11. Dezember 2008

Harvard ist in finanziellen Schwierigkeiten. Einige weniger bekannte Fakten über amerikanische Eliteuniversitäten

Schätzen Sie bitte einmal, über welche Mittel aus Stiftungsgeldern die Universität Harvard verfügt. 3 Millionen Dollar? 30 Millionen? 300 Millionen? 3 Milliarden?

Alles die falsche Größenordnung. Es sind rund 30 Milliarden Dollar. Genauer gesagt: Vor vier Monaten waren es, so konnte man gestern in der International Herald Tribune lesen, 36,9 Milliarden Dollar. Seither allerdings ist eine Veränderung eingetreten; davon gleich mehr.

Das kann man in einem Artikel lesen, der gestern häufiger von den Lesern der IHT per Email verschickt wurde als irgendein anderer. Einem Artikel von Tracy Jan, den die IHT vom Boston Globe übernommen hatte. Überschrift: "Harvard unit halting faculty searches" - "Fakultät der Harvard- Universität stoppt Berufungsverfahren".

Nanu, was ist da los? Die Antwort führt zu allerlei weniger Bekanntem über die amerikanischen Elite- Universitäten.



Zu den hartnäckigen Vorurteilen über die USA gehört, daß die guten Universitäten aufgrund ihrer horrenden Studien­gebühren nur den Kindern der Reichen offen stünden, so daß sich auf diesem Weg die "herrschende Klasse selbst reproduziert". So sagen es die Marxisten gern, und die anderen sagen: Nur der kann an einer Spitzenuni studieren, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde.

Sehen wir uns die tatsächlichen Gegebenheiten an der Universität Harvard an und beschränken wir uns dabei auf das Harvard College, das zum akademischen Grad eines Bachelor führt. Die wichtigsten finanziellen Daten dazu findet man zum Beispiel in einem Artikel in der Harvard University Gazette aus dem Jahr 2004; die Größenordnungen haben sich seither nicht geändert.

Danach betrugen im Akademischen Jahr 2003/2004 die Studiengebühren 26.066 Dollar. Die Gesamtkosten pro Studienjahr - Studiengebühren, Unterkunft, Verpflegung und sonstige Kosten - lagen bei 37.928 Dollar.

Horrende Beträge, jedenfalls aus deutscher Sicht. Aus der Sicht eines Landes, in dem Studenten gegen eine Studiengebühr von gerade mal tausend Euro im Jahr "protestieren", weil diese die "Bildung töte" und ein "Geschwür" sei.

Eltern, die für das Studium jedes ihrer Kinder fast 40.000 Dollar im Jahr aufbringen können, gehören sicherlich nicht nur zu den Besserverdienern, sondern zu den Reichen. Können also nur Kinder der Reichen in Harvard studieren?

Keineswegs. Für das Akademische Jahr 2003/2004 gab es fast 21.000 Bewerber um einen der 1.650 Studienplätze am Harvard College. Nur rund jeder zwölfte Bewerber wurde also genommen. Waren das die finanzkräftigsten acht Prozent der Bewerber? In keiner Weise. Das Auswahlverfahren ist nämlich blind für die Einkommensverhältnisse. Sie werden schlicht nicht bei der Auswahl berücksichtigt; sie sind denjenigen, die über die Zulassung entscheiden, noch nicht einmal bekannt:
Harvard has long had a need- blind admissions policy that ensures the University is affordable for any student qualified to attend. Students are chosen on the basis of their outstanding academic, extracurricular, and personal qualities, and on their promise for achievement in college and in life. (...)

Harvard considers students for admission without regard to their ability to pay, and guarantees to meet the full need of every student who qualifies for aid.

Harvard hat seit langem eine für die Bedürftigkeit blinde Zulassungs- Politik, die sicherstellt, daß jeder Student, der für eine Zulassung qualifiziert ist, sich das Studium auch leisten kann. Die Studenten werden aufgrund ihrer herausragenden schulischen, außerschulischen und persönlichen Qualitäten und aufgrund der Erwartungen an das, was sie im College und im Leben leisten werden, ausgewählt. (...)

Harvard beurteilt ohne Rücksicht auf ihre Zahlungsfähigkeit, ob Studenten zugelassen werden, und garantiert die Erfüllung aller Bedürfnisse der Studenten, die einer Beihilfe bedürfen.
Nur eine Minderheit der Studenten zahlt in Harvard die volle Studiengebühr, bei den Undergraduates, die das Harvard College besuchen, ist es gerade mal ein Drittel. Die anderen erhalten Unterstützung in Form eines Stipendiums, von Studiendarlehen oder durch die Anstellung als Hilfskraft an der Universität.

Ein Stipendium bekam 2003/2004 knapp die Hälfte (48 Prozent) der Studenten. Im Durchschnitt erhielt jeder Student 26.700 Dollar. Er mußte also gut 11.000 Dollar im Jahr selbst aufbringen - nicht nur für das Studium, sondern auch für Unterkunft und Verpflegung.

Rund 650 Euro im Monat für Studium, Unterkunft und Verpflegung - nicht wahr, das klingt nicht, als könnten in Harvard nur die Reichsten der Reichen studieren?

Und das sind Durchschnittswerte. Verdienen die Eltern weniger als 40.000 Dollar, dann ist alles für den Studenten frei - Studium, Unterkunft, Verpflegung. Bei höheren Einkommen sind die Beiträge, die von den Eltern erwartet werden, gestaffelt. Seit dem laufenden Studienjahr erhalten selbst Studierende, deren Eltern bis zu 180.000 Dollar im Jahr verdienen, noch ein Stipendium. Es ist so bemessen, daß die Eltern maximal zehn Prozent ihres Netto- Einkommens aufbringen müssen.



Wie kann sich Harvard eine derartige Großzügigkeit leisten? Damit sind wir bei dem Thema, mit dem sich gestern die International Herald Tribune beschäftigt hat.

Es geht um einen Sachverhalt, dessen Bezeichnung sich kaum aus dem Englischen übersetzten läßt: Endowments. Ein Wort mit vielen Bedeutungen, die sich um seine Kernbedeutung "Ausstattung" ranken. In Bezug auf amerikanische Universitäten ist etwas gemeint, das man Schenkungen nennen könnte, Spenden, Stiftungen, Zuwendungen. Und vor allem das Stiftungsvermögen, das sich aus ihnen bildet.

In der angeblichen "Ellenbogengesellschaft" USA herrscht in vielerlei Hinsicht ein Altruismus, den man sich in unserer angeblich so sehr auf Solidarität gegründeten deutschen Gesellschaft kaum vorstellen kann.

Es ist weit verbreitet - es ist eine Frage des Anstands, auch der Ehre und des gesellschaftlichen Ansehens - , daß Reiche einen Teil ihres Reichtums anderen zugute kommen lassen. Unter anderem rechnen die Absolventen (die Alumini) einer Universität es sich zur Ehre an, von dem Geld, das sie dank ihres Studiums verdient haben, einen Teil ihrer alten Alma Mater zurückzugeben.

Eben in Form von Endowments. Es kann sich dabei um eine nicht zweckgebundene Spende handeln, oder etwa auch darum, einen bestimmten Lehrstuhl zu finanzieren, der dann oft den Namen des Spenders trägt. Auf einen solchen besonderen Lehrstuhl berufen zu werden, ist wiederum eine Ehre für die betreffenden Wissenschaftler. Oder der Spender verpflichtet sich, ein oder mehrere Stipendien zu finanzieren. Allein Harvard verfügt - so kann man es in der Wikipedia nachlesen - über 10.800 solche zweckgebundene Endowments.

Die nicht zweckgebundenen Endowments werden teils für laufende Kosten ausgegeben, zu einem erheblichen Teil aber auch angelegt. Und zwar sehr gewinnbringend; in Aktien beispielsweise, in Fonds. Bei Harvard sind daraus im Lauf der Jahre jene eingangs genannten unglaublichen 36,9 Milliarden Dollar Vermögen geworden.

Ein Vermögen, aus dessen Erträgen nicht nur die laufenden Kosten zu einem erheblichen Teil (bei Harvard zu rund einem Drittel) bezahlt werden können, sondern das eben auch für Stipendien eingesetzt wird. 110 Millionen Dollar gab Harvard im Akademischen Jahr 2003/2004 für die finanzielle Unterstützung seiner Studenten aus.



Natürlich sind die Endowments nicht die einzige Einkommensquelle der US- Universtäten. Die Studiengebühren kommen hinzu, hohe Einnahmen aus Drittmittel- Forschung, auch staatliche Zuschüsse.

Das alles wirkt zusammen, und es begünstigt sich gegenseitig. Für den Erfolg der Spitzen- Universitäten der Ivy League ausschlaggebend dürfte sein, daß ihre Finanzierung unmittelbar an ihre Leistung gekoppelt ist:

Nur weil Harvard und die anderen in dieser Liga spielenden Universitäten hervorrangende Studienbedingungen bieten, können sie hohe Studiengebühren verlangen.

Nur weil sie finanziell blendend ausgestattet sind, können sie die besten Forscher und akademischen Lehrer bezahlen. Diese wiederum werben hohe Drittmittel ein.

Weil eine Universität wie Harvard so gut ist, kann sie es sich leisten, nur die besten Studenten aufzunehmen. Die auch meist im Leben erfolgreich sein werden, also soviel verdienen, daß sie ihre alte Alma Mater mit hohen Endowments unterstützen. Die, gewinnbringend angelegt, wiederum die finanzielle Grundlage für den hohen Standard der Universität bilden.

Lauter postive Rückkopplungen. So, wie ein freier Markt eben funktioniert.



Freilich kann es auf einem freien Markt auch zu Turbulenzen kommen, wie wir sie im Augenblick erleben. Kein "Crash des Kapitalismus", da machen sich die Feinde der Freiheit falsche Hoffnungen. Aber schon eine tiefgreifende Krise.

Die nun auch die Endowments der Universtitäten trifft, sofern sie an der Börse angelegt sind. Nicht mehr die eingangs genannten 36,9 Milliarden Dollar ist das Vermögen von Harvard gegenwärtig wert, sondern 22 Prozent weniger.

Als gute Kaufleute fangen die Verantwortlichen das nicht dadurch auf, daß sie die finanzielle Substanz angreifen, sondern sie sparen. Die Faculty of Arts and Sciences (vergleichbar der alten deutschen Philosophischen Fakultät) hat die Gehälter der 720 Mitglieder ihres Lehrkörpers eingefroren. Von 50 laufenden Berufungsverfahren sollen 35 vorläufig auf Eis gelegt werden.

Und der Gestamtetat der Fakultät wird im laufenden Jahr um 105 bis 125 Millionen Dollar gekürzt werden. Ein Etat, der bisher mit 1,2 Milliarden Dollar angesetzt war.

Mehr als eine Milliarde Dollar, in einem einzigen Jahr, als Etat für eine einzige Fakultät. Auch wenn es im Augenblick diese Probleme gibt: Amerika, du hast es besser.



Für Kommentare bitte hier klicken.- Titelvignette: Hall of Graduate Studies in Yale, frei unter GNU Free Documentation License.