3. September 2008

Der 44. Präsident der USA (16): Der erstaunliche Joe Lieberman

Joe Lieberman ist ein erstaunlicher Politiker.

Seit zwanzig Jahren sitzt er für die Demokraten im Senat. Bei den Wahlen 2000 war er der Vize- Kandidat des Demokraten Al Gore. Er ist im Senat Vorsitzender des mächtigen Innenausschusses.

Bei den Senatswahlen 2006 wurde er wegen seiner Haltung zum Irak- Krieg in seinem Heimatstaat Connecticut nicht wieder aufgestellt, bewarb sich daraufhin als Unabhängiger und gewann. Im Senat sitzt er jetzt als "Unabhängiger Demokrat" und ist Mitglied der Gruppe der Demokraten (Democratic Senate Caucus).

Und dieser Mann hat gestern auf dem Wahlparteitag der Republikaner nicht nur seinen Freund McCain unterstützt, sondern er hat auch über den Kandidaten seiner eigenen Partei dies gesagt:
Sen. Obama is a gifted and eloquent young man who can do great things for our country in the years ahead. But eloquence is no substitute for a record — not in these tough times.

In the Senate he has not reached across party lines to get anything significant done, nor has he been willing to take on powerful interest groups in the Democratic Party.

Senator Obama ist ein begabter und redegewandter junger Mann, der in den kommenden Jahren große Dinge für unser Land tun kann. Aber Redegewandtheit ist kein Ersatz für vorzeigbare Leistungen - nicht in den jetzigen harten Zeiten.

Im Senat hat er nicht versucht, über Parteigrenzen hinweg irgend etwas Bedeutsames zu erreichen. Ebensowenig ist er willens, sich gegen mächtige Interessengruppen in der Demokratischen Partei zu stellen.
Und über Sarah Palin, die konservative, evangelikale Vize- Kandidatin, sagte der liberale Jude Lieberman:
Gov. Sarah Palin, like John McCain, is a reformer who has taken on the special interests and reached across party lines. She is a leader we can count on to help John shake up Washington. That's why the McCain- Palin ticket is the real ticket for change this year.

Gouverneurin Sarah Palin ist wie John McCain eine Reformerin, die sich gegen Interessengruppen stellt und die Gemeinsamkeiten über Parteigrenzen hinweg sucht. Sie ist eine Führungsperson, bei der wir darauf zählen können, daß sie John helfen wird, Washington aufzumischen. Deshalb ist das Ticket McCain- Palin in diesem Jahr das wirkliche Ticket für den Wandel.
Bei den Redakteuren von CNN ist diese Rede, sind jedenfalls diese Passagen auf Kopfschütteln gestoßen. Man würde ja verstehen, so die Kommentare, daß Joe Lieberman seinen alten Freund John McCain unterstützt. Aber mußte er denn auch noch Obama kritisieren? Und gar eine Erzkonservative loben, der er doch in fast allen politischen Streitfragen - von der Abtreibung bis zu den Waffengesetzen - so fern stehe, wie das überhaupt nur möglich sei?

Die CNN-Leute rätselten herum, warum Lieberman das tat. Und sie stellten vor allem die Frage, wie es ihm denn wohl von Seiten der Demokratischen Partei nach den Wahlen gehen werde.



Mir scheint das Verhalten Liebermans aus drei Gründen bemerkenswert zu sein.

Erstens zeigt es, wie autonom ein US-Senator im Vergleich zu einem deutschen Abgeordneten ist. Ein Abgeordneter des Bundestags, der öffentlich den Kanzlerkandidaten seiner Partei heruntermacht und der auf dem Parteitag der gegnerischen Partei auftritt und dort dringend empfiehlt, deren Kandidaten zu wählen, wäre schneller aus der Partei geworfen, als er zurück in Berlin ist.

Zweitens könnte Liebermans Seitenwechsel (vielleicht wird er ja am Ende auch formal die Partei wechseln müssen) auf eine generelle Umsortierung im amerikanischen Parteiensystem hindeuten.

Etwas Ähnliches hatte bereits in den sechziger und frühen siebziger Jahren stattgefunden, als viele der Southern Democrats - der konservativen, oft rassistischen Südstaaten- Demokraten - zu den Republikanern wechelten, während die Demokratische Partei zugleich, ähnlich wie die SPD und die FPD in Deutschland, einen Teil der linken Protestbewegung aufnahm.

Jetzt scheint es eine Entwicklung zu geben, bei der die Demokratische Partei immer mehr die Partei des Multikulturalismus wird.

Zum Parteitag letzte Woche gab es umfrangreiche Quoten- und sonstige Regelungen, die festlegten, wieviele Delegierte Afro- Americans, Hispanics, Asian- Pacific Americans, Native Americans sein mußten; auch die Berücksichtigung von Homosexuellen und Behinderten war in dem umfangreichen Regelwerk (PDF) festgelegt. Delegierte trugen sogar Schildchen, die sie als Angehörige der jeweiligen Gruppe auswiesen.

Je mehr die Demokratische Partei die Partei von Communities wird, umso mehr könnten diejenigen, die sich, wie Lieberman, der christlich- jüdisch- abendländischen Tradition verbunden fühlen, ihre politische Heimat bei den Republikanern suchen. Auch Rudy Giuliani, der anfangs als der aussichtsreichste Kandidat der Republikaner galt, hatte früher der Demokratischen Partei angehört.

Und drittens ist Liebermans jetziger Einsatz für McCain ein Zeichen des persönlichen Muts und der Prinzipientreue. Diese Unbeirrbarkeit darin, das zu tun, was der eigenen Überzeugung entspricht, teilt er mit John McCain. Das war einer der Gründe, warum ich diese beiden im vergangenen Dezember als meine Favoriten beschrieben habe.

Damals hatte Lieberman gerade mitgeteilt, daß er McCain unterstütze. Daß er es so aktiv, so ostentativ tun würde, wie es sich jetzt herausgestellt hat, hatte ich allerdings damals, vor einem dreiviertel Jahr, nicht für möglich gehalten.



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