In Diskussionen höre ich immer wieder mal die Behauptung, Eltern wären heute in Bezug auf ihre Kinder ehrgeiziger als früher und würden ihre Kinder mehr antreiben und einspannen. Meine Kinder sind hohem Druck ausgesetzt und zeitlich stark eingespannt. Aber liegt das an an meiner Frau und mir? Oder gibt es da ganz andere Faktoren, die den elterlichen Einfluss übersteuern?
Zunächst sollten wir uns verdeutlichen, dass zu diesem Thema gutes Zahlenmaterial rar ist. Wir können uns dem Thema nur argumentativ annähern. Was für Fakten haben wir überhaupt?
- Wir wissen, dass sich die Art der Familien geändert hat. Ein-Kind-Familien haben stark zugenommen und sind inzwischen der Normalfall. Nur noch etwas mehr als ein Viertel der Familien haben drei oder mehr Kinder
- Wir wissen, dass die Anzahl der Schüler im Ganztagsunterricht zugenommen hat
- Wir wissen, dass die Anteile der Schulformen sich verschoben haben. Die Hauptschule hat deutlich Anteile verloren.
- Wir wissen, dass sich die Anzahl der Schuljahre bis zum Abitur (in vielen Fällen) durch G8 verkürzt hat
Bereits Punkt 1 hat einen so großen Einfluss, dass man Seiten darüber schreiben könnte. Wenn Eltern weniger Kinder haben, dann können sie pro Kind mehr Zeit aufbringen. Nach meiner Erfahrung begrüßen es jüngere Kinder, wenn Eltern mehr Zeit mit ihnen verbringen und sind dafür auch bereit, nötigenfalls etwas für die Schule zu tun. Natürlich werden die wenigsten Kinder es ablehnen, mit den Eltern zu spielen; aber wenn das Geschäft lautet "Ich verbringe Zeit mit dir, wenn wir zusammen etwas für die Schule tun" dann werden die meisten jüngeren Kinder zustimmen. So weit ich das beurteilen kann, investieren Eltern heute nicht mehr Zeit als früher mit der Beschäftigung für die Schule. Aber die verfügbare Zeit konzentriert sich auf weniger Kinder. Wenn man der biologistischen Theorie anhängt, dann hat sich die evolutionäre Fortpflanzungstrategie geändert: nicht viele Kinder mit mittlerer Ausbildungsstufe ins Rennen bringen, sondern ganz wenige Kinder mit maximaler Ausbildungsstufe. Ich selbst halte von dieser Theorie nichts. Ich glaube nicht, dass die Eltern weniger Kinder bekommen, weil sie den wenigen Kindern eine bessere Betreuung und Ausbildung zukommen lassen wollen. (Zumindest trifft das nicht mehr auf unsere Zeit zu.) Statt dessen behaupte ich, dass die Eltern weniger Kinder bekommen, um in Summe weniger Zeit für die eigenen Kinder aufwenden zu müssen.
- Mehr Ehrgeiz? Eher nicht.
Punkt 2 ist meiner Meinung nach ein Seiteneffekt von Punkt 1. Da die Eltern in Summe weniger Zeit für ihre eigenen Kinder aufwenden, steigt die Chance, dass beide Partner eine außerfamiliäre Hauptbeschäftigung annehmen können. Ab einem gewissen Punkt ist diese außerfamiliäre Beschäftigung so attraktiv (sozial und finanziell), dass man die für das Kind zur Verfügung stehende Zeit noch weiter reduzieren will. Wenn dieses Argument stimmt, dann schicken die Eltern ihre Kinder nicht auf Ganztagtsschulen, um die Ausbildung der Kinder zu verbessern, sondern um im Gegenteil sich weniger mit den Kindern beschäftigen zu müssen. Der finanzielle Aspekt ist für mich nur ein Scheinargument ("müssen zu zweit arbeiten gehen, um den Lebensstil zu finanzieren"), aber das führe ich jetzt nicht aus. Meine persönliche Erfahrung zeigt mir jedenfalls, dass Schüler in Ganztagsschulen keineswegs besser ausgebildet werden (Privatschulen kann ich nicht beurteilen). Beim Ganztagsunterricht wird die Anzahl der Stunden in den Kernfächern nicht erhöht, sondern der Tag wird mit zusätzlichen Fächern und Aufgaben gefüllt: Neigungsfächer, Hausaufgabenbetreuung, AGs und Projekte. Die zusätzliche Schulzeit wird mit Beschäftigungstherapie überbrückt und die Qualität der Hausaufgabenbetreuung und ähnlichem ist extrem mangelhaft.
- Mehr Ehrgeiz? Eher nicht.
Punkt 3 ist interessant. Zunächst könnte man vermuten, dass dies ein klarer Ausdruck größeren Ehrgeizes ist. Die Eltern geben sich mit "schlechteren Abschlüssen" nicht mehr zufrieden und erhöhen den Druck, dass die Kinder auf höhere Schulformen kommen. Aber zu diesem Argument gibt es zwei Einwände. Zum einen ist das eine statische Sichtweise: die Qualität der Schulform X gestern muss nichts mit der Qualität der Schulform X heute zu tun haben. Vielleicht war früher die Realschule so gut, dass sie dem heutigen Gymnasium gleich kam? Das zweite Gegenargument ist die zunehmende Vielfalt der Schulformen. Der Trend geht ja nicht etwa zu "Alle auf´s Gymnasium", sondern der Trend ist eher "Alle weg von der Hauptschule". Der Trend ist also keine Aussage für eine bestimmte (vermeintlich höhere) Schulform als mehr eine Aussage gegen eine bestimmte Schulform. Gesamtschulen, Stadtteilschulen, Schulen mit besonderen pädagogischen Leitlinien... das klingt eher danach, dass man der Vielfalt der Lebensentwürfe der Eltern und (im Optimalfall) der Vielfalt der Kinder gerecht werden möchte. Das kann im Endeffekt sogar weniger Leistungsdruck bedeuten.
- Mehr Ehrgeiz? Unklar.
Punkt 4 geht nach meinen Informationen überhaupt nicht auf den Willen der Eltern zurück und sehr viele Eltern hadern damit. Die Verkürzung der Schulzeit wird offiziell mit der "internationalen Vergleichbarkeit der Abschlüsse" begründet. Inoffiziell gibt jeder zu, dass es nur um´s Geld geht. Der Staat will die Kinder früher aus dem Schulwesen haben, um Geld zu sparen.
- Mehr Ehrgeiz? Auf keinen Fall.
In Summe kann ich nicht erkennen, woran der größere Ehrgeiz der Eltern eigentlich festgemacht wird. Die Indizien zeigen für mich eher auf das genaue Gegenteil: Kinder haben immer weniger Wert für die reproduktionsfähige Bevölkerung allgemein und die Eltern im besonderen. Mein Bauchgefühl sagt mir als Schlussfolgerung etwas anderes:
Die These der "Übereifrigen, ehrgeizigen Eltern" ist der Versuch einer zunehmend Kinder-feindlichen Gesellschaft, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Die wenigen Eltern, die ihre Rolle noch ernst nehmen und die Betreuung und Ausbildung der eigenen Kinder fördern, sollen diskreditiert werden, damit die anderen Eltern und Nicht-Eltern nicht schlecht dastehen. Man könnte sogar die provokante These aufstellen: der enorme zeitliche und soziale Druck, der auf den Kinder lastet, ist eher ein Ausdruck gesunkener Wertschätzung für die Kinder und nicht einer gestiegenen Zuwendung zu eben diesen.
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