2. September 2008

Was weiß die OSZE über den Schuldigen am Georgien-Krieg? Wie "Spiegel-Online" wieder einmal manipuliert hat

Am vergangenen Samstag brachte "Spiegel- Online" eine Meldung, die am Samstag und am Sonntag von zahlreichen deutschen Medien zitiert wurde, zum Beispiel von der "Welt" und der "Deutschen Welle".

Die Agentur AFP übernahm die Meldung, und so gelangte sie in alle Welt, von der Times of India über die Tehran Times bis in die australische Zeitung The Age.

Die Meldung, auf die das alles zurückging, basierte nicht auf eigenen Recherchen von "Spiegel- Online", sondern der Bericht berief sich auf "Informationen des SPIEGEL", der bekanntlich redaktionell von "Spiegel- Online" unabhängig ist.

Es geht um die Schuld am Georgien-Krieg. Die Meldung von "Spiegel- Online" ist ein Beispiel für das Umschreiben eines Textes, so daß er für den Leser einen anderen Sinn bekommt. Das nennt man gemeinhin Manipulation.



Ich zitiere jetzt zunächst, was im gedruckten "Spiegel" von gestern zu lesen war, und dann, wie "Spiegel- Online" am Samstag vorab darüber berichtete.

"Der Spiegel", Heft 36/2008 vom 1. September 2009, Seite 21f:
... tauchten in verschiedenen Regierungsstellen in Berlin Zweifel an der Glaubwürdigkeit des derzeit schwierigsten Freunds des Westens auf. Der georgische Präsident Saakaschwili habe offenbar Südossetien angreifen lassen, bevor russische Panzer durch den Roki- Tunnel dorthin vorgedrungen seien.

Das haben Militärbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erzählt, die in Georgien waren. In die Berichte, die jetzt aus der Wiener OSZE- Zentrale heraussickerten, flossen womöglich auch Informationen über abgehörte Telefonate der georgischen Führung ein.
Und das berichtete darüber vorab "Spiegel- Online am Samstag:
"Spiegel- Online", 30. August 2008, 16:24 Uhr:
Die georgische Regierung am Pranger: Nach SPIEGEL- Informationen hat die OSZE Hinweise darauf, dass die Führung in Tiflis den Krieg mit Russland verschuldet hat. (...) In der Zentrale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) häufen sich offenbar Hinweise auf ein massives Fehlverhalten der georgischen Führung, das zum Ausbruch der Krise beigetragen hat.

Nach Informationen des SPIEGEL sind auf informellen Kanälen Berichte von OSZE- Militärbeobachtern aus der Kaukasus- Region an verschiedene Regierungsstellen in Berlin gelangt. Demnach habe Georgien den Militärschlag gegen Südossetien intensiv vorbereitet und seinen Angriff begonnen, bevor russische Panzer den Verbindungstunnel nach Südossetien befuhren.
Ein Vergleich zwischen diesen beiden Versionen zeigt erhebliche und systematische Unterschiede. Das gilt für die Quellen und den Inhalt:



Was die Quellen angeht, so berichtet der "Spiegel", es seien Berichte aus der OSZE- Zentrale "herausgesickert"; daß Militärbeobacher etwas "erzählt" hätten.

Es steht nicht da, daß das schriftliche Berichte waren. Erst recht waren es laut "Spiegel" keine Berichte an die deutsche Bundesregierung. Vielmehr geht es um Gerüchte, um Behauptungen einzelner Mitarbeiter, die durchsickerten und dadurch auch deutschen Regierungsstellen zu Ohren kamen.

Und was macht "Spiegel- Online" daraus? Es seien "auf informellen Kanälen Berichte von OSZE- Militärbeobachtern aus der Kaukasus- Region an verschiedene Regierungsstellen in Berlin gelangt." Das erweckt den Eindruck, daß es sich um formale, schriftliche Berichte handelte. Es erweckt weiter den Eindruck, daß diese - wenn auch auf "informellen Kanälen" - an Berliner Regierungsstellen geschickt worden seien.

Natürlich kann man auch Gerüchte als "informelle Kanäle" bezeichnen. Natürlich kann man, wenn auch die Bundesregierung von diesen Gerüchten hört, sagen, sie seien "an sie gelangt". Aber der Leser wird das nicht so verstehen.

Daß er es nicht so versteht, erhellt daraus, wie die Agenturen und wie einzelne Journalisten über das berichteten, was "Spiegel Online" als angebliche Informationen des gedruckten "Spiegel" gemeldet hatte.

