19. Dezember 2008

Zitat des Tages: Ein Aphorismus, ein Film. Zweimal Antisemitismus

Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden "Geist" haben - und Geld. Die Antisemiten - ein Name der "Schlechtweggekommenen".

Auf diese zwei Sätze von Friedrich Nietzsche bin ich gestoßen, als ich in der vergangenen Nacht aus einem ganz anderen Grund im Dritten Band der von Karl Schlechta herausgegebenen Werke gelesen habe.

Die beiden Sätze stehen dort unter "Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre". In früheren Ausgaben gehörte diese Passage als Aphorismus 864 zu "Der Wille zur Macht. Umwertung aller Werte", dem "Hauptwerk" Nietzsches, das er allerdings nicht geschrieben hat, sondern das vom Nietzsche- Archiv, in einer fragwürdigen Kompilation, aus dem Nachlaß zusammengestellt wurde. Den Kontext des Zitats kann man zum Beispiel bei Zeno.org nachlesen.

Kommentar: Ich habe diese Passage gelesen, kurz nachdem ich am Abend den zweiten Teil von Egon Monks Fernsehfilm "Die Geschwister Oppermann" gesehen hatte. Den Roman, den Monk kongenial verfilmt hat, schrieb Lion Feuchtwanger schon Anfang der dreißiger Jahre; er war also ein wahrer "Zeitroman", der unmittelbar Gegenwärtiges schilderte: Das Schicksal einer jüdischen Familie in den Jahren der "Machtergreifung" der Nazis.

Am Anfang die Zuversicht, daß alles schon nicht so schlimm werden würde. Antisemitisches Getöse - nun ja. Hitler, nichts als eine Galionsfigur des Großkapitals. Und er würde doch nicht so dumm sein, den Juden wirklich zu schaden; damit würde er ja der deutschen Wirtschaft schaden, also seinen eigenen Interessen.

Dann, Episode für Episode, das Einbrechen der Barbarei in die einzelnen Lebensbereiche - die Geschäftswelt des Fabrikanten, die Klinik des Arztes, die literarische Welt des Schriftstellers, die Schule, in die der Sohn des Fabrikanten geht. Exil, Freitod, Verhaftung und Mißhandlung durch die SA; Verlust der bürgerlichen Existenz.

Ein Familienroman eignet sich für das Porträt einer Epoche; Fontane hat das exemplarisch in "Vor dem Sturm" gezeigt und dann noch einmal im "Stechlin", natürlich Thomas Mann in den "Buddenbrooks". Bei Feuchtwanger ist es keine Epoche, nur eine Wendezeit, die anhand des Schicksals einer Familie geschildert wird. Wenige Monate, in denen eine bürgerliche, gesittete Welt zerstört, in denen Demokratie und Rechtsstaat vernichtet werden.



Monk zeigt die SA-Leute als Proleten und Kleinbürger; er läßt sie berlinern. Dummdreiste Figuren, die sich nicht benehmen können, denen die Nazis Brutalität nicht erst beibringen mußten.

In einer Schlüsselszene dringt ein SA-Trupp in eine Klinik ein; er hat es auf jüdische Ärzte abgesehen und auf Patienten, die sich von ihnen behandeln ließen. Wie deren Anführer seine Unsicherheit gegenüber dem Herrn Professor, der ihm entgegentritt, durch naßforsche Unverschämtheit zu kaschieren sucht, das stellt Monk meisterhaft dar. So mag ein Jakobiner in der Französischen Revolution vor einem Adligen, einem Priester gestanden haben.

Die "Nationale Revolution" der Nazis war auch - nicht nur, natürlich - eine Aufruhr derer, die Nietzsche die "Schlechtweggekommenen" nennt. Getragen von Ressentiments gegen Bildung, Wissenschaft, Kunst. Nicht nur ihr Geld neideten diese Aufrührer den Juden, sondern vor allem, ganz wie Nietzsche schrieb, ihren Geist.

Neidet man jemandem sein Geld, dann kann man versuchen, es ihm wegzunehmen. Geistige, charakterliche Überlegenheit muß man ihm lassen. Das, so kann man vermuten, erzeugt diesen unbändigen Haß, der für den Antisemitismus charakteristisch ist. Es ist der Haß derer, die ihre eigene Minderwertigkeit sehr wohl ahnen und die wissen, daß sie daran nichts ändern können.

Zu welchem entsetzlichen Verbrechen dieser Haß bei den Nazis führen würde, konnte man 1933, 1934 noch nicht ahnen; niemand hätte es sich vermutlich vorstellen können. Aber wer Monks Film gesehen hat, der begreift, daß das, was man den "eliminatorischen Antisemitismus" nennt, in jeder Variante des Antisemitismus schon angelegt ist. Diese Art von tiefsitzendem, sozusagen existenziellem Haß auf die Überlegenen enthält den Keim dafür, bis zum äußersten Verbrechen zu gehen.



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