Mit "12 großen Fragen" befaßt sich eine Serie von Artikeln im aktuellen "Zeit Wissen". Die erste Folge hat Ulrich Schnabel geschrieben. Titel: "Was ist Realität?".
Eine große Frage, fürwahr. Eine arg große Frage. Eine der Fragen, die am Beginn der Philosophie standen. Eine Frage, passend in die vor uns liegende Zeit "zwischen den Jahren", in der das Jahr 2008 seine Realität für uns verliert und das Jahr 2009 darauf wartet, sie zu gewinnen.
Für die ersten Philosophen des Abendlands - die griechischen Philosophen vor Sokrates, mangels einer besseren Bezeichnung oft "die Vorsokratiker" genannt -, gliederte sich diese Grundfrage bereits in eine Reihe von Teilfragen:
Erstens: Woraus besteht eigentlich die Welt, welches ist ihr Urstoff? Wasser, meinte Thales von Milet. Nein, eine grenzen- und zeitlose Ursubstanz (das Apeiron), war die Antwort seines Schülers Anaximander. Aus dem Apeiron gehen alle Substanzen hervor; in das Apeiron kehrt alles zurück.
Oder ist das im eigentlichen Sinn Reale gar nicht eine Ursubstanz, sondern viel Abstrakteres? Zahlen, Harmonien? Ist die Welt ihrem Wesen nach Mathematik, abstrakte Ordnung? Form, nicht Materie? Das lehrte Pythagoras; das glaubten seine Jünger, die Pythagoräer.
Zweitens: Was ist das Reale - Beständigkeit oder Veränderung? Thales hatte nur gefragt, was die Realität letzten Endes ist. Anaximander machte sich Gedanken darüber, wie sie wird. Damit war bereits dieses zweite große Thema angeschlagen:
Ist die Welt ihrem Wesen nach unveränderlich und die Änderung nur ein Schein? So lehrte es Parmenides von Elea. So propagierte es mit schlagenden - mit erschlagenden - Beweisen sein Schüler Zeno, dem wir das Paradox von Achilles und der Schildkröte verdanken. Und die Behauptung, es könne gar keine Bewegung geben. Denn zu einem Zeitpunkt kann ein Gegenstand ja nur an einem Ort sein, also ruhend. Auch wenn es uns vorkommt, als würde ein Pfeil fliegen.
Oder ist im Gegenteil das Wesen der Wirklichkeit ihre ständige Änderung? Ist es gerade die Beständigkeit, die nur Schein ist? Das war die Meinung Heraklits: Alles ist in Veränderung; man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Der Gegensatz, der Widerstreit ist es, der diese Veränderung antreibt, in der die Gegensätze doch wieder zusammenfließen. Bis zu Hegel, bis zu Marx hat dieser Gedanke nachgewirkt.
So gegensätzlich Parmenides und Heraklit dachten - gemeinsam ging es beiden um die dritte Frage: Was ist Schein? Was hingegen ist das hinter dem Schein liegende, die eigentliche Realität?
Parmenides meinte, hinter der scheinbaren Veränderung liege unveränderliche Wirklichkeit. Heraklit sah die Beständigkeit als Schein und dahinter die ständige Veränderung. Beide unterschieden zwischen Schein und Wirklichkeit. Zwischen dem, was wir nur meinen und dem, was in Wahrheit ist.
Wie aber können wir von der Realität hinter dem Schein wissen? Durch Denken, meinte Platon, nicht durch den Augenschein. Plato dachte da wie Parmenides, den er verehrte. Der Augen"schein" ist eben dies, ein Schein. Unsere sinnliche Erfahrung ist dem Irrtum unterworfen. Erst im Denken, zumal in der Mathematik, stoßen wir zum Wesen der Dinge vor, zu den Ideen.
Es ging damit Platon nicht nur um das Wesen der Welt, sondern nun auch um das Wesen des Erkennens; um Erkenntnistheorie. Ein Unternehmen, das ein wenig dem Bemühen Münchhausens gleicht, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen: Der Versuch, unseren Erkenntnisapparat einzusetzen, um etwas über unseren Erkenntnisapparat zu erfahren.
René Descartes hat das - ich mache einen großen Sprung, wir sind jetzt im 17. Jahrhundert - im Prinzip so anzugehen versucht wie Plato: Nicht die Sinne, die nur Verworrenes liefern, führen uns zur Wirklichkeit, sondern allein das Denken. Wenn es denn Ideen faßt, und zwar clare et distincte, deutlich und abgehoben.
Aber kommen wir damit wirklich aus dem Sumpf der Unkenntnis heraus; der letztlichen Unkenntnis der eigentlichen Realität? Die radikalste Antwort hat Immanuel Kant gegeben: Wir können von dieser "eigentlichen" Realität, vom "Ding an sich" nichts wissen. Damit müssen wir uns bescheiden. Erfaßbar ist für uns nur die empirische Realität, die Welt der Erscheinungen. Sie freilich ist auf ihre Art auch "real" und es allemal wert, erforscht zu werden.
Das sind alles keine Fragen, keine Antworten aus der finsteren Zeit vor dem Aufblühen der Wissenschaft. Sie sind aktuell, wenn wir sie heute auch anders formulieren. Es sind freilich Fragen, die Wissenschaftler gern ausklammern; für die sie sich nicht zuständig erklären.
Und wenn sich ein Wissenschafts- Journalist wie Ulrich Schnabel in dem zitierten Artikel Gedanken machen, dann kommt manchmal nicht so sehr viel Überraschendes heraus. "Statt die Wirklichkeit objektiv wahrzunehmen, sind wir ständig dabei, sie zu interpretieren. Was wir naiverweise für real halten, hängt deshalb stark von unserer persönlichen Deutung ab", schreibt Schnabel.
Ja, das ist freilich so. Dem einen sin Uhl is dem andern sin Nachtigall. Aber ist Wissenschaft nicht dazu da, solch Subjektives zu eliminieren? Durch sorgsames Messen, durch Rechnen zu dem vorzustoßen, was eben nicht persönliche Deutung ist? Schnabel scheint da skeptisch zu sein:
Die Auffassung nämlich, daß Realität nicht das ist, was uns gerade einfällt; was dafür zu halten wir belieben. Das ist postmoderne Unverbindlichkeit, ist die Doktrin kultureller Relativität. Realität ist - so werde ich, nah bei Kant, argumentieren - etwas, das uns entgegentritt, das uns einlädt und auffordert, es zu erforschen. Freilich mit dem Instrumentarium, das allein uns zur Verfügung steht: unserem natürlich in der Evolution entstandenen Erkenntnisapparat. Trivialerweise.
Es wird keine philosophische Abhandlung werden, nur ein kleiner Essay. Hier die Gliederung, die am Ende jeder Folge stehen wird. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
Eine große Frage, fürwahr. Eine arg große Frage. Eine der Fragen, die am Beginn der Philosophie standen. Eine Frage, passend in die vor uns liegende Zeit "zwischen den Jahren", in der das Jahr 2008 seine Realität für uns verliert und das Jahr 2009 darauf wartet, sie zu gewinnen.
Für die ersten Philosophen des Abendlands - die griechischen Philosophen vor Sokrates, mangels einer besseren Bezeichnung oft "die Vorsokratiker" genannt -, gliederte sich diese Grundfrage bereits in eine Reihe von Teilfragen:
Erstens: Woraus besteht eigentlich die Welt, welches ist ihr Urstoff? Wasser, meinte Thales von Milet. Nein, eine grenzen- und zeitlose Ursubstanz (das Apeiron), war die Antwort seines Schülers Anaximander. Aus dem Apeiron gehen alle Substanzen hervor; in das Apeiron kehrt alles zurück.
Oder ist das im eigentlichen Sinn Reale gar nicht eine Ursubstanz, sondern viel Abstrakteres? Zahlen, Harmonien? Ist die Welt ihrem Wesen nach Mathematik, abstrakte Ordnung? Form, nicht Materie? Das lehrte Pythagoras; das glaubten seine Jünger, die Pythagoräer.
Zweitens: Was ist das Reale - Beständigkeit oder Veränderung? Thales hatte nur gefragt, was die Realität letzten Endes ist. Anaximander machte sich Gedanken darüber, wie sie wird. Damit war bereits dieses zweite große Thema angeschlagen:
Ist die Welt ihrem Wesen nach unveränderlich und die Änderung nur ein Schein? So lehrte es Parmenides von Elea. So propagierte es mit schlagenden - mit erschlagenden - Beweisen sein Schüler Zeno, dem wir das Paradox von Achilles und der Schildkröte verdanken. Und die Behauptung, es könne gar keine Bewegung geben. Denn zu einem Zeitpunkt kann ein Gegenstand ja nur an einem Ort sein, also ruhend. Auch wenn es uns vorkommt, als würde ein Pfeil fliegen.
Oder ist im Gegenteil das Wesen der Wirklichkeit ihre ständige Änderung? Ist es gerade die Beständigkeit, die nur Schein ist? Das war die Meinung Heraklits: Alles ist in Veränderung; man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Der Gegensatz, der Widerstreit ist es, der diese Veränderung antreibt, in der die Gegensätze doch wieder zusammenfließen. Bis zu Hegel, bis zu Marx hat dieser Gedanke nachgewirkt.
So gegensätzlich Parmenides und Heraklit dachten - gemeinsam ging es beiden um die dritte Frage: Was ist Schein? Was hingegen ist das hinter dem Schein liegende, die eigentliche Realität?
Parmenides meinte, hinter der scheinbaren Veränderung liege unveränderliche Wirklichkeit. Heraklit sah die Beständigkeit als Schein und dahinter die ständige Veränderung. Beide unterschieden zwischen Schein und Wirklichkeit. Zwischen dem, was wir nur meinen und dem, was in Wahrheit ist.
Wie aber können wir von der Realität hinter dem Schein wissen? Durch Denken, meinte Platon, nicht durch den Augenschein. Plato dachte da wie Parmenides, den er verehrte. Der Augen"schein" ist eben dies, ein Schein. Unsere sinnliche Erfahrung ist dem Irrtum unterworfen. Erst im Denken, zumal in der Mathematik, stoßen wir zum Wesen der Dinge vor, zu den Ideen.
Es ging damit Platon nicht nur um das Wesen der Welt, sondern nun auch um das Wesen des Erkennens; um Erkenntnistheorie. Ein Unternehmen, das ein wenig dem Bemühen Münchhausens gleicht, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen: Der Versuch, unseren Erkenntnisapparat einzusetzen, um etwas über unseren Erkenntnisapparat zu erfahren.
René Descartes hat das - ich mache einen großen Sprung, wir sind jetzt im 17. Jahrhundert - im Prinzip so anzugehen versucht wie Plato: Nicht die Sinne, die nur Verworrenes liefern, führen uns zur Wirklichkeit, sondern allein das Denken. Wenn es denn Ideen faßt, und zwar clare et distincte, deutlich und abgehoben.
Aber kommen wir damit wirklich aus dem Sumpf der Unkenntnis heraus; der letztlichen Unkenntnis der eigentlichen Realität? Die radikalste Antwort hat Immanuel Kant gegeben: Wir können von dieser "eigentlichen" Realität, vom "Ding an sich" nichts wissen. Damit müssen wir uns bescheiden. Erfaßbar ist für uns nur die empirische Realität, die Welt der Erscheinungen. Sie freilich ist auf ihre Art auch "real" und es allemal wert, erforscht zu werden.
Das sind alles keine Fragen, keine Antworten aus der finsteren Zeit vor dem Aufblühen der Wissenschaft. Sie sind aktuell, wenn wir sie heute auch anders formulieren. Es sind freilich Fragen, die Wissenschaftler gern ausklammern; für die sie sich nicht zuständig erklären.
Und wenn sich ein Wissenschafts- Journalist wie Ulrich Schnabel in dem zitierten Artikel Gedanken machen, dann kommt manchmal nicht so sehr viel Überraschendes heraus. "Statt die Wirklichkeit objektiv wahrzunehmen, sind wir ständig dabei, sie zu interpretieren. Was wir naiverweise für real halten, hängt deshalb stark von unserer persönlichen Deutung ab", schreibt Schnabel.
Ja, das ist freilich so. Dem einen sin Uhl is dem andern sin Nachtigall. Aber ist Wissenschaft nicht dazu da, solch Subjektives zu eliminieren? Durch sorgsames Messen, durch Rechnen zu dem vorzustoßen, was eben nicht persönliche Deutung ist? Schnabel scheint da skeptisch zu sein:
Wie man es auch dreht und wendet: Bei der Frage nach der Realität landen wir am Ende bei uns selbst, bei den Begrenzungen und kulturellen Prägungen der menschlichen Wahrnehmung. Vielleicht lautet die beste Antwort auf die Frage nach der Realität daher einfach so: Realität ist stets das, was wir dafür halten.Ich teile diese Meinung überhaupt nicht. Und möchte Sie, lieber Leser, in dieser kleinen Serie zwischen den Jahren gern von meiner anderen Auffassung überzeugen. Nein, sagen wir: Sie Ihnen nahezubringen versuchen.
Die Auffassung nämlich, daß Realität nicht das ist, was uns gerade einfällt; was dafür zu halten wir belieben. Das ist postmoderne Unverbindlichkeit, ist die Doktrin kultureller Relativität. Realität ist - so werde ich, nah bei Kant, argumentieren - etwas, das uns entgegentritt, das uns einlädt und auffordert, es zu erforschen. Freilich mit dem Instrumentarium, das allein uns zur Verfügung steht: unserem natürlich in der Evolution entstandenen Erkenntnisapparat. Trivialerweise.
Es wird keine philosophische Abhandlung werden, nur ein kleiner Essay. Hier die Gliederung, die am Ende jeder Folge stehen wird. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis
Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.