Nein, H.M. war kein Wissenschaftler. Und doch hat er in der Hirnforschung der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine herausragende Rolle gespielt.
H. M. - eigentlich Henry Gustav Molaison - war der wohl berühmteste neurologische Patient aller Zeiten. Zahllose Untersuchungen wurden an ihm vorgenommen, zahllose Experimente mit ihm durchgeführt. Heute vor einer Woche ist er im Alter von 82 Jahren gestorben.
In einer Zeit, in der das Instrumentarium der modernen Hirnforschung, vom Mehrkanal-EEG bis zur funktionellen Kernspin- Tomographie, noch nicht zur Verfügung stand, eröffnete die Analyse seines Falls ein erstes Verständnis für die Komplexität des menschlichen Gedächtnisses.
H.M., der als ein liebenswürdiger, intelligenter Mann geschildert wird, hat sich der Forschung über alle die Jahrzehnte immer wieder zur Verfügung gestellt. Freilich, ohne zu wissen, daß er das immer wieder tat. Denn H.M. litt an einer vollständigen anterograden Amnesie.
Er war - Benedict Carey hat es vergangene Woche in einem schönen Artikel in der New York Times nachgezeichnet - im Jahr 1953, als man vom Hirn noch weniger wußte als heute (auch heute ist es noch deprimierend wenig), wegen einer schweren Epilepsie operiert worden.
Diese ging wahrscheinlich auf einen Unfall zurück; er war im Alter von 9 Jahren von einem Fahrrad angefahren worden und unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen. Seither litt er unter epileptischen Anfällen, die immer schlimmer geworden waren; er verlor immer wieder das Bewußtsein und hatte schwere Krampfanfälle, so daß er schließlich seinen Beruf als Auto- Mechaniker nicht mehr ausüben konnte.
In diesem Zustand kam er 1953 in die Behandlung von William Beecher Scoville am Hartford Hospital in Connecticut. Dieser entschloß sich zur chirurgischen Entfernung von zwei ungefähr fingergroßen Stücken des linken und des rechten mittleren Schläfenlappens. Aus früheren Operationen wußte man, daß dies epileptische Anfälle abmildern konnte.
Solche (sogenannte "experimentelle") Operationen waren damals so etwas wie Verzweiflungstaten. Man wußte im Grunde nicht, was man tat, hoffte aber auf Besserung einer sonst nicht therapierbaren schweren Epilepsie.
Bei anderen derartigen Eingriffen durchtrennte man die Faserverbindung zwischen den beiden Hälften des Großhirns (das Corpus Callosum) in der Hoffnung, daß dadurch die Ausbreitung des Krampfs bei einem epileptischen Anfall eingedämmt werden würde. Das gelang auch; aber zugleich unterbrach man den Informationsfluß zwischen den beiden Hirnhälften mit dem Ergebnis, daß die linke Hand des Patienten buchstäblich nicht mehr wußte, was die rechte tat.
Ganz so radikal war die Operation nicht, die Scoville vornahm. Aber sie hatte eine mindestens ebenso massive Nebenwirkung: Der Patient verlor sein Gedächtnis.
Mneme ist das griechische Wort für Gedächtnis. Eine A-Mnesie ist ein Ausfall des Gedächtnisses. Anterograd nennt man die Amnesie dann, wenn sie durch ein Ereignis - hier den chirurgischen Eingriff - ausgelöst wird, das "nach vorn schreitet" (anterior = vorn, gradi = schreiten); das also in die Zukunft hineinwirkt.
Der Patient mit eine anterograden Amnesie besitzt noch sein Gedächtnis für das, was er sich vor dem Eingriff gemerkt hatte. H.M. kannte nach der Operation noch seinen Namen; er wußte, wo er aufgewachsen war und erinnerte sich an die Wirtschafts- Krise 1929. Aber alles, was nach der Operation geschah, war wie ausgelöscht aus seinem Gedächtnis.
Oder vielmehr: Er konnte es offenbar nicht mehr in dieses aufnehmen. Jeder Tag sei für ihn wie der erste, hat er einmal gesagt.
Augenscheinlich lebte er nur in der Gegenwart. Er setzte unverdrossen wieder und wieder dasselbe Puzzle zusammen, ohne es wiederzuerkennen. Er besaß ein Illustrierten- Heft, das er immer wieder mit frischem Interesse las. Sofort nach einer Mahlzeit wußte er nicht, was er gegessen hatte, ja ob er überhaupt gegessen hatte. Wenn Dr. Brenda Milner sein Zimmer betrat, begrüßte er sie, jahraus, jahrein, wie jemanden, den er zum ersten Mal sah.
Ja, jahraus, jahrein. Denn Brenda Milner gehört zu den Wissenschaftlern, die sich jahrzehntelang mit H.M. befaßt haben.
Als Dr. Scoville erkannte, welche erschreckende Nebenwirkung seine Operation gehabt hatte, zog er zwei Spezialisten für Gedächtnis- Störungen hinzu: Prof. Wilder Penfield, einen der damals bedeutendsten Hirnforscher, und Dr. Brenda Milner, die bei Penfield an der McGill- Universität in Montreal arbeitete. Brenda Milner untersuchte H.M. ausführlich und fand auch andere Patienten mit einem ähnlichen Syndrom. Im Jahr 1957 publizierte sie gemeinsam mit Scoville einen Artikel, der heute zu den Klassikern der Hirnforschung gehört; man kann ihn hier herunterladen.
Nach ausführlichen Tests an neun Patienten lautete die Schlußfolgerung, daß kritisch für das Auftreten der anterograden Amnesie die Entferung einer bestimmten Struktur im Schläfenlappen ist, des Hippocampus (wegen seiner einem Seepferdchen ähnelnden Form so genannt; die Vignette zeigt, wo er liegt). Je mehr vom Hippocampus bei einem Patienten entfernt worden war, umso massiver war die Amnesie. Andere Strukturen schienen für die Intaktheit des Gedächtnisses nicht von entscheidender Bedeutung zu sein.
Auf Seite 15 des Artikels erwähnen die Autoren eher beiläufig eine Beobachtung, die sich dann als theoretisch äußerst wichtig erweisen sollte: Ein paar Minuten lang konnten die amnestischen Patienten etwas behalten - etwa eine Ziffer -, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf richten konnten, es zu memorieren. Sobald sie aber abgelenkt wurden, war es vergessen.
Dies war der Beginn einer Reihe von Erkenntnissen, die das heutige Bild vom Gedächtnis bestimmen: Es gibt nicht das Gedächtnis, sondern mit "Gedächtnis" bezeichnen wir eine Reihe unterschiedlicher Funktionen mit ihren jeweils eigenen Grundlagen in Mechanismen des Gehirns.
Nicht nur blieben bei H.M., wie sich zeigte, die Erinnerungen an Ereignisse vor der Operation erhalten (weitgehend; diejenigen aus der Zeit unmittelbar davor waren eingeschränkt). Sondern er konnte auch motorische Fertigkeiten erlernen, und er lernte, sich in einer neuen Wohnung zu bewegen. Offenbar war nur eine bestimmte Art von Gedächtnis von der anterograden Amnesie betroffen.
Welche? Dasjenige Gedächtnis, das bewußt repräsentierte Inhalte umfaßt. Man kann diese darlegen ("declare"); darum heißt es "deklaratives Gedächtnis". Wenn es sich auf Erinnerungen an Erlebtes bezieht, nennt man es auch "episodisch".
Aber das ist nicht alles, was wir erlernen und speichern. Die meisten von uns können Fahrrad fahren. "Deklarieren", wie das eigentlich geht, kann kaum jemand. Wir haben nur eine Fertigkeit erworben, eine Prozedur gelernt. Man nennt dies deshalb das "prozedurale" Gedächtnis.
Und dieses prozedurale Gedächtnis war bei H.M. intakt geblieben; offenbar, weil es nicht auf den Hippocampus angewiesen ist. Wie auch das Kurzzeitgedächtnis nicht.
Wäre auch dieses zerstört gewesen, dann hätte H.M. noch nicht einmal einen Satz wie diesen verstehen können. Denn dazu muß ja der Anfang gespeichert werden, bis das Ende vom Gehirn verarbeitet ist.
H. M. - eigentlich Henry Gustav Molaison - war der wohl berühmteste neurologische Patient aller Zeiten. Zahllose Untersuchungen wurden an ihm vorgenommen, zahllose Experimente mit ihm durchgeführt. Heute vor einer Woche ist er im Alter von 82 Jahren gestorben.
In einer Zeit, in der das Instrumentarium der modernen Hirnforschung, vom Mehrkanal-EEG bis zur funktionellen Kernspin- Tomographie, noch nicht zur Verfügung stand, eröffnete die Analyse seines Falls ein erstes Verständnis für die Komplexität des menschlichen Gedächtnisses.
H.M., der als ein liebenswürdiger, intelligenter Mann geschildert wird, hat sich der Forschung über alle die Jahrzehnte immer wieder zur Verfügung gestellt. Freilich, ohne zu wissen, daß er das immer wieder tat. Denn H.M. litt an einer vollständigen anterograden Amnesie.
Er war - Benedict Carey hat es vergangene Woche in einem schönen Artikel in der New York Times nachgezeichnet - im Jahr 1953, als man vom Hirn noch weniger wußte als heute (auch heute ist es noch deprimierend wenig), wegen einer schweren Epilepsie operiert worden.
Diese ging wahrscheinlich auf einen Unfall zurück; er war im Alter von 9 Jahren von einem Fahrrad angefahren worden und unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen. Seither litt er unter epileptischen Anfällen, die immer schlimmer geworden waren; er verlor immer wieder das Bewußtsein und hatte schwere Krampfanfälle, so daß er schließlich seinen Beruf als Auto- Mechaniker nicht mehr ausüben konnte.
In diesem Zustand kam er 1953 in die Behandlung von William Beecher Scoville am Hartford Hospital in Connecticut. Dieser entschloß sich zur chirurgischen Entfernung von zwei ungefähr fingergroßen Stücken des linken und des rechten mittleren Schläfenlappens. Aus früheren Operationen wußte man, daß dies epileptische Anfälle abmildern konnte.
Solche (sogenannte "experimentelle") Operationen waren damals so etwas wie Verzweiflungstaten. Man wußte im Grunde nicht, was man tat, hoffte aber auf Besserung einer sonst nicht therapierbaren schweren Epilepsie.
Bei anderen derartigen Eingriffen durchtrennte man die Faserverbindung zwischen den beiden Hälften des Großhirns (das Corpus Callosum) in der Hoffnung, daß dadurch die Ausbreitung des Krampfs bei einem epileptischen Anfall eingedämmt werden würde. Das gelang auch; aber zugleich unterbrach man den Informationsfluß zwischen den beiden Hirnhälften mit dem Ergebnis, daß die linke Hand des Patienten buchstäblich nicht mehr wußte, was die rechte tat.
Ganz so radikal war die Operation nicht, die Scoville vornahm. Aber sie hatte eine mindestens ebenso massive Nebenwirkung: Der Patient verlor sein Gedächtnis.
Mneme ist das griechische Wort für Gedächtnis. Eine A-Mnesie ist ein Ausfall des Gedächtnisses. Anterograd nennt man die Amnesie dann, wenn sie durch ein Ereignis - hier den chirurgischen Eingriff - ausgelöst wird, das "nach vorn schreitet" (anterior = vorn, gradi = schreiten); das also in die Zukunft hineinwirkt.
Der Patient mit eine anterograden Amnesie besitzt noch sein Gedächtnis für das, was er sich vor dem Eingriff gemerkt hatte. H.M. kannte nach der Operation noch seinen Namen; er wußte, wo er aufgewachsen war und erinnerte sich an die Wirtschafts- Krise 1929. Aber alles, was nach der Operation geschah, war wie ausgelöscht aus seinem Gedächtnis.
Oder vielmehr: Er konnte es offenbar nicht mehr in dieses aufnehmen. Jeder Tag sei für ihn wie der erste, hat er einmal gesagt.
Augenscheinlich lebte er nur in der Gegenwart. Er setzte unverdrossen wieder und wieder dasselbe Puzzle zusammen, ohne es wiederzuerkennen. Er besaß ein Illustrierten- Heft, das er immer wieder mit frischem Interesse las. Sofort nach einer Mahlzeit wußte er nicht, was er gegessen hatte, ja ob er überhaupt gegessen hatte. Wenn Dr. Brenda Milner sein Zimmer betrat, begrüßte er sie, jahraus, jahrein, wie jemanden, den er zum ersten Mal sah.
Ja, jahraus, jahrein. Denn Brenda Milner gehört zu den Wissenschaftlern, die sich jahrzehntelang mit H.M. befaßt haben.
Als Dr. Scoville erkannte, welche erschreckende Nebenwirkung seine Operation gehabt hatte, zog er zwei Spezialisten für Gedächtnis- Störungen hinzu: Prof. Wilder Penfield, einen der damals bedeutendsten Hirnforscher, und Dr. Brenda Milner, die bei Penfield an der McGill- Universität in Montreal arbeitete. Brenda Milner untersuchte H.M. ausführlich und fand auch andere Patienten mit einem ähnlichen Syndrom. Im Jahr 1957 publizierte sie gemeinsam mit Scoville einen Artikel, der heute zu den Klassikern der Hirnforschung gehört; man kann ihn hier herunterladen.
Nach ausführlichen Tests an neun Patienten lautete die Schlußfolgerung, daß kritisch für das Auftreten der anterograden Amnesie die Entferung einer bestimmten Struktur im Schläfenlappen ist, des Hippocampus (wegen seiner einem Seepferdchen ähnelnden Form so genannt; die Vignette zeigt, wo er liegt). Je mehr vom Hippocampus bei einem Patienten entfernt worden war, umso massiver war die Amnesie. Andere Strukturen schienen für die Intaktheit des Gedächtnisses nicht von entscheidender Bedeutung zu sein.
Auf Seite 15 des Artikels erwähnen die Autoren eher beiläufig eine Beobachtung, die sich dann als theoretisch äußerst wichtig erweisen sollte: Ein paar Minuten lang konnten die amnestischen Patienten etwas behalten - etwa eine Ziffer -, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf richten konnten, es zu memorieren. Sobald sie aber abgelenkt wurden, war es vergessen.
Dies war der Beginn einer Reihe von Erkenntnissen, die das heutige Bild vom Gedächtnis bestimmen: Es gibt nicht das Gedächtnis, sondern mit "Gedächtnis" bezeichnen wir eine Reihe unterschiedlicher Funktionen mit ihren jeweils eigenen Grundlagen in Mechanismen des Gehirns.
Nicht nur blieben bei H.M., wie sich zeigte, die Erinnerungen an Ereignisse vor der Operation erhalten (weitgehend; diejenigen aus der Zeit unmittelbar davor waren eingeschränkt). Sondern er konnte auch motorische Fertigkeiten erlernen, und er lernte, sich in einer neuen Wohnung zu bewegen. Offenbar war nur eine bestimmte Art von Gedächtnis von der anterograden Amnesie betroffen.
Welche? Dasjenige Gedächtnis, das bewußt repräsentierte Inhalte umfaßt. Man kann diese darlegen ("declare"); darum heißt es "deklaratives Gedächtnis". Wenn es sich auf Erinnerungen an Erlebtes bezieht, nennt man es auch "episodisch".
Aber das ist nicht alles, was wir erlernen und speichern. Die meisten von uns können Fahrrad fahren. "Deklarieren", wie das eigentlich geht, kann kaum jemand. Wir haben nur eine Fertigkeit erworben, eine Prozedur gelernt. Man nennt dies deshalb das "prozedurale" Gedächtnis.
Und dieses prozedurale Gedächtnis war bei H.M. intakt geblieben; offenbar, weil es nicht auf den Hippocampus angewiesen ist. Wie auch das Kurzzeitgedächtnis nicht.
Wäre auch dieses zerstört gewesen, dann hätte H.M. noch nicht einmal einen Satz wie diesen verstehen können. Denn dazu muß ja der Anfang gespeichert werden, bis das Ende vom Gehirn verarbeitet ist.
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