17. Februar 2008

Marginalie: Steuerhinterziehung, ein stellvertretender Chefredakteur, die Reichen und die Schizophrenie

"Von den insgesamt nicht so vielen Reichen in Deutschland haben erschreckend viele Teile ihrer Vermögen nach Liechtenstein geschafft". Das schreibt in der aktuellen Wochenausgabe der "Süddeutschen Zeitung" deren stellvertretender Chefredakteur Kurt Kister zu den Vorwürfen der Steuerhinterziehung, die gegenwärtig die Medien füllen.

Dies ist vermutlich das erste Mal, daß in der "Süddeutschen Zeitung" jemand schreibt, es gebe in Deutschland "nicht so viele" Reiche. Herrscht am Ende bei uns doch gar nicht die gesellschaftliche Ungleichheit, von der man so viel liest? Ich glaube mich zu erinnern, auch in der "Süddeutschen Zeitung".

"Grundsätzlich soll man nicht verallgemeinern", schreibt Kister weiter. Um dann sofort zu verallgemeinern: "Weil aber die Staatsanwälte nun hinter Hunderten ebenso cleveren wie kriminellen Bestverdienern her sind, muss man sogar verallgemeinern. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um das Verhalten einer relativ großen Gruppe innerhalb einer relativ kleinen Minderheit."



Das wirft einige Fragen auf.

Von wievielen "Reichen" in Deutschland geht Kister aus? Wie groß ist nach seiner Kenntnis die "Gruppe", die "Teile ihres Vermögens nach Liechtenstein geschafft" hat?

Was ja nicht strafbar ist. Also geht es darum nicht. Sondern die relevante Frage lautet: Gegen wieviele von denjenigen, die ihr Vermögen in Liechtenstein angelegt (nun gut, es dorthin "geschafft" haben, statt es auf ein Münchner Konto bei der Dresdner Bank zu "schaffen") wird jetzt ermittelt? Weiß denn Kister, wieviele davon schließlich verurteilt werden?

Wie groß wird der Prozentsatz "der Reichen" in Deutschland sein, die am Ende als Ergebnis dieser Affäre verurteilt werden? Wir wissen das naturgemäß nicht. Aber eine kleine Überschlags- Rechnung liefert doch Anhaltspunkte.

Wir müssen erstens schätzen, wieviele Reiche es denn in Deutschland gibt. Natürlich ist das Definitionssache. Definiert wird Reichtum - ähnlich wie Armut - entweder in Relation zum Durchschnitts- Einkommen oder durch das Einkommen bzw. (bei Reichtum eher üblich) Vermögen in absoluten Zahlen. Weiterhin muß unterschieden werden zwischen der Zahl der Personen, die das betreffende Vermögen haben, und der Zahl der Menschen in ihren Haushalten.

In der "Zeit" hat Klaus- Peter Schmid 2001 darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der nach der Standard- Definition (mehr als 200 Prozent des Durchschnitts- Einkommens) Reichen in Deutschland seit Jahrzehnten konstant bei etwas mehr als 4 Prozent der Bevölkerung liegt. Die Wikipedia gibt die Zahl der Menschen, die in Deutschland in reichen Haushalten leben, mit 1,9 Millionen an. Helmut Kuhn nennt in einer Monographie über den Reichtum in Deutschland 1,6 Millionen.

Geht man von der absoluten Höhe des Vermögens aus, dann wird meist eine Million Euro als Grenze gewählt. Das "Handelsblatt" nennt in einem Artikel über Reichtum 350.000 deutsche Vermögens- Millionäre für das Jahr 2006.

Laut "Spiegel Online" laufen bisher im Rahmen des "Skandals" rund 150 Ermittlungsverfahren.

Betroffen sind also - im Augenblick; in ungefähr demjenigen Augenblick, in dem Kurt Kister seinen Artikel geschrieben hat, aufgrund der Zahlen, die auch ihm nur vorliegen dürften, - je nach Definition von "Reichtum" ungefähr 0,008 Prozent bis 0,04 Prozent der Reichen.

"Erschreckend viele" von den "Reichen in Deutschland", wie man sieht. Eine "relativ große Gruppe" der Reichen, wie man erkennen kann.

Sollten es am Ende statt 150 Fälle die "tausend" werden, die durch die Medien geistern, und sollten die Betreffenden allesamt nicht nur verdächtig, sondern auch schuldig sein, dann mag man das Komma um eine Stelle verschieben.



Vielleicht weiß er ja aber mehr, als in den Zeitungen steht, der stellvertretende Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung". Vielleicht weiß er, daß nicht ein paar hundert oder vielleicht tausend Personen via Liechtenstein Steuern hinterzogen haben sollen, sondern so viele, daß man zu Recht von einer "relativ großen Gruppe" der Reichen in Deutschland sprechen könnte.

Ich weiß nicht, ob Kurt Kister über ein solches exklusives Wissen verfügt. Eines aber weiß ich: Er weiß nicht, was Schizophrenie ist.

"Wenn jemand zwei Persönlichkeiten in sich vereint, dann ist er, medizinisch gesehen, ein Schizophrener", schreibt er am Anfang seines Artikels.

Nein, lieber Kurt Kister, dann ist er kein Schizophrener, dann ist er eine multiple Persönlichkeit. Medizinisch gesehen. Was ein Schizophrener ist, medizinisch gesehen, das kann man im Pschyrembel nachlesen. Oder, wenn man den nicht hat, in der ICD 10, Position F20.



Kurt Kister erhielt übrigens den Henri- Nannen- Preis 2006. Für "Herausragende humorvolle Berichterstattung".

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