, ist allein im Sozialismus zu haben. Und bei allen Mängeln ist der real existierende Sozialismus ein Schritt in die richtige Richtung. Die DDR, so sehr man sie kritisieren kann, ist jedenfalls das "bessere Deutschland".
Das war das dominierende Weltbild in vielen Ländern Europas, besonders in Deutschland, in den siebziger und in den achtziger Jahren. Natürlich gab es Gegenmeinungen; aber sie konnten sich nicht annähernd so öffentlich Gehör verschaffen wie dieses dominierende Weltbild.
Einen ersten Schlag erhielt dieses Weltbild, als unübersehbar wurde, daß der real existierende Sozialismus nicht nur "verkrustet" und "ineffizient" war, sondern schlechterdings verbrecherisch.
Daß Humanität wirklich dann Einzug halten würde, wenn der Kapitalismus überwunden sein würde, das wurde zweifelhaft, als sich immer deutlicher zeigte, daß jeder Versuch, den Sozialismus einzuführen, immer nur Inhumanität hervorgebracht hatte.
Als beispielsweise die Blutherrschaft der Kommunisten in Kambodscha bekannt wurde; als sich erwies, daß die chinesische Kulturrevolution kein fröhliches Happening, sondern die barbarische Verfolgung von Millionen Intellektueller gewesen war; als die Verbrechen Stalins, die ja schon lange bekannt gewesen waren, durch Publikationen wie das "Schwarzbuch" endlich in ihrem ganzen Umfang ins öffentliche Bewußtsein rückten.
Der zweite Schlag gegen dieses Weltbild war der Untergang des real existierenden Sozialismus in einem großen Teil seines Herrschaftsbereichs und die Erfahrung, daß ausgerechnet China, in das viele 68er so große Hoffnungen gesetzt hatten, sich auf den Weg in den Kapitalismus machte, wenn auch nicht auf den in einen freiheitlichen Staat.
Der dritte Schlag war weltweit, ganz speziell aber in Deutschland, daß auch die eigene Glanzzeit der 68er und ihrer Nachfolger, also die späten sechziger und die siebziger Jahre, immer mehr von ihrem Glanz verlor.
Diejenigen, die das nicht mehr selbst erlebt hatten, stellten an ihre Eltern just die Art von Frage, die diese an ihre eigenen Eltern gestellt hatten: Wie konntet ihr das zulassen? Wie konntet ihr mit dem Massenmörder Mao sympathisieren, wie konntet ihr Castro, den Führer einer erbärmlichen Diktatur, zu eurem Helden erwählen, gar Sympathie für die RAF-Mörder haben?
Diejenigen, die zuvor fast immer in der Defensive gewesen waren - die Freunde der USA, Israels, des Kapitalismus, der Freiheit - haben begonnen, das Meinungs- Klima zu bestimmen. Gerade die Diskussion über die RAF, über die Freilassung von RAF- Verbrechern in den letzten Wochen hat das deutlich gemacht.
Kurz, in den letzten Jahren hat - jedenfalls in Deutschland - die Linke ihre moralische Dominanz verloren. Daß man den Kapitalismus beseitigen muß, um humane Verhältnisse zu schaffen, glaubte ihr kaum noch jemand. Das einzige scheinbare Argument dafür - der Nationalsozialismus, der in einer kapitalistischen Gesellschaft die Macht erobert hatte - war in der Erinnerung verblaßt.
Und nun hat sich eine Konstellation ergeben, die gewissermaßen die siebziger Jahre wiedererstehen läßt: Ein Rechter - Filbinger -, dem man zuschreiben kann, ein Nazi gewesen zu sein. Ein Liberalkonservativer - Oettinger -, dem man zuschreiben kann, Sympathie für einen Nazi zu haben. In die Nazi- Ecke gerückt, gewissermaßen qua Ansteckung.
Nein, ich vertrete keine Verschwörungstheorie. Ich glaube allerdings schon, daß die deutsche Linke darunter litt und leidet, durch die geschilderten Entwicklungen in die Defensive geraten zu sein. Und der "Fall Oettinger" war halt ideal für einen Befreiungs- Schlag.
Noch einmal gesagt: Die Fragen, die man in Bezug auf Filbinger ernsthaft diskutieren kann und sollte (und die ja Teil der allgemeinen Frage sind, was man von Menschen erwarten darf, die in einer Diktatur leben müssen), sind von diesen Überlegungen unberührt.
Sie verdienen eine ernsthafte, auch ernste Diskussion. Aber die Art, wie Oettinger in den letzten Tagen Opfer einer Hexenjagd wurde, verdient - aus meiner Sicht - nur Erschrecken darüber, daß so etwas in unserem Land möglich ist.