Beispielsweise schrieb die schon erwähnte australische Zeitung The Age (basierend auf AFP):
The German weekly Der Spiegel separately reported that OSCE observers were blaming Georgia, whose bid to join NATO is championed by the United States, for triggering the crisis in a series of unofficial reports presented to the German government. OSCE monitors said Georgia had made elaborate preparations for the offensive in South Ossetia on August 7.

Die deutsche Wochenschrift "Der Spiegel" berichtete unabhängig, daß Beobachter der OSZE Georgien in einer Reihe von inoffiziellen Berichten, die der Regierung übermittelt wurden, dafür verantwortlich machten, die Krise ausgelöst zu haben. Die Überwacher der OSZE erklärten, Georgien hätte ausführliche Vorbereitungen für die Offensive in Südossetien am 7. August getroffen.
Es ist wie bei dem Spiel "Stille Post":

Der "Spiegel" meldet Gerüchte aus der OSZE, von denen auch deutsche Regierungsstellen erfuhren. "Spiegel-Online" macht daraus Berichte, die an die Bundesregierung gelangt seien. Und die Autorin von Age, sich auf AFP stützend, versteht das, wie auch anders, als Berichte, die Beobachter der OSZE an die Bundesregierung übermittelt hätten, wenn auch nicht über offzielle diplomatische Kanäle.



Ähnlich wie mit den Quellen macht es "Spiegel- Online" mit den Inhalten.

Im gedruckten "Spiegel" ist allein davon die Rede, daß laut dem, was aus der OSZE "herausgesickert" sei, Saakaschwili "offenbar" Südossetien habe angreifen lassen, bevor russische Panzer durch den Roki- Tunnel hindurchgefahren waren.

Das mag durchaus stimmen; aber über die Schuld an dem Konflikt sagt es exakt nichts.

Es könnte sein, daß die Aktionen der Russen und diejenige der Georgier unabhängig voneinander für den Fall einer Eskalation geplant und ungefähr zeitgleich gestartet wurden; die der Georgier ungefähr dreieinhalb Stunden früher. Es könnte auch sein, daß Georgien nicht erst auf das Durchqueren des Roki- Tunnels reagierte, sondern schon auf den Aufmarsch der russischen Truppen auf nordossetischer Seite.

Und so fort. Ich will das hier nicht diskutieren; für eine eingehende Diskussion siehe diesen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort wird vor allem auch erörtert, ob die Zeitdifferenz zwischen dem Beginn des Beschusses von Tschinwali - 22.30 Uhr in der Nacht zum 8. August laut "Spiegel" 35/2008 - und der ersten Meldung über das Auftauchen russischer Panzer am Ausgang des Roki- Tunnels - 2.06 Uhr laut derselben Quelle - überhaupt so groß ist, daß der Einmarsch der Russen die Reaktion auf den Angriff auf Tschinwali gewesen sein kann.

Um diese offenen Fragen geht es mir hier nicht. Sondern darum, daß "Spiegel- Online" dem gedruckten "Spiegel" etwas zuschreibt, das dort überhaupt nicht steht: "Die OSZE" hätte Hinweise darauf "dass die Führung in Tiflis den Krieg mit Russland verschuldet hat". Es "häuften" sich Hinweise auf ein "massives Fehlverhalten" der georgischen Führung.

Alles hinzugedichtet. Kein Wort von einer Häufung von Hinweisen steht im gedruckten "Spiegel", nichts über die Kriegsschuld.



Und was sagt nun die OSZE selbst zu dem, was der "Spiegel" berichtet und was "Spiegel- Online" manipulativ daraus gemacht hat?

Die in Wien, dem Sitz der OSZE, erscheinende "Presse" berichtete dazu gestern:
"Der Spiegel" bezieht sich auf Berichte von Beobachtern der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE). (...) OSZE-Sprecher Martin Nesirky wies die "Spiegel"-Darstellung jedoch zurück: Die Beobachtermission erstelle regelmäßig Berichte, die über "offizielle diplomatische Kanäle" an alle OSZE-Staaten, darunter Russland und Georgien, weitergeleitet werden. "Keiner dieser Berichte enthält Informationen der Art, wie sie im Spiegel- Artikel vorkommen."
Was ja auch der gedruckte "Spiegel" gar nicht behauptet hat. Nur hatten dessen Kollegen von "Spiegel- Online" die "Spiegel"- Geschichte so umgedeutet, daß aus Gerüchten, die Regierungsstellen in Berlin erreicht hatten, Berichte aus der OSZE an die Bundesregierung geworden waren.



Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.