31. August 2010

Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero

Manchmal ist es gut, wenn man eine Sendung nicht live sieht, sondern sie aufzeichnet und sie dann beim Ansehen ein wenig mit Stoppuhr und Notizblock sezieren kann. Das habe ich heute Vormittag mit Beckmanns gestriger Sendung mit und über Thilo Sarrazin gemacht.

Hier die Einzelwertung:

Beckmann: War kein eigentlicher Moderator (moderare - ausgleichen, lenken), sondern hat von Anfang an klargemacht, dass er parteiisch ist und von Sarrazins Thesen nichts hält. Dementsprechend fiel er Herrn Sarrazin ständig ins Wort und übertönte ihn dabei deutlich. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, dass sein Hauptgast sehr langatmig formulierte, was einer Diskussion doch sehr abträglich ist. Man hätte mindestens einen weiteren Befürworter einladen müssen.

Zusammensetzung der Diskussionsrunde: "Acht gegen Thilo", wobei der "Moderator" leider mit eingerechnet werden muss. Bei einer ausgewogenen Runde hätte es zwei oder drei Parteien gegeben, deren Gespräch Beckmann hätte leiten müssen. Das war hier nicht der Fall.

Zeitkontingent der Gesprächsbeiträge: Sarrazin hatte 20 min Redezeit (handgestoppt) von den 90 min Sendezeit, wobei ihm allerdings ständig dazwischengeredet und er dadurch übertönt oder unterbrochen wurde.

Häufigkeit der Redebeiträge: Hier habe ich nur diejenigen gezählt, die klar erkennbar waren, also zugeteilte Redezeit sowie ungestörte Antworten, keine Zwischenrufe:
1. Sarrazin: 8
2. Yogeshwar: 6
3. Künast: 5
5. Özkan: 4
5. Scholz: 4
8. Graumann (MAZ): 1
8. Foroutan: (Zuschaltung): 1
8. Sonnenburg (Gast): 1
Das ergibt ein Netto-Verhältnis von 8:22 (1:2,75) gegen Sarrazin. Wenn man Beckmanns Redebeiträge noch dazu addieren wollte, käme man bei dessen rund 10 längeren Beiträgen auf ein Brutto-Verhältnis von ca 1:4. Das würde ich nicht als ausgewogen bezeichnen.

Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit: Hier bin ich natürlich meiner subjektiven Meinung unterworfen, habe mir aber ein paar Notizen gemacht, die diesen Eindruck konkretisieren:
Sarrazin: Temperamentsunterkühlt, sachlich, hält sich an den Zahlen aus seinem Buch fest. Manchmal zu faktenhuberisch.

Yogeshwar: Glänzt als Diskussionspartner, bringt seine Beiträge sympathisch rüber, ist aber sichtlich erfreut, seine Gegenthesen aus dem Schutz der Masse heraus vorbringen zu können. Seine Argumentation zieht er aus der Toolbox der veröffentlichten Meinung. Er bringt z.B. das Mantra vom verstärkten Fördern, welches alles gut werden ließe - obwohl Sarrazin plausibel dargelegt hatte, dass es nicht am Geld hapert, sondern bei den Eltern und ihrer Kultur.

Albern war das Experiment, von dem er berichtete: Er hatte gestandenen Akademikern irgendwelche Tests für die 9. Klasse vorgelegt, und diese schnitten dabei schlecht ab. Was sollte das beweisen? Dass Akademiker ohne Vorbereitung nicht unbedingt im Stoff der 9. Klasse stecken? Lächerlich.

Verwundert hat mich auch, dass er Sarrazin vorwarf, zunächst eine These aufzustellen und diese erst dann auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen. Wie würde er vorgehen, Ranga Yogeshwar? Erst einmal frei herumanalysieren, bis sich irgendwann eine These formt? Sarrazin ist exakt so vorgegangen, wie es Wissenschaftler in ihrer Ausbildung lernen: Man formuliert eine Hypothese und prüft sie im nächsten Schritt an den Fakten.

Graumann: Indiskutabler Verbandsfunktionär. Ein Berufsempörter mit lächerlicher Haartracht ... ich habe mir kein Wort von dem gemerkt, was er sagte.

Künast: Wie immer laut und quakig. Für ihre Verhältnisse aber oft zurückhaltend; mit dauerverkniffenem Gesichtsausdruck dasitzend. Ansonsten: Von der Grünen nichts Neues. Hauptaussage: Wie können sie nur!? Unangenehm, aber erwartbar: Alle Religionen haben ... und die Christen haben schließlich die Kreuzzüge...! Der Aufruf an Sarrazin, seine Bucherlöse doch zu spenden, war ja wohl völlig daneben. Talkshowgemüse.

