2. Januar 2010

Kurioses, kurz kritisiert: Kritik, wohin man blickt. Vorabmeldungen des "Spiegel", Etymologie und ein Blick auf Kant und Marx


  • Wohlfahrtsverbände kritisieren Armutsprogramm des Bundessozialministeriums

  • Birthler kritisiert Platzecks Versöhnungskurs

  • Unionspolitiker kritisieren Westerwelles Afghanistan- Kurs

  • BKA kritisiert Weitergabe von Bankdaten an die USA

  • Böhmer kritisiert Start der Berliner Koalition

  • FDP- Politiker kritisieren eigenen Kurs

  • Aus den Vorabmeldungen zum "Spiegel" der kommenden Woche.


    Kommentar: Das Verb "kritisieren" leitet sich vom französischen critiquer her, das seinerseits auf das lateinische criticus zurückgeht; dieses wiederum auf das griechische kritikos (κριτικός), welches das Adjektiv zu krino (κρίνω) ist - ich urteile, ich unterscheide, ich richte.

    Diese ursprüngliche Wortbedeutung ist noch erhalten, wenn wir jemanden zum Beispiel einen Literaturkritiker nennen. Damit meinen wir keineswegs, daß er gegen die Literatur eingestellt ist (à la "Globalisierungskritiker"), sondern daß er sich urteilend mit der Literatur befaßt. Das schließt selbstverständlich auch positive Kritiken ein. Der Kritiker ist kein Ankläger, sondern ein Richter; "Kunstrichter" nannte man zur Zeit Lessings die Kritiker.

    Davon ist in der Gegenwart bei dem Verb "kritisieren" außerhalb der Literatur und des Theaters kaum noch etwas zu bemerken. Wer kritisiert, der urteilt nicht, sondern er verurteilt.

    Dieses Verurteilen nun ist zu einer Lieblingstätigkeit unserer Politiker geworden. Ähnlich beliebt ist nur noch das "Warnen".

    Die Vorteile gegenüber dem Erarbeiten eines eigenen Vorschlags, einer unabhängigen Stellungnahme liegen auf der Hand:

    Wer kritisiert, der erhebt sich erstens über den oder die Kritisierten. Er geht in die Offensive. Der andere muß sich wehren.

    Zweitens ist Kritisieren billig, in einem sehr wörtlichen Sinn. Eigenes vorzutragen bedarf der Vorbereitung, der Recherche. Wer kritisiert, der findet hingegen das Kritisierte ja schon vor. Er braucht ihm nur noch seine Kritik anzuhängen. Er ist gewissermaßen ein geistiger Trittbrettfahrer.



    Der Bedeutungswandel des Begriffs der Kritik von "urteilen" zu "verurteilen", läßt sich an zwei Namen festmachen: Immanuel Kant und Karl Marx.

    Kants Philosophie wird oft "Kritische Philosophie" genannt; er hat bekanntlich als seine Hauptwerke drei "Kritiken" geschrieben. Damit meinte er die Beurteilung, nicht die Verurteilung. "Kritik der reinen Vernunft" zum Beispiel meint nicht, daß Kant die reine Vernunft negativ beurteilt; sondern daß er sie daraufhin untersucht, was sie leisten kann und was nicht.

    Marx hingegen war ein "kritischer Philosoph" in einem durchaus anderen Sinn. Von seinem Jugendwerk ("Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik"; 1845) bis zur "Kritik des Gothaer Programms", die er acht Jahre vor seinem Tod aufschrieb (sie wurde erst postum veröffentlicht), durchzieht das Denken von Marx die Kritik an Anderen; nicht im Sinn des Urteilens, sondern im Sinn des Verurteilens. Man hat den Eindruck, daß Marx kaum einen Gedanken fassen konnte, ohne ihn gegen irgendwen oder gegen irgendeine Meinung zu richten. Er konnte sich nur zum Denken erheben, indem er das Denken anderer niederdrückte.

    Das hat die Linke bis heute geprägt. Hören oder lesen Sie eine beliebige Äußerung von Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine - sie werden fast immer finden, daß sie Kritik im Sinn des Verurteilens beinhaltet, oft des Herabwürdigens.

    Die sechs zitierten Schlagzeilen freilich beziehen sich allesamt auf Äußerungen, die man gewiß nicht der Linken zurechnen kann.



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