14. Februar 2020

Zehn Jahre Kulturkampf. Ein Vogelflug über bundesrepublikanische Dekaden. Eine Liebeserklärung an die alte CDU. Ein gerüttelt Maß an Merkel-Kritik. Eine Schelte des dichotomischen Zeitgeists

Von Spengler habe ich gelernt, dass große Geister – wenn ich mich erinnere, erwähnt der Autor des Untergangs des Abendlandes in diesem Zusammenhang Dante und den von ihm verehrten Goethe – Ereignisse und Zustände aus der Vogelperspektive betrachten, während der Normalsterbliche (und insbesondere natürlich der Zeitgenosse einer erstarrten Zivilisation) die Warte des Froschs zu verlassen nicht imstande ist. Bei aller Selbstüberschätzung würde sogar der Urheber der vorliegenden Zeilen eingestehen, dass er, auch wenn er sich noch so sehr streckte, den Schöpfer der Commedia und den Verfasser des Faust bei weitem nicht erreichte. Doch die Idee, die Dinge unter möglichster Ausschaltung der eigenen Alltagsbefangenheit zu befunden und zu begutachten, hat auch für den intellektuellen Fußsoldaten Noricus ihren Reiz.
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Spulen wir also das Band der Zeitläufte etwas zurück und halten wir bei einem Vorgang an, der Deutschland vor knapp zehn Jahren in Erregung versetzte und wie vielleicht kaum ein anderes Geschehnis die geistig-moralische Lage der Nation versinnbildlichte. Die Rede ist natürlich von Thilo Sarrazins Sachbuch-Bestseller Deutschland schafft sich ab beziehungsweise der Debatte oder eher: Nichtdebatte, die sich um das Opus des damaligen Bundesbankiers entspann.

Das Bemerkenswerte an der seinerzeitigen Aufregung war – getreu unserem Blick von oben (der hoffentlich nicht von oben herab ist) –, dass Linke nunmehr eine Attitüde einnahmen, die über die Jahrhunderte hinweg für eine der konservativsten Einrichtungen dieses Kontinents wesenhaft war. Denn letztlich etablierten all diejenigen Kommentatoren, die das Werk des früheren Berliner Finanzsenators verteufelten, einen neuen index librorum prohibitorum. Die inhaltliche Auseinandersetzung wurde mit dem Verweis auf die Häresie der Argumentation abgelehnt. Der Ketzer wurde – was man als humanitären Fortschritt würdigen muss – immerhin nicht verbrannt, sondern lediglich seiner öffentlichen Funktion enthoben.

In ihrem an DDR-Verhältnissen geschulten Neusprech verfügte die Bundeskanzlerin, dass Sarrazins von ihr nicht gelesener Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung „diffamierend“ und „nicht hilfreich“ sei. Zehn Jahre danach ist das verehrte Publikum wohl so abgestumpft, dass es an diesem Umstand keinen Anstoß mehr nimmt, aber seinerzeit dürfte der innocent bystander doch noch gedacht haben, dass sich die Regierungschefin recht eigentlich aus Feuilletondebatten herauszuhalten habe. (Vielleicht, das sei hier exkursweise angemerkt, begann die Liebesgeschichte zwischen dem Bobo-Milieu und Angela Merkel ja nicht erst mit der Atomvolte anno 2011, sondern schon ein halbes Jahr früher. Dass die Alternativlose nicht von Anfang an der Götze der progressiven Multiplikatoren-Elite war, belegt dieser imHerbst 2005 in der TAZ erschienene Artikel, der mit seinem grotesken Gemisch aus plumpen Stänkereien und hellsichtigen Prognosen so sehr befremdet wie er belustigt.)