Özkan: Gibt zu, das Buch nicht gelesen zu haben; kennt nur die Auszüge. Braucht keine Statistiken, denn sie kennt ja die Menschen. Bringt als Gegenbeispiel zu Sarrazins Zahlen sich selbst. "Meine Eltern sind vor 60 Jahren hier eingewandert, und ich hab Abitur!"

Lustig fand ich ihren Beitrag zum Thema Bewerbungen: Migranten werden bei Bewerbungen diskriminiert, weil die Arbeitgeber "zeugnishörig" sind und die interkulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit gering schätzen. Gerade vorher wurden die Ärmsten noch bedauert, weil sie weder deutsch noch türkisch können. Lacher.

Scholz: Zwiespältig. Man kenne die Zahlen; er braucht das Buch nicht. Vertrat wohl nicht seine Meinung, sondern die vorgefertigte Meinung des Medien- und Parteikartells. Bei der Frage nach dem Parteiausschluss war er ganz Parteisoldat. Seine halbherzigen Angriffe auf Sarrazin erschienen mir so, als folge er einer Doktrin.

Foroutan: Ganz schlimm. Bewegt sich beruflich in einem sozio-politischen Forschungskomplex, den es ohne die Moslem-Problematik gar nicht gäbe. Macht optisch was her und fühlt sich trotzdem als Halbperserin auf der Straße diskriminiert. Ich hätte ihr das spontan gar nicht angesehen.

Operiert mit merkwürdigen Zahlen. Laut Selbstauskunft sind 84% der hier lebenden Türken und Araber davon überzeugt, gute bis sehr gute Deutschkenntnisse zu besitzen. Ferner würden 18% der Türken in Deutschland die Schule mit Abitur abschließen, während in den 60er Jahren die Abiturquote der Migranten lediglich 3% betragen habe. Dies entspricht laut Frau Foroutan einer Steigerung um 900%!

Nebenbei sei erwähnt, dass ich in den letzten Tagen verschiedene Zahlen zur Abiturquote bei Türken in Deutschland gesehen habe. 18% kamen dort nicht vor; die Werte lagen stets bei 7-8%. In Sarrazins Buch habe ich auf Anhieb nichts zur Abiturquote gefunden, aber immerhin die Zahlen zu Hochschulabschlüssen von Türken in Deutschland. Bei Türken sind es gerade einmal 2% im Gegensatz zu 20% bei Deutschen.

Sonnenburg: Der Streetworker. Klang ganz vernünftig und arbeitet immerhin an der Basis. Ist aber ein Vertreter einer Zunft, die direkt davon abhängig ist, dass das Problem nicht verschwindet, sondern dass man ewig weiter an den Symptomen rumdoktern kann. Ansonsten eine ehrliche Haut; ein Mann, der sich engagiert. Es würde mich freuen, wenn er und Sarrazin wirklich einmal in seiner Einrichtung zusammentreffen würden, wie das in der Sendung angesprochen wurde.

Zwei Sachen fand ich ich bei seinem Auftritt ganz witzig:

Erstens die Antwort auf die Frage, was türkisch/arabische Jugendliche denn wohl empfinden würden, bei Sarrazins Buch. Antwort: Wut.
Kleine Anekdote dazu: Vor ein paar Tagen war ein brandenburger Radiosender in Neukölln oder Kreuzberg unterwegs, um die Stimmung unter den Jugendlichen einzufangen (Lächerlicherweise hat der Reporter sich vorher noch umgezogen, weil er zu seiner schwarzen Hose ein rotes Hemd und eine gelbe Umhängetasche getragen hatte. Er wollte ja nicht provozieren, ha ha). Die Antworten der Jugendlichen waren in dieser Art: "Wer?", "Thilo was?", "Nee, kenn isch nisch.", "Klingt italienisch irgendwie, aber weiß nisch" und so fort.

Da musste man dann schließlich auf irgendwelche Geschäftsleute zurückgreifen, die die gewünschte Empörung auch verbal artikulieren konnten.
Zweitens fiel mir bei Sonnenburg die Hervorhebung des interkulturellen Miteinanders unter deutschen und muslimischen Jugendlichen auf: "Klar, natürlich interessieren sich die Jungs für deutsche Mädchen!" Ähm, Kunststück, wenn hinter Fatima und Aishe eine Horde Brüda und Cousins mit schlagkräftigen Argumenten lauert. Da hat sich Sonnenburg als verblendeter Multi-Kulti-Naivling geoutet.
So, nun bin ich ja mal auf Plasberg am Mittwoch gespannt.



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