11. Mai 2013

Aufmerksamkeitsökonomie: Der Boykottaufruf als Geschäftsmodell?

Jede Darstellung des Menschen in der Kunst kann das Publikum polarisieren. Wir können das Werk mit Begeisterung, Gleichgültigkeit oder Ablehnung aufnehmen. Wir können die Intention des Künstlers verstehen oder missverstehen. Manche Menschen behaupten, dass man Kunst grundsätzlich nur missverstehen kann.

Jede Darstellung des Menschen in der Kunst kann und wird bei mindestens einem Menschen Ablehnung hervorrufen: Er kann sich verletzt, ausgegrenzt oder gar diskriminiert fühlen. Die Übergänge sind fließend.



Tatsächlich müssen Sie meist nicht lange nach solchen Reaktionen suchen. Wenn Sie aber behaupten, dass Sie niemanden finden können, der sich durch ein spezielles Kunstwerk diskriminiert fühlt, dann übernehme ich diese Rolle.





Jede Darstellung des Menschen in der Kunst kann also mindestens einen Betrachter diskriminieren; meist finden sich kleine oder größere Gruppen von Diskriminierten. Wer sich dieser Tatsache nicht bewusst ist, muss an der Rezeption von Kunst scheitern.

Wer diese Tatsache allerdings kennt und sich zunutze macht, hat ein sehr gefährliches Werkzeug gegen die Kunst in der Hand. Er muss nur einen Aspekt des Kunstwerks finden, von dem sich subjektiv jemand diskriminiert fühlen könnte. Und er muss eine aktive Gruppe organisieren, die öffentlichkeitswirksam gegen das Kunstwerk vorgeht:

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  1. Wir schaffen einen Tatbestand der Diskriminierung.
  2. Wir ermitteln.
  3. Wir finden ein Corpus delicti.
  4. Wir machen daraus eine Anklage.
  5. Wir lassen die Anklage zu.
  6. Wir beurteilen die Tat.
  7. Wir urteilen über den Täter.
  8. Wir setzen das Strafmaß fest.
  9. Wir sorgen für die Exekution der Strafe.

Gewaltenteilung ist für solche Gruppen nur ein lästiges Prinzip, um das sich andere kümmern mögen: Praktischerweise liegen hier Legislative, Judikative und Exekutive in einer Hand. Die vierte Gewalt ist das Netz. Auf die Diskussion über die Angemessenheit der Reaktionen kann selbstverständlich verzichtet werden, wenn das Urteil schon feststeht.

Jetzt fehlt nur noch ein praktisches Beispiel.

Der Anbieter des Getränks Bionade hat in einem Werbespot das Thema Travestiekunst aufgenommen: Eine geheimnisvoll lächelnde Person legt nach der Show ihre falschen Fingernägel, Haare und Wimpern ab. Das Motto des Spots: Es geht auch ohne künstliche Zusätze.

Am Ende dieser schönen Frühlingswoche könnte nun folgendes geschehen sein: Eine transsexuelle Person sieht zufällig im Internet oder im Kino diesen Werbespot, in dem der Travestie-Künstler sein kunstvolles Spiel mit Identität und Illusion spielt.

An diesem Punkt treffen Illusion und Realität hart aufeinander: Für den Travestie-Künstler ist das Dargestellte ein Spiel und Teil seines Berufs. Für die transsexuelle Person ist das Dargestellte ein Teil ihrer Identität.

Jede künstlerische Darstellung eines Menschen in der Travestie kann subjektiv als Diskriminierung wahrgenommen werden. Dabei ist es völlig unerheblich, ob nur ein Aspekt der Travestie als Diskriminierung wahrgenommen wird oder ob man diese Kunstform generell ablehnt.

Radikale »Netzaktivistinnen« haben den Spot gesehen und sofort ihre Chance erkannt: Man kann diese Werbung als diskriminierend denunzieren. Man kann damit Aufmerksamkeit erregen. Man kann den Spot für eine Machtprobe nutzen.

Der Trick ist einfach: Die »Netzaktivistinnen« sehen in dem Werbespot nicht die Kunst der Travestie und der Illusion. Sie versetzen diesen Werbespot in das reale Leben und schließen dann messerscharf: Hier wird eine Minderheit diskriminiert. In ihrer merkwürdigen Sprache liest sich das so: Es sei ein »trans*feindlicher, hetero­normativer Werbespot«.

Würde man dieses Urteil ernst nehmen, müsste man fast alle Werbespots sofort aus dem Kino, aus dem Fernsehen und aus dem Internet verbannen. Werbespots sind Kunstwerke. Nach unserer Herleitung gibt es keinen Spot mit menschlichen Darstellern, der nicht in irgendeiner Form als diskriminierend betrachtet werden kann.

Wer im Kino oder im Fernsehen auch nur einen einzigen Werbeblock anschaut, kann sich mit etwas Anstrengung in fünf Minuten ein Dutzend Mal diskriminiert fühlen. Zum Glück kennen die meisten Menschen den Unterschied zwischen der Werbung und der Realität: In der Werbung werden Illusionen erzeugt. Im richtigen Leben müssen wir mit diesen Illusionen zurechtkommen. Ohne Toleranz und gesunden Menschenverstand ist das unmöglich.

Wie man aus einem Kunstwerk von weniger als 30 Sekunden Länge den Tatbestand einer Diskriminierung ableitet, wie man eine Anklage fabriziert, wie man Recht spricht und wie man die Strafe verhängt, können Sie in diesem Artikel auf dem »Aktivist*Innen«-Blog Mädchenmannschaft lesen.

In der Diskussion zu einem Vorläufer dieses Artikels in meinem Blog weist der Kommentator Paul darauf hin, dass in dem Spot mit einem Bezug auf den Travestie-Künstler Georg Preuße gespielt worden sein könnte. Dann wäre die Kritik der Tugendwächterinnen noch absurder. Die Darstellungen Georg Preußes sind anerkannte Spitzenleistungen der Travestie. Dazu zählt immer auch die Selbstironie.

Der Anbieter Bionade zeigt bisher Haltung: Der Werbespot wurde nicht zurückgezogen. Man hat via Facebook eine Erwiderung veröffentlicht. Diese Erwiderung werden allerdings genau diejenigen nicht lesen, die sich unbedingt weiter erregen wollen: Selbsternannte Aktivisten, die jegliche Toleranz und jeglichen gesunden Menschenverstand über Bord werfen, wenn sie nur jemanden unter einem geeigneten Vorwand boykottieren und niederbrüllen können.

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob das Unterstellen einer Diskriminierung nicht schon zu einem Geschäftsmodell in der Aufmerksamkeitsökonomie geworden sein könnte.

stefanolix

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