Die Sarrazin-Kontroverse markierte auch den Beginn des Talkshow-Prinzips, die Mehrheit der geladenen Gäste mit dem Moderator als Sekundanten dem einen Abweichler gegenüberzustellen. Begonnen hat damit Reinhold Beckmann. Vulgarisiert wurde die Methode ab dem Herbst 2015, als Anne Wills Redaktion die Rolle des Bösewichts in sehr stereotyper Weise mit einem osteuropäischen Politiker oder Diplomaten besetzte und aufrechte Deutsche – vielleicht der Diversity wegen – von dem unvermeidlichen Jean Asselborn Schützenhilfe erhielten. Wer wollte, konnte in dieser Alle-gegen-einen-Konstellation die Wiedergeburt der griechischen Tragödie aus dem Geiste des Gegensatzes zwischen dem Kollektiv und dem Individuum erkennen, wobei ja auch tatsächlich die Rolle des Protagonisten ursprünglich in einem Aufbegehren gegen die vom Chor verkündete und verkörperte soziale Ordnung bestand.

Kehren wir in die Gegenwart zurück: Merkel ist in den verflossenen zehn Jahren zur Lichtgestalt der progressiven Schichten geworden. Ob ein Klaus Bittermann heute noch im vormals Kreuzberger, nun berlinmittigen Boulevardblättchen seine Unbotmäßigkeiten gegen die Kanzlerin veröffentlichen dürfte, erscheint fraglich. Die zunehmende Annäherung an die Multiplikatoren-Elite und die sukzessive Erwiderung dieser freundlichen Mimik stellen vielleicht den roten Faden dar, der sich durch die Herrschaft der Uckermärkerin zieht. Wobei diese es jedoch schaffte, ihren Linksschwenk nicht wie eine plumpe Anbiederung aussehen zu lassen. Vielmehr verkaufte die Langzeitregentin ihren Kurswechsel – was im Lande Luthers zumindest anfangs gut ankam – als alternativlos, so als habe ihr die Vernunft geboten, gegen ihre angeblich konservativen Überzeugungen aufzubegehren. Die praeceptores Germaniae lieben solcherlei preußisch-protestantische Pflichtethik, wenngleich diese bei Merkel – wie ich einfach mal zu behaupten wage – jedenfalls das berühmte Stück weit nur geschauspielert war und ist.

SPD-Kanzler wurden in der bundesrepublikanischen Geschichte auf den Schild gehoben, wenn dem Volk der Sinn nach disruptiven Veränderungen stand. Bei Brandt und Schröder war dies evident. Dass diese beiden Regierungschefs im Ergebnis mit eher liberalen als sozialistischen Reformen aufwarteten, mag man als Ausdruck des eigenartigen Humors der Historie betrachten. Beide genannten Genossen hatten beziehungsweise haben in ihrem Auftreten etwas Burschikoses, das bisweilen ans leicht Unseriöse grenzt(e) – so wie man es von Salonrevolutionären erwarten kann. Helmut Schmidt war in dieser Hinsicht zweifellos anders: Doch verlieh ihm seine hanseatisch-großbürgerliche Aura ebenfalls einen – wenn auch nobler daherkommenden – Hauch von Nonchalance.

CDU-Politiker hatten im game of thrones dagegen eine Chance, wenn dem Bürger nach Konsolidierung zumute war. Was nicht bedeutet, dass die Konservativen nicht auch mit Traditionen brachen. Im Gegenteil: Mit der Westbindung (also Pro-Amerikanismus) und der – wenn auch sozialen – Marktwirtschaft wurden unter Konrad Adenauer (auch ideologisch wirksame) Weichenstellungen getroffen, die in der deutschen Geisteswelt zuvor (und auch heute noch) kaum Zuspruch erhalten hatten. Der Alte aus Rhöndorf nahm für sich freilich in Anspruch, „keine Experimente“ zu wagen. Dabei probierte er etwas Unerhörtes aus, als er ein Volk, dessen Intelligenzija stets mit dem Okzident fremdelte und kommunistisch-etatistischen Utopien aufgeschlossen gegenüberstand, dorthin resozialisierte, wo es hingehört.

Kohl mit seinem Pfälzer Akzent, seiner dem damals schon aufkeimenden urbanen Körperfetischismus diametral entgegengesetzten Silhouette und seinen deftigen kulinarischen Vorlieben (Saumagen) personifizierte den Antagonismus Provinz contra großstädtische Schickeria, die sich auch dementsprechend über ihn lustig machte. Auch wenn die geistig-moralische Wende mehr Slogan als Programm war, trauten die Deutschen dem Oggersheimer eher zu, das Erbe der sozial-liberalen Reformen verträglich zu verwalten, als deren Urhebern, die im Verdacht standen, über das bereits erreichte und gebilligte Ziel hinausschießen zu wollen.

Merkel hat ihre Karriere mit einem durchaus unionskompatiblen Gestus begonnen und dadurch die Feindschaft der Bessermeinenden auf sich gezogen. Im Laufe ihrer Kanzlerschaft hat sie sich jedoch umorientiert und dabei das Grundversprechen Adenauers und Kohls aufgekündigt – was nach Ansicht des Verfassers ihre verheerendste Handlung war. Denn die CDU (und freilich auch die CSU, bei welcher der Fall aber noch etwas anders liegt) war in der alten Bundesrepublik so erfolgreich, weil sie deren Geist in perfekter Art und Weise widerspiegelte: Sie war keine nationalistische Partei und konnte deshalb mit wilhelminischer Großmannssucht nichts anfangen; sie war eine christliche oder, griffiger formuliert, ihrem Wesen nach katholische Partei und war dadurch gegen braune Tendenzen gefeit; sie war eine in einem ganz speziellen Sinn auch liberale Partei und dadurch Gegenspieler des sozialistischen Menschenparks. Um es provokanter auszudrücken: Die CDU war im letzten Jahrtausend ein solcher Segen für Deutschland, weil sie so undeutsch war. Noch einmal anders gewendet: Das eminente Verdienst der alten CDU war es, eine völlig unbelastete und – darf ich das so schreiben? – nicht toxische Variante des Konservatismus zu erfinden.

Dieses ehrwürdige Selbstverständnis auf dem Altar ihrer Machtgeilheit geopfert zu haben – das ist Merkels wirklich relevanter Makel. Die gebürtige Hamburgerin war eine Zeit lang vielleicht deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits die alte CDU – Menschen, die in den Alpen Urlaub machen, Konfektionshosenanzüge tragen und gern Kuchen backen – repräsentierte und zugleich andererseits auf das Bobo-Milieu mit ihrer (vermeintlich aus Pragmatismus erfolgenden) reihenweisen Übernahme linker Positionen einen unwiderstehlichen Appeal ausübte.

Die Abkehr vom gerade beschriebenen Markenkern der CDU ist, um die Großmeisterin des Machiavellismus zu zitieren, ein unverzeihlicher Vorgang, der rückgängig gemacht werden muss; außerdem ein Kultur-, Tabu- und Dammbruch. Deutschland ist heute wieder – Merkel sei Undank – ein besserwisserischer und belehrender Staat, in dem sozialistische Rezepte mit ihren potenzierten Zuckerkügelchen ihre fröhlichen Urständ feiern.

Doch ist es nicht angebracht, alle Hoffnung fahren zu lassen. Denn seit der Kölner Silvesternacht, so scheint es jedenfalls aus der Vogelperspektive, kann sich das System Merkel nur noch über Pyrrhussiege freuen, sonst würde es nicht so hysterisch auf jede wirkliche oder vermeintliche Beeinträchtigung seiner Vormachtstellung reagieren. Wobei Hysterie vielleicht der Essig ist, der momentan jeden Trunk aus dem Becher der diskursiven Auseinandersetzung vergällt. Es gibt nur noch Hell oder Dunkel, Schwarz oder Weiß, Himmel oder Hölle, Ja oder Nein. Wer zwischen den weltanschaulichen Lagern steht, zieht besser den Kopf ein. Haben wir wirklich Grau und Vielleicht verlernt? Es wäre schade darum.

Noricus

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