4. August 2010

Zitat des Tages: "Idiotien bei Steinzeitmenschen". Über heruntergekommene Varianten von Askese

Beim Frühstück berichtet mir meine Frau, ein Journalist der "Süddeutschen Zeitung" habe im Selbstversuch ein halbes Jahr auf eMail und Internet verzichtet und darüber ein Buch geschrieben.

Was ist das nur immer wieder für ein Quatsch, die Uhren zurückdrehen zu wollen: Leben ohne Fernseher, Leben ohne Strom, Leben ohne Auto usw. Ob es solche Idiotien auch bei Steinzeitmenschen gegeben hat: Leben ohne Speer? Leben ohne Feuer? Ultimativ wäre übrigens: Leben ohne Menschen.


Hubert Maessen am Sonntag in seinem Blog "Hubert Maessen Text/Copy©". Die intelligent-bissigen Aphorismen in diesem Blog möchte ich bei dieser Gelegenheit sehr empfehlen.


Kommentar: Nein, ich werde das Buch von Axel Rühe nicht lesen, auf das Hubert Maessen von seiner Frau aufmerksam gemacht worden war. Folglich will ich auch nicht über dieses Buch urteilen, das ja, wer weiß, "das Porträt einer Zeit" sein mag. So jedenfalls behauptet es die Verlagswerbung.

Aber etwas anmerken möchte ich gern über Askese.

So gut wie jede Kultur kennt Askese. Wenn man Sigmund Freud trauen möchte, dann ist Askese nachgerade der Kern von Kultur - nämlich Triebverzicht, der Sieg des Realitätsprinzips über das Lustprinzip.

Man muß sich beherrschen; das ist es, was Kultur verlangt. Mit dem Preis des, wieder mit Sigmund Freud gesagt, "Unbehagens in der Kultur". Selbstbeherrschung ist ja kein Vergnügen; sie ist per definitionem das Gegenteil davon.

Kultur allgemein, Religion insbesondere entstanden - so behauptet es, für mich überzeugend, Nicholas Wade - , weil nur solche Gruppen von Menschen unter den Bedingungen des Lebens als Jäger und Sammler überleben konnten, bei denen der Einzelne seine Lust dem Wohlergehen der Gruppe opferte, er also Triebverzicht übte; bis dahin, daß er sein Leben für die Gruppe gab, das ultimate sacrifice.

Das steckt, wie anders, in uns. Askese gehört zu unserem kulturellen, unserem biologischen Erbe.

Wir haben Respekt vor denjenigen, die sich zum Triebverzicht bereitfinden. Wir verachten - spiegelbildlich - diejenigen, die sich gehen lassen, die ihren Lüsten frönen; die Schlampen, die Playboys, die Tunichtguts.

Selbstbeherrschung muß sich nicht in der Form der Askese konkretisieren; aber das ist eine der Möglichkeiten. Der Asket heischt - und erhält - Respekt.



Allerdings der wirkliche Asket. Das war und ist derjenige, der fastet, der sich das Glück der Sexualität verbietet, manchmal auch überhaupt das Glück der Gemeinschaft mit anderen Menschen; der sich elementare sinnliche Genüsse versagt.

Man mag finden, daß er die Selbstbeherrschung zu weit treibt; man mag mutmaßen, daß er aus dieser Härte gegenüber sich selbst eine gewisse masochistische Lust zieht. Den Respekt wird man ihm in der Regel nicht versagen, dem Säulenheiligen; dem Eremiten wie Gregorius (Grégoire), dem Thomas Mann in "Der Erwählte" literarischen Ruhm hat zuteil werden lassen.

Aber es gibt nun einmal auch das, was die antiken Griechen als das Satyrspiel nach der Tragödie genossen: Das Ganze noch einmal, aber jetzt lustig, albern, ohne jeden Anspruch auf Respekt.

Das ist die Art, wie heutzutage überwiegend Askese verkauft wird.

Oh, was kasteien sie sich, alle diese Asketen. Sie ziehen übers Wochenende in ein Kloster. Sie tun sich als Männergruppe zusammen und ernähren sich im Wald von dessen Früchten und seinen Tieren. Sie "verzichten" auf Fleisch, auf Süßigkeiten, ja gar auf "Bücher, Kino, Flohmarkt, Zeitung".

Oder eben auf das Internet. So weit, daß man aus diesem "Verzicht" nicht wenigstens das Kapital schlägt, daraus ein Buch zu machen, geht die Askese dann freilich doch wieder nicht.

Vielleicht hat es ja, wenn wir Maessens satirischem Einfall folgen, in der Tat im Neolithikum Asketen gegeben, die auf den Speer und das Feuer verzichtet haben. Ihre Erfahrungen hätten sie allenfalls in Stein meißeln können; aber davon ist nichts überliefert.

Wahrscheinlich waren sie, diese Asketen, von all ihrer Askese schon alsbald so schwach, daß sie kaum noch den Faustkeil halten konnten. So bleibt von ihnen leider nichts.



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