31. Mai 2013

Menschenklon – Nicht die Naturwissenschaft ist zu fürchten, sondern das Versagen der Kirchen. Ein lehrreicher Blick auf eine vergleichbare historische Stunde. Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Niemand will Menschen klonen. Ziel des Projekts ist nicht das Kopieren kompletter Menschen, sondern die Zucht von Ersatz-Organen für kranke Kinder. Aber allein die Möglichkeit, dass man es jetzt tatsächlich machen könnte, jagt vielen Schauder ein. Sie wünschen, die Ehrfurcht vor dem Schöpfer würde nicht angetastet. Aber die Wissenschaft wünscht, den Kindern zu helfen. Meine These ist: Wenn die Sicht des Menschen als eines je einmaligen Ebenbilds Gottes – so die Christen – fällt, wenn die Würde der Person – so die Agnostiker und die Humanisten – einstürzen wird, dann nicht wegen des Triumphs der Naturwissenschaft, sondern durch die Saft- und Kraftlosigkeit der Kirchen im ehemaligen christlichen Abendland. Wie ist diese These begründet?

Ein vergleichbares Beispiel ereignete sich in der frühen Aufklärungszeit. 1680 begann der Befreiungsversuch von der Herrschaft des Adels, der Kirche und der Dogmen. Auf die Frage, was der Hauptanlass für die Absage der Aufklärungszeit an den kirchlichen Glauben war, antwortet der spätere Zeitgenosse Lichtenberg im Rückblick 1784: „Was, wie ich glaube, die meisten Deisten schafft, zumal unter Leuten von Geist und Nachdenken, sind die unveränderlichen Gesetze der Natur. Je mehr man sich mit denselben bekannt macht, desto wahrscheinlicher wird es, dass es nie anders in der Welt hergegangen, als es jetzt darin hergeht, und dass nie Wunder in der Welt geschehen sind, so wenig als jetzt“ (Sudelbücher Heft H 6-15).

Viele denken bis heute so und folgern, die aufblühenden Naturwissenschaften hätten den Anstoß für die Dekonstruktion der christlichen Synthese von Vernunft und Glauben gegeben. Aber dies stimmt nicht ganz. Noch zwei weitere Generationen von Naturwissenschaftlern waren damals entzückt über jede neue Entdeckung und schrieben sie der göttlichen Schöpferweisheit zu, während inzwischen auf einem ganz anderen Feld durch Geisteswissenschaftler alles zum Einsturz gebracht wurde. Dieser Ort war die Bibelkritik und der Kampf richtete sich vor allem gegen den Wunderglauben. Die Kritik reduzierte die Wunderberichte auf poetische Übertreibung, auf Lüge oder Betrug und wollte damit der Kirchenherrschaft die Legitimation entziehen.

Wenn man die Zeit genauer studiert, staunt man: Nicht die Naturwissenschaft führte in der Aufklärungszeit zur Krise des Schöpferglaubens, sondern die Geschichtswissenschaft. Freilich mag dem zuletzt die Enttäuschung und Wendung gegen die Kirchen- und Dogmenherrschaft zugrunde liegen. Viele Naturwissenschaftler blieben fromm. Sie fühlten sich von dem zu Recht kritisierten Unbegriff der Wunder in der innerkirchlichen Bibelauslegung jener Zeit nicht direkt betroffen.

1713 gab Robert Boyle dieser frommen Strömung den Namen „Physico-Theology“, 1798 hatte sein Buch schon die 15. Auflage. Es gab eine Astro-Theology, eine Pyro-Theology, Spezialkompendien über Vögel, Fische, Frösche, Heuschrecken, Muscheln und Schnecken. Jede Neuentdeckung führte zu einem weiteren Buch über Gottes Ordnung und Weisheit. Der unstillbare Hunger nach solchen Werken trieb noch Metallo-, Geo-, Zoo-, Chemio-, Therato-, Tycho- und Mikrotheologien hervor. Erst als die Physikotheologie in Bagatellen abglitt, grub sie ihr Grab in den Falten des Rhinozeros und im Nachweis von Gottes Finger in der Anatomie einer Laus. Kant und Darwin erschütterten sie dann restlos. Von der Kritik an den biblischen Wundern mitverletzt, gelang es den Christen unter den Naturwissenschaftlern dann nicht mehr, Darwins Entwicklungsgedanken zu erobern.

Lehrreich an diesem historischen Beispiel ist: Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft entsteht offensichtlich weniger aus dem Zusammenprall mit der Naturwissenschaft als vielmehr aus einem Widerspruch in den Kirchen: Diese behaupten, ihre Verfassung sei die Bibel, aber ihr Leben deckt und interpretiert nicht die Sprache der Bibel. Nur eine aktuell erlebte Heilsgeschichte im Verein mit einer neue Sprache würden die Wahrheit der alten Wundersprache haben retten können.

Präziser als Lichtenberg hatte Lessing den Punkt erfasst. 1777 schrieb er: „Wenn noch itzt von gläubigen Christen Wunder getan würden, die ich für echte Wunder erkennen müsste, was könnte mich abhalten, mich mit diesem Beweise des Geistes und der Kraft, wie ihn der Apostel nennet, zu fügen? (…) Daran liegt es, dass dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr hat, sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist“ (Über den Beweis des Geistes und der Kraft).

Der Angriff war klug und genial. Lessing ließ sich nicht auf den populären Unbegriff des Wunders ein, den die Ängstlichen damals ausbildeten, um Gott zu retten, in Wirklichkeit aber lächerlich zu machen: als gehe es um ein Durchbrechen von Naturgesetzen.

Der Dichter ahnte wohl, dass Wunder ein Wort ist und nicht die Sache selbst, sondern ein Zeichen für etwas. Dass es diesem Begriff nicht um eine Ursachensuche geht, sondern um eine Botschaft und deren Kommunikation. Darum insistierte er darauf, „dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind. Diese, die vor meinen Augen geschehenen Wunder, wirken unmittelbar.“ Er bemängelte die fehlende Kraft der zeitgenössischen Christen. Lessing leugnete gar nicht, dass es einmal Wunder gab, aber verlangte, dass sie gegenwärtig erwiesen werden. Das war mehr als ein Wadenbiss, es traf den Glauben wie ein Herzinfarkt. Er nannte es den garstigen breiten Graben, über den er nicht springen könne.

So weit so gut. Dann aber zog er einen Graben, der seine Aufklärungsreligion vom Kern des Jüdisch-Christlichen trennte: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.“ Juden- und Christentum sind aber Aufklärungswege anhand einer Geschichte. Der gesamte jüdische und christliche Glaube beruht im Unterschied zu den anderen Religionen nicht auf Gedanken und Gefühlen, Kult und Riten, sondern auf der Geschichte eines Volkes Gottes mit seinem Gott, also ganz auf „Geschichtswahrheiten“, auf dem Leben nach der Weisung der Zehn Gebote, also auf Personen, die sie lehrten und danach lebten: auf Mose, Elija, Jesus, den Aposteln.

Lessing wollte die Konsequenz aus dem seinerzeitigen Ausbleiben des wunderbaren Lebens der Christen ziehen: also kann ich auch den alten Wundern und darf ich den Dogmen nicht glauben. Damit verwirrte er das von ihm zuvor Geklärte, und der Auszug der Gebildeten aus dem Kirchenglauben setzte sich fort, bis heute.

Unser Ergebnis: Die Praxis der Christen war und ist das Problem. Wir haben auch heute nicht den Ehrgeiz der Naturwissenschaft zu fürchten, sondern den Untergang des gelebten biblischen Menschenbildes, das an die Decke der Sixtina so herrlich gemalt ist, aber von staatssubventionierten und Weltfremdes nachplappernden Christen nur armselig und hohl kopiert wird. Papst Franziskus möchte es in Richtung Ehrlichkeit ändern. Dazu die frische Anekdote: Als ein Jüngerer bat, an seinem Frühstückstisch zu sitzen: „Darf ich, Heiliger Vater?“ kam als Antwort: „Bitte sehr, Heiliger Sohn.“


Ludwig Weimer, Wodurch kam das Sprechen von Vorsehung und Handeln Gottes in die Krise? Analyse und Deutung des Problemstandes seit der Aufklärung, in: Vorsehung und Handeln Gottes, Quaestiones Disputatae 115, Freiburg i.Br. 1988, 17-71.

Ludwig Weimer

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