Am Tag, an dem Joachim Gauck zum deutschen Bundespräsidenten
gewählt wurde, schrieb Zettel in diesem seinem Blog:
Wohl nie ist ein Bundespräsident mit so vielen Vorschußlorbeeren, mit so vielen positiven Erwartungen in sein Amt gestartet.
In der Tat: Nachdem ein ins Schloss Bellevue weggelobter
Merkel-Konkurrent nicht viel mehr übrig gelassen hatte als den ungeschickten Umgang mit einem Skandälchen und eine applaussichere Äußerung, in der – für
die Integrationsdebatte in diesem Land symptomatisch – einer Religion und nicht
deren Anhängern das Heimatrecht verliehen worden war, nach jenem Wulff’schen
Intermezzo schien der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen
genau der richtige Mann zu sein, um dem Amt des Bundespräsidenten wieder die
angemessene gravitas zu verleihen.
Viele Bürger mochten auch hoffen, dass der Querdenker trotz aller
Zugeständnisse an die ausgleichende Rolle, die er zu übernehmen im Begriffe
war, mit der Freiheit eines Christenmenschen bestimmte tabuisierte Themen
ansprechen und in den von Dauerempörung und maximaler Erregung völlig
entstellten öffentlichen Diskursen als Stimme der Vernunft auftreten würde.
Zieht man ein gutes Jahr nach Gaucks Amtsantritt eine erste Bilanz, so lässt sich eine gewisse Ernüchterung nicht verbergen. Zugegeben: Das Wort vom „Tugendfuror“, mit dem der Bundespräsident das mediale Halali in der Causa Brüderle kommentierte, ließ einen Abglanz des erhofften Formates aufblitzen. Wenn man Gauck nicht geflissentlich falsch verstehen wollte, konnte man dieser Bemerkung nämlich entnehmen, dass hier eine richtige Diskussion aus falschem Anlass geführt wurde. Denn die kolportierten Geschmacklosigkeiten an der Hotelbar waren Lichtjahre von den diskriminierenden und demütigenden Erfahrungen entfernt, denen Mitbürgerinnen auch heute noch am Arbeitsplatz und in der Freizeit ausgesetzt sind, ganz zu schweigen von den Gewalttätigkeiten bis hin zum Mord, unter denen Frauen hierzulande in signifikanter Zahl zu leiden haben.
Ansonsten blieb der begnadete Redner erstaunlich farblos. In
einem zum ersten Jahrestag der Präsidentschaft verfassten, äußerst lesenswerten Fazit konstatierte Ulrich Schmid in der NZZ:
Das Establishment nimmt Gauck ernst und mag ihn auch, weil er es in Ruhe lässt und nicht mit dem Anpacken wirklich heisser Themen verstört. […] Selbst die Sozialdemokraten und die Grünen haben aufgeatmet – so arg liberalkonservativ, wie manche von ihnen geargwöhnt hatten, ist der Mann, den sie als Kandidaten ins Gespräch gebracht hatten, dann doch nicht.
Es ist wohl zu viel verlangt, vom Bundespräsidenten zu
erwarten, dass er der Tagespolitik eine bestimmte, zumal heikle Agenda vorgibt.
Dies ist auch nicht seine vom Grundgesetz vorgesehene Rolle. Wenn sich der
Bundespräsident jedoch in den öffentlichen Diskurs einbringt, so sollte er, der
fern der Macht kein politisches Kleingeld wechseln muss, über den Dingen stehen
und als guter Moderator tätig werden.
Im Hauen und Stechen um Uli Hoeneß’ Selbstanzeige hat Gauck
jedoch einen anderen Weg eingeschlagen: Steuerhinterziehung, so der Bundespräsident, sei
verantwortungslos oder gar asozial.
Dass letztere Vokabel im Nationalsozialismus zu infamer Bedeutung gelangte, soll hier nicht Stein des Anstoßes sein. Freilich: Man mag –
wie Torsten Krauel in der Welt – von
einem deutschen Staatsoberhaupt größere sprachliche Sensibilität erwarten.
Aber schwerer wiegt zweifellos die inhaltliche Entgleisung: Denn erstens kann
man dem FC-Bayern-Präsidenten, der „viel hilft und stiftet“ – so Stefan Braun in der SZ –, das Brandzeichen einer
unsolidarischen Gesinnung nur schwerlich aufdrücken. Zweitens: Der
Umkehrschluss zu Gaucks Äußerung lautet, dass Steuerzahlen eine „soziale“
Verhaltensweise sei – was evident unrichtig ist, weil der Überweisung an
den Fiskus keine freigebige Gesinnung zugrunde liegt. Wollte der
Bundespräsident hier nur auf die jeder strafbaren Handlung inhärente
Gemeinschaftsschädlichkeit hinweisen, so stellt sich die Frage, warum er zu den
medial ebenfalls vielbeachteten Fällen, in denen junge Männer im öffentlichen Raum totgetreten worden sind, nichts dergleichen gesagt hat.
Vielleicht, weil Steuerhinterziehung – anders als ein
bestialischer Mord – in nicht vernachlässigenswerten Teilen der Bevölkerung als
Kavaliersdelikt gilt? Aber genau da hätte der Theologe einhaken müssen: Den
ersten Stein werfe, wer als Häuslebauer und Handwerker noch nie eine Leistung
ohne Rechnung (mithin ohne Umsatzsteuer) vereinbart hat oder sich als
Selbständiger oder Arbeitnehmer noch nie einen unrichtigen Beleg hat ausstellen
lassen, um den betreffenden Betrag als Betriebsausgabe bzw. Werbungskosten
absetzen zu können.
Dass Hoeneß weder die personifizierte Gier noch der hehre
Rebell gegen ein leistungsfeindliches Steuersystem ist – eine derart
differenzierende Betrachtungsweise hätte dem ersten Mann im Staat gut zu
Gesicht gestanden. Stattdessen hebt auch Gauck den Fußball-Manager auf den
Schild des „Sympathieträger[s]“ und des „Vorbild[es]“, um ihm so eine Fallhöhe
zuzumessen, über die zumindest noch vor wenigen Wochen alles andere als Konsens
bestand.
Geduldige Zeitgenossen mögen sich in Langmut üben: Gauck hat ja noch
vier Jahre als Präsident vor sich, und es ist somit nicht ganz ausgeschlossen,
dass er in seine eigene Interpretation des höchsten Staatsamtes noch
hineinwachsen wird. Die wahrscheinlichere Vermutung ist jedoch, dass einen gegen den Strich
gebürsteten Intellektuellen nichts so sehr glättet wie der Einzug ins Schloss Bellevue.
Demnach wäre Gauck der richtige Mann im falschen Amt.
Noricus
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