4. August 2010

"Albtraum Arizona"? Über SB1070, illegale Einwanderung und das Konfliktpotential an der Südgrenze der USA

Als der US-Bundesstaat Arizona im vergangenen April ein Gesetz (SB1070) verabschiedete, mit dem die illegale Einwanderung aus Mexiko bekämpft werden sollte, hat man in den deutschen Medien vor allem über "Massenproteste" gegen dieses Gesetz erfahren.

Als das SB1070 - vollständiger Name Support Our Law Enforcement and Safe Neighborhoods Act (Gesetz zur Unterstützung unserer Strafverfolgung und für sicheres Wohnen) - jetzt in Kraft treten sollte und ein US-Bundesgericht dies in Teilen verhinderte, konnte man Berichte wie diesem von Peter Burghardt in der "Süddeutschen Zeitung" lesen. Überschrift: "Albtraum Arizona". Textprobe:
Arizona plant ein Gesetz gegen illegale Einwanderer - Kritiker sprechen von Nazi-Methoden. (...) Immigranten werden dann beim kleinsten Verdacht überprüft und abgeschoben, Betroffene rechnen mit dem Schlimmsten. "Das Arizona-Gesetz wird Gewalt und Hunger bringen", warnt die Zeitung El Universal, von beidem hat Mexiko bereits genug. Funktionäre und Menschenrechtler fürchten ein humanitäres Desaster.
Es wird also das übliche Bild entworfen: Uneinsichtige, wenn nicht gar rechtsextreme Amerikaner versuchen, ihre Vorurteile gegen Latinos in Gesetzesform zu gießen.

Über den genauen Inhalt des Gesetzes erfährt man selten etwas; noch weniger über seine Hintergründe.



Im Internetportal des Parlaments von Arizona finden Sie alle Informationen über SB1070. Den Wortlaut des Gesetzes, wie er nach Änderungen des ursprünglichen Entwurfs vom Senat des Staates Arizona verabschiedet wurde, können Sie hier als PDF-Datei herunterladen.

Es ist ein sehr umfangreiches, komplexes Gesetz. Seine meistdiskutierte Bestimmung erlaubt es der Polizei, Personen zur Klärung ihres Status auf die Wache mitzunehmen, wenn hinreichender Verdacht besteht, daß sie sich illegal in den USA aufhalten.

Dabei geht es aber nicht etwa um Razzien, sondern um einen "lawful contact" mit der betreffenden Person; also ein Einschreiten der Polizei, wenn jemand zum Beispiel im Verdacht steht, zu schnell gefahren zu sein. Dann schreibt das Gesetz vor:
A reasonable attempt shall be made, when practicable, to determine the immigration status of the person, except if the determination may hinder or obstruct an investigation.

Es soll ein angemessener Versuch unternommen werden, den Immigrations-Status dieser Person festzustellen, sobald das geschehen kann; es sei denn, daß diese Feststellung eine Ermittlung be- oder verhindern würde.
Wenn der Betreffende sich ausweisen kann (zum Beispiel durch seinen Führerschein oder die Bescheinigung über seine Einbürgerung), dann entfällt diese Überprüfung.

Das ist eine der zahlreichen Bestimmungen dieses Gesetzes, die es beispielsweise auch Arbeitgebern verbieten, Personen zu beschäftigen, von denen sie wissen, daß sie sich illegal in den USA aufhalten. Aber die Möglichkeit, bei Verdacht den Immigrations-Status zu überprüfen, hat die meisten Diskussionen ausgelöst.

Aus deutscher Sicht ist dieser Wirbel vielleicht schwer zu verstehen. Aber in den USA haben eben die Rechte des Einzelnen gegenüber der Polizei einen überragenden Stellenwert; siehe Muß man sagen, daß man schweigt?; ZR vom 3. 8. 2010.



Woher rührt nun die Aufregung um dieses Gesetz? Nützliche Hintergrund-Informationen liefert, wie so oft, der Informationsdienst Stratfor mit einem gestern erschienenen Artikel von George Friedman.

Friedman weist auf die Geschichte von Bundesstaaten wie Texas und Arizona hin, deren Gebiet ursprünglich von den Spaniern erobert worden war und die dann zu Mexiko gehörten.

Bis zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846 bis 1848) war es offen, wer die Vormacht in Nordamerika sein würde - die USA oder Mexiko. Man kann sich das heute, wo wir Mexiko als ein Touristenparadies wahrzunehmen geneigt sind, schwer vorstellen - aber bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war dieses Land eine Großmacht; den USA in mancherlei Hinsicht (vor allem militärisch) überlegen.

Eine Großmacht, zu deren Territorium Texas und Arizona gehörten. Um diese Gebiete zu entwickeln, ließ die mexikanische Regierung Yankees (Anglos) als Siedler ins Land; eine der ersten Gruppen wurde von dem Empresario Stephen F. Austin angeführt, dessen Porträt Sie als Titelvignette sehen und dem die Hauptstadt von Texas ihren Namen verdankt.

Durch diese Einwanderung wurden Texas, Arizona und die benachbarten Territorien immer US-amerikanischer und verloren ihren mexikanischen Charakter. Das führte zur "Texanischen Revolution" von 1835/36, die Texas die Unabhängigkeit brachte. Als Resultat eines demographischen Wandels also, wie in Europa jüngst im Kosovo. Später (1845) schloß sich Texas als 28. Staat den USA an. Ähnlich verlief die Geschichte Arizonas, das allerdings erst 1912 als 48. Staat den Vereinigten Staaten beitrat.

Wenn jetzt Mexikaner in großer Zahl in diese US-Bundesstaaten einwandern, dann kehren sie also eigentlich in ur-mexikanisches Gebiet zurück. Oder anders gesagt: Die demographische Entwicklung im 19. Jahrhundert - die Einwanderung in die USA aus Nord- und Mitteleuropa - hatte diesen Gebieten ihren hispanischen Charakter genommen und sie anglisiert. Jetzt kehrt sich diese Bewegung um.

Der Sieg der USA im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg hatte diese zur Vormacht des nordamerikanischen Kontinents gemacht. Jedoch hatten, schreibt Friedman, die USA in Gebieten wie Texas und Arizona dasselbe Problem wie zuvor Mexiko: Es war schwer, Siedler in diese unwirtlichen Gegenden zu bekommen:
The acquisition of relatively low-cost labor became one of the drivers of the region's economy, and the nearest available labor pool was Mexico. An accelerating population movement out of Mexico and into the territory the United States seized from Mexico paralleled the region’s accelerating economic growth.

Eine der Antriebskräfte für die Wirtschaft der Region wurde die Aufnahme relativ billiger Arbeitskräfte, und dafür war die nächstgelegene verfügbare Quelle Mexiko. Je schneller die Wirtschaft wuchs, umso mehr nahm auch die Bevölkerungsbewegung aus Mexiko in diejenigen Gebiete zu, welche die USA einst Mexiko abgenommen hatten.
Es geht also um etwas anderes als die sonstige Einwanderung in die USA.

Diese hat bisher immer zur Assimilation der Einwanderer geführt:
When the Irish or the Poles or the South Asians came to the United States, they were physically isolated from their homelands. The Irish might have wanted Roman Catholic schools, but in the end, they had no choice but to assimilate into the dominant culture. The retention of cultural hangovers did not retard basic cultural assimilation, given that they were far from home and surrounded by other, very different, groups. (...)

This is not the case, however, for Mexicans moving into the borderlands conquered by the United States just as it is not the case in other borderlands around the world. Immigrant populations in this region are not physically separated from their homeland, but rather can be seen as culturally extending their homeland northward — in this case not into alien territory, but into historically Mexican lands.

Als die Iren, die Polen oder die Südasiaten in die Vereinigten Staaten kamen, waren sie von ihren Heimatländern physisch isoliert. Die Iren mögen katholische Schulen verlangt haben, aber am Ende hatten sie keine andere Wahl, als sich an die dominierende Kultur zu assimilieren. Die Beibehaltung kultureller Überreste verzögerte nicht die grundlegende kulturelle Assimilierung, denn sie waren weit weg von der Heimat und umgeben von anderen, sehr verschiedenen Gruppen. (...)

Dies ist jedoch nicht der Fall bei Mexikanern, die in die von den USA eroberten Grenzgebiete einwandern, so wie es überall auf der Welt in Grenzgebieten nicht der Fall ist. In diesem Gebiet sind die Einwanderer von ihrer Heimat nicht physisch getrennt. Man kann es eher so sehen, daß sie ihr Heimatgebiet nach Norden ausdehnen - in diesem Fall nicht in fremdes Gebiet, sondern in historisches mexikanisches Territorium.
Hierin liegt die Brisanz der jetzigen Einwanderung von Mexiko in den Südwesten der USA. Daß viele der Einwanderer Illegale sind, kommt hinzu. Aber auch wer legal einwandert, tut das unter ganz anderen Bedingungen, als sie für die übrigen Einwanderer in die USA gegeben sind.

Hinzu kommen unterschiedliche Perspektiven und Interessen in den USA selbst:
  • Geschäftsleute, die von der illegalen Einwanderung profitieren, weil sie ihnen billige Arbeitskräfte beschert, haben eine andere Sicht als die übrige Bevölkerung von Arizona.

  • Die Regierung in Washington, die diese Einwanderung nichts kostet, hat eine andere Perspektive als die Behörden vor Ort.

  • Und drittens stehen auch diejenigen Amerikaner, die selbst oder deren Vorfahren legal aus Mexiko eingewandert sind, der jetzigen illegalen Einwanderung anders gegenüber als die übrigen Amerikaner.
  • Aus allem dem erklärt sich die Sorge vieler Einwohner Arizonas, die ihren Ausdruck in dem umstrittenen Gesetz gefunden hat. Keine stiernackigen, dumpfen Hillbillies; sondern Menschen, die zu Recht besorgt sind. Noch einmal Friedman:
    The problem is that Mexicans are not seen in the traditional context of immigration to the United States. As I have said, some see them as extending their homeland into the United States, rather than as leaving their homeland and coming to the United States.

    Moreover, by treating illegal immigration as an acceptable mode of immigration, a sense of helplessness is created, a feeling that the prior order of society was being profoundly and illegally changed. And finally, when those who express these concerns are demonized, they become radicalized.

    Das Problem ist, daß die Mexikaner nicht im traditionellen Zusammenhang der Einwanderung in die Vereinigten Staaten gesehen werden. Wie gesagt sehen manche es so, daß sie ihre Heimat in die Vereinigten Staaten hinein ausdehnen, statt daß sie ihre Heimat verlassen und in die Vereinigten Staaten kommen.

    Des weiteren entsteht dadurch, daß die illegale Einwanderung als eine akzeptable Form der Einwanderung behandelt wird, ein Gefühl der Hilflosigkeit; das Gefühl, daß die bisherige Ordnung der Gesellschaft auf eine grundlegende und gesetzeswidrige Weise verändert wird. Und schließlich: Wenn diejenigen, die ihre Sorgen ausdrücken, dämonisiert werden, dann radikalisiert man sie.
    Eine treffliche, eine leider nur allzusehr zutreffende Analyse. Eine Analyse, die man auch als Europäer zur Kenntnis nehmen sollte.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Stephen F. Austin (1793-1836), einer der ersten US-Amerikaner, die als Empresarios mit der Besiedlung des mexikanischen Texas begannen.