26. Dezember 2008

Zettels Gabentisch: Realität in acht Päckchen (2): Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt

Ähnlich den déformations professionelles, den durch den Beruf bedingten Verformungen des Charakters, muß es wohl so etwas wie cauchemars professionelles geben, berufsbedingte Alpträume. Ich kenne zwei.

Im einen halte ich, schlecht vorbereitet, eine Vorlesung, und während ich spreche, beginnt sich der Hörsaal zu leeren - "Die Zuschauer wandern ab", würde ein Fußballreporter sagen -, bis ich schließlich vor leeren Bänken stehe. Manchmal fliehe ich auch, bevor es soweit gekommen ist.

Eine Variante des zweiten Alptraums ist mir kürzlich widerfahren. Folgendes war der Inhalt des Traums; der "manifeste Trauminhalt", wie Freud das nannte:

Es ist Sonntag früh, und mir wird plötzlich klar, daß ich noch am selben Vormittag einen Vortrag halten muß. Keinen beliebigen, sondern einen Festvortrag, und zwar im Rahmen einer Veranstaltung zu Ehren von Arno Schmidt.

Ich habe aber noch keinen Text, ja weiß noch nicht einmal, worüber ich reden werde. Man hat mir das Thema nämlich freigestellt.

Am Abend zuvor war ich noch in der Universitätsbibliothek gewesen in der Hoffnung, bei der Lektüre dort eine Anregung zu bekommen, aber vergeblich. Ich hatte mich damit getröstet, daß unter dem Termindruck am nächsten Morgen mir schon etwas einfallen werde. Notfalls genügt es ja schon, wenn ich ein paar Stichworte zu Papier bringe. Meine besten Vorträge habe ich schließlich immer frei gehalten.

Diesmal wird es aber allmählich eng. Ich finde ja noch nicht einmal ein Thema. Nun werde ich mir, Hoffnung schöpfend, unsicher, ob der Termin überhaupt heute ist. Ich suche und finde das Programm, und da stehe ich leider unter dem heutigen Datum eingetragen.

Da ich immer noch keine Idee habe, versuche ich es mit einem kleinen Spaziergang; das hilft oft. Diesmal aber nicht. Es sind jetzt noch zwei Stunden. Beim Heimkommen empfängt mich meine Frau mit einem privaten Problem, das sie dringend besprechen möchte.

Die Situation wird allmählich hoffnungslos. Es zeichnet sich ab, daß ich mich krank melden muß. Welch eine Peinlichkeit! Da kommt mir die rettende Idee: Dies könnte ja ein Traum sein. Erleichtert wache ich auf.

Oder vielmehr, ich gleite hinüber in jenen Zustand, den die Schlafforscher als den hypnopompen bezeichnen, den aus dem Schlaf herausführenden. Halb schon in der Wachrealität, halb noch in der des Traums, beschließe ich, daß mir eine solche Peinlichkeit niemals widerfahren soll.

Ich werde jetzt sofort einen Vortragstext verfassen, den ich künftig für solche Notfälle immer im Rechner haben werde, einen Vortrags- Notgroschen gewissermaßen. Ein Vortrag - das fällt mir jetzt sofort als Thema ein - über Schein und Realität. Stracks, es ist sieben Uhr früh, setze ich mich an den Rechner und beginne diesen Vortrag zu schreiben; nicht wissend, wann ich ihn einmal benötigen werde.

Als Vortrag habe ich ihn bisher nicht benötigt. Der Notgroschen brauchte nicht angetastet zu werden. Freilich brachte er auch keine Zinsen. Jetzt habe ich beschlossen, ihn aufzulösen und anderweitig zu verwenden. Für eine Serie in "Zettels Raum", in der Zeit "zwischen den Jahren" 2008 / 2009.



Was, lieber Leser, ist an dem Geschilderten Realität, was Fiktion?

Daß ich diese Serie in diesen Tagen publiziere, ist Realität. Sie können sich davon überzeugen, indem Sie sie lesen. Das, was in dem geschilderten Traum geschah, war nicht real; es geschah in der irrealen Welt des Träumens. Soviel ist sicher. Dann aber wird es schwierig.

War dieser geschilderte Traum selbst real? Real in dem Sinn, daß ich ihn so geträumt habe?

Das können Sie nicht wissen. Ich könnte ihn erfunden haben, als Einleitung zu dieser zweiten Folge der Serie. So, wie die Szene, in der ich mich an den Rechner setze und das Manuskript zu schreiben beginne. Es könnte aber auch sein, daß das alles wirklich so war. Daß ich getreulich beschrieben habe, was sich damals abspielte, vor einigen Jahren.

Aber selbst dann, wenn ich es getreulich beschrieben habe - habe ich damit auch die Realität beschrieben?

Ich wachte auf und erinnerte mich an einen Traum. Kann ich sicher sein, diesen Traum, schlafend - in einer REM-Phase meines Schlafs - tatsächlich erlebt zu haben? Gibt es überhaupt ein Traumbewußtsein?

Was, wenn vor dem Aufwachen nur Prozesse in meinem Gehirn stattfanden, wie sie von der neurologischen Traumforschung (noch immer mit wenig gesicherten Ergebnissen) untersucht werden? Prozesse in meinem Gehirn, die Spuren hinterließen - chemische, synaptische Veränderungen? Und als ich aufwachte, hat mein Bewußtsein diese Spuren als Erinnerungen an einen Traum interpretiert?

Bewußt ist uns das Erinnern. Ist es aber auch das Erinnern an Bewußtes? Sicher ist nur das Erinnern an im Traum Erlebtes; nicht sicher ist, daß dieses Erleben stattfand. Unsere Erinnerung könnte uns täuschen.

Was sich beim Träumen im Gehirn abspielt, das können wir heutzutage untersuchen, mehr oder weniger vollständig. Daß Träumen - in der Regel jedenfalls - mit schnellen Augenbewegungen, den bekannten REMs, einhergeht, weiß man seit einem halben Jahrhundert. Aber ob diese Prozesse mit Bewußtsein verbunden sind, weiß niemand.



Wie dem auch sei: Wenn wir uns an einen Traum erinnern, dann treffen sich auf eine interessante Weise Realität und Irrealität. Wir vermeinen uns zu erinnern, daß der Traum sich in der Realität unseres Bewußtseins tatsächlich abgespielt hat. Wir glauben uns aber auch zu erinnern, daß er für uns, während wir träumten, nicht diesen Charakter eines Traums gehabt hatte. Daß er uns als Realität vorkam, obwohl er doch nur ein Traum war.

Ob Träumen als ein Vorgang im Gehirn wirklich mit Erleben ("mentation") einhergeht, wissen wir, wie dargelegt, nicht mit Sicherheit. Und auch das andere ist so ganz sicher nicht - daß uns beim Träumen (wenn es denn als bewußter Vorgang existiert) das Geschehen als real erscheint.

Wir können nämlich beim Träumen sehr wohl die Realität dieses Geschehens in Frage stellen. Ich erlebe das häufig: Auf die im Traum auftauchende Frage "Schlaf' ich oder wach' ich?" hin finden dann nicht selten die üblichen Realitätsprüfungen statt; das bekannte Kneifen zum Beispiel.

In der Regel bestätigt mir im Traum der Kneiftest, daß ich wache. Ich kneife mich im Traum. Es tut weh, im Traum. Also weiß ich, daß ich gar nicht träume. Im Traum.

Auch kommt es vor, daß ich im Traum aus einem Traum erwacht bin, den ich nun, in der Traumrealität, im Nachhinein als Traum- Irrealität erkenne. Der Inhalt des Traums ist an dieser Stelle also: Das vorhin, das habe ich nur geträumt. Aber das jetzt, das ist Realität.

Gerade dadurch, daß man sich im Traum die Frage stellen kann, ob man nicht vielleicht nur träumt, erweist sich der Traum als erlebte Realität. Das Chimärenhaft- Unwirkliche gewinnt er erst im Rückblick, gewissermaßen betrachtet vom Podest des Wachbewußtseins aus.



Schriftsteller haben daraus oft Kapital geschlagen.

In Ambros Bierce' Erzählung "Die Brücke über den Eulenfluß" soll jemand am Pfeiler einer Brücke gehenkt werden, vermag aber im letzten Augenblick zu fliehen und erlebt allerlei Abenteuer.

In Ernst Augustins "Der amerikanische Traum" wird ein Junge in Deutschland in den letzten Kriegstagen von einem amerikanischen Tiefflieger beschossen und schwer verletzt, wandert dann später in die USA aus und gerät in wilde kriminelle und andere Verwicklungen.

Arno Schmidts "Gadir, oder erkenne dich selbst" spielt in der Antike. Der Held ist seit Jahrzehnten in der Festung Gadir, dem heutigen Cadiz, eingesperrt und darüber zum Greis geworden. In einer letzten Anstrengung versucht er zu fliehen. Die Flucht gelingt, und ihre Beschreibung macht den Hauptteil des Geschehens aus.

Die Erzählung endet mit einem Brief, in dem der Kommandeur der Festung seinen Vorgesetzten davon in Kenntnis setzt, daß der Gefangene tot in seiner Zelle aufgefunden wurde, Ausbruchswerkzeug in der Hand.

Auf dieselbe Pointe steuern die beiden anderen Erzählungen zu. An der Brücke über den Eulenfluß war die Exekution vollzogen worden. Der Beschuß durch den Tiefflieger war tödlich gewesen.

Für Schriftsteller ist dieses Spiel mit der Realität natürlich etwas Naheliegendes. Auch die Realität, in der Romane und Erzählungen angesiedelt sind, ist ja schließlich eine fiktive.

Philosophen andererseits haben im Traum mehr ein Ärgernis gesehen, eine Herausforderung. Wenn wir im Traum dasjenige für real halten, das es gar nicht ist - wie können wir sicher sein, daß uns das nicht auch im Wachzustand widerfährt?

Da kann einen schon eine Benommenheit erfassen, wie es René Descartes im Jahr 1641 beschrieben hat, in der ersten der Meditationen, dort im fünften Abschnitt:
Quasi scilicet non recorder a similibus etiam cogitationibus me aliàs in somnis fuisse delusum; quae dum cogito attentius, tam plane video nunquam certis indiciis vigiliam a somno posse distingui, ut obstupescam, & fere hic ipse stupor mihi opinionem somni confirmet.

Wenn ich es genau bedenke, dann erinnere ich mich, daß ich, wenn ich schlief, ähnlichen Täuschungen erlegen bin. Und wenn ich dies mit Aufmerksamkeit bedenke, dann sehe ich deutlich, daß es keinerlei sichere Merkmale gibt, die den Schlaf vom Wachen unterscheiden. Das macht mich benommen; und diese Benommenheit will mir fast den Eindruck bestätigen, daß ich jetzt schlafe.
Dieser stupor - man könnte fast sagen: dieser cartesianische Schauder, den der Gedanke hervorbringt, daß wir vielleicht gar nicht in einer realen Welt leben - ist seit diesem Jahr 1641 nicht mehr aus der Philosophie verschwunden.

Ich werde darauf im Lauf der Serie zurückkommen; in der nächsten Folge geht es aber erst einmal um Leichteres, im doppelten Wortsinn: Anknüpfend an Bierce, Schmidt, Augustin befasse ich mich mit Fiktion und Realität in der Kunst, der Kultur.



Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.