23. Mai 2013

Man wird nichts über uns wissen. Über die Zukunft der historischen Forschung in Zeiten des Datenschutzes

Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt. Meine Mutter und selbst meine Großmutter hatten als Folge von Krieg, Vertreibung und Neuanfang den Kontakt zu ihm verloren, und er starb, als ich ein Kleinkind war. Als ich mich dann dafür interessierte, wer mein Großvater war, welche Berufe er hatte, wie und wo er gelebt hatte, war niemand da, der mir von ihm hätte erzählen können.

So habe ich mich daran gegeben und habe nach und nach sicher ein Dutzend Eiwohnermeldeämter und Stadtarchive in Deutschland bemüht, um wenigstens die Eckdaten seines unsteten Lebens zu ermitteln. Es war nicht einfach, aber jetzt weiß ich doch einiges über das Leben meines unbekannten Großvaters - und dank eines freundlichen Beamten eines Einwohnermeldeamts in Bayern habe ich sogar seine fünfte und letzte Ehefrau gefunden, die mir Fotos und Schriftstücke überlassen hat.

Unsere Nachkommen hingegen werden nicht mehr in der Lage sein, auch nur einfachste Informationen über uns Heutige zu erfahren.

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Das hat mehrere Gründe:

Der erste Grund dafür sind die geänderten Vorschriften über die Melderegister der Kommunen. Zu den "Schätzen" mancher älterer Stadt- und Gemeindearchive gehören die erhaltenen Melderegister, Meldebögen, Hausbücher etc. des 19. und des ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vielfältigen Aufschluss über die damals lebenden Bewohner des Ortes, deren Herkunft, Familienverhältnisse etc. enthalten und somit eine wichtige historische Quelle darstellen. Nur anhand solcher Melderegister war und ist es möglich, den Verbleib einer Person auch nach Jahrzehnten zu klären.

Wenn man etwa weiß, dass XY im Jahre 1925 in A-Stadt lebte, kann man anhand des Melderegisters den Umzug nach B-Stadt feststellen und sich dann von Ort zu Ort bis zum letzten Wohnort "durchhangeln". Auch sind die Melderegister oft die einzige Quelle für Informationen über den Beruf einer Person. Der letzte Hinweis auf das Schicksal der während des Zweiten WEltkriegs deportierten und ermordeten Juden stammt oft aus den Melderegistern, wenn dort vermerkt ist "unbekannt verzogen" oder "in den Osten verzogen". Hätte es die entsprechenden Meldegesetze schon 1942 gegeben, wären die entsprechenden Melderegistereinträge der im Jahr 1942 Deportierten im Jahr 1947 separiert und unter Verschluss genommen und im Jahr 1992 vernichtet worden - um des Datenschutzes willen.

Inzwischen sehen die Meldegesetze der Länder aber genaue Fristen zur Löschung der Daten vor, die von den Melderegistern erhoben werden. In NRW etwa müssen Angaben zur Religionszugehörigkeit ein Jahr nach Wegzug oder Tod gelöscht werden. Fünf Jahre nach Wegzug oder Tod sind die Daten dann "für die Dauer von 45 Jahren gesondert aufzubewahren und durch technische und organisatorische Maßnahmen besonders zu sichern" und dürften nur noch in wenigen wohldefinierten Fällen benutzt werden. 50 Jahre nach Wegzug oder Tod sind die Daten zu löschen.

Dementsprechend werden die alten Meldeunterlagen von den Städten und Gemeinden jetzt nicht mehr den Archiven zur Aufbewahrung angeboten, sondern nach Fristablauf vernichtet. Auf Grundlage dieser Vorschriften haben einzelne Städte auch schon Altregister aus den 1950er Jahren oder früher vernichtet. Manches Stadtarchiv verweigert jetzt unter Berufung auf den Datenschutz Auskünfte aus Registern aus der Zeit um 1900.

Der zweite Grund ist die Neuregelung des Personenstandsgesetzes. Während ältere Personenstandsregister auch Informationen enthalten über die Religionszugehörigkeit, die Wohnadresse, den Beruf, akademische Grade und Titel, so sind nach der Neuregelung des Personenstandsgesetzes von 2009 grundsätzlich nur noch die Namen sowie die Religionszugehörigkeit auf Wunsch zu erfassen. Die Begründung dafür lautete im Gesetzgebungsverfahren, man wolle die Datenerfassung auf das unmittelbar Notwendige beschränken.

Der dritte Grund und die größte Gefahr für das zukünftige Wissen über uns Heutige aber ist die geplante Neuregelung des Datenschutzes durch die EU. Es handelt sich um eine geplante Verordnung mit dem schönen und übersichtlichen Titel "Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)". Anlass für die geplante Neuregelung ist wohl der wohlgemeinte Versuch, "Datenkraken" wie Facebook oder Google in die Schranken zu weisen. Tatsächlich aber wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn diese Verordnung nun in Art. 17 vorsieht, dass private wie staatliche Stellen alle personenbezogenen Daten unverzüglich zu löschen oder zu anonymisieren haben, sobald diese für den Zweck, zu dem sie erhoben worden sind, nicht mehr benötigt werden. Dieser Artikel 17 steht unter dem Überschrift "Recht auf Vergessenwerden und auf Löschung". Tatsächlich aber bedeutet diese strafbewehrte Pflicht zur Löschung und/oder Anonymisierung kein Recht, sondern einen Zwang zum Vergessenwerden.

Die Archive, historischen und genealogischen Vereine und Historiker verschiedener europäischer Länder sehen in dieser Neuregelung eine große Gewahr für das kollektive historische Gedächtnis. Um das obige Beispiel fortzusetzen: Hätte es diese Vorschriften in den 1930er Jahren schon gegeben, wären alle Akten und Unterlagen über "Arisierungen", die Dokumentation von erzwungenen Grundstücksveräußerungen, die Akten der Finanzämter mit der akribischen Auflistung beschlagnahmer Besitztümer und über die Zahlung der "Reichsfluchtsteuer" schon lange vor Kriegsende aus "Datenschutz"-Gründen vernichtet gewesen.

Man muss aber gar nicht dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte bemühen. Die Neuregelung betrifft die einfachste Erinnerung an jeden einzelnen von uns. Die Vereinigung der französischen Archive hat eine Petition gestartet und bringt die Folgen der geplanten Verordnung wie folgt auf den Punkt:

Did you recently graduate? Schools or universities will destroy your file. Did you sell your real estate property ? The land registry office will destroy every trace of your property. Are you no longer employed ? The organisation you worked for will delete every bit of information related to you. Do not count on public organisations or your employer, you will be the only one responsible for your own personal data.

Die Petition verlangt, die Neuregelung dahingehend zu ändern, dass keine Zerstörung der Daten und damit der historischen Überlieferung verfügt wird, sondern ein vernünftiger Schutz der Daten gegen Missbrauch:

Collecting and preserving personal data for patrimonial or legal purposes beyond the needs leading to their creation, ensuring access to information while protecting privacy is the privilege of democracies, which have had strict legislation in this domain for a very long time. Europe must not forbid data preservation, but on the contrary ensure their protection and controlled access. It must ensure citizens that sufficient technical, financial and human resources, including the presence of skilled professionals will be granted to manage data properly. To avoid a decision with irreparable consequences, we ask the European commission to adjourn the adoption of this regulation and debate it in depth.

Der Wortlaut der geplanten Verordnung ist hier zu finden.

Die Petition gegen den Zwang zum Vergessenwerden kann hier unterzeichnet werden.

Weitere Links:

http://archiv.twoday.net/stories/409246833/

http://compgen.de/?Blog&realblogaction=view&realblogID=29&page=1

http://www.archivistes.org/Citoyens-contre-le-projet-de

Gansguoter